Im Roman „Altneuland“ entwirft Theodor Herzl den jüdischen Musterstaat

Weder Utopie noch Märchen

1923 bereist ein Wiener Jude Palästina und erlebt ein aufblühendes Land: Mit der 1902 veröffentlichten Utopie »Altneuland« nahm Theodor Herzl die Geschichte der Staatsgründung Israels vorweg.
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Als der impressionistische Maler und überzeugte Zionist Jakob Nussbaum im Herbst 1933 nach Palästina aufbrach, erhielt er zum Abschied ein Album. Über 60 Freundinnen und Freunde aus Frankfurt am Main verewigten darin ihre besten Wünsche fürs neue Leben der Familie Nussbaum im »gelobten Land«. Sein Künstlerkollege Heinrich Gottselig verabschiedete ihn mit den Worten: »Mit den Wünschen, dass Sie im Alt-Neuland die Heimat finden mögen.« Mit seinem letzten Gruß spielte Gottselig auf einen heutzutage weithin unbekannten Roman an, der den Titel »Altneuland« trägt. Dessen Autor ist niemand Geringeres als Theodor Herzl, Gründungsvater des Zionismus. Das Buch erschien sechs Jahre nach Herzls sachlich-programmatischer Schrift »Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage« von 1896. Dem Roman­titel fügte Herzl eine Art Motto bei, das seine Leserschaft direkt adressiert und ihr verspricht: »Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.«

Das beschriebene Jahr 1923 erlebte Herzl nicht mehr, er starb zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Romans.

Bei »Altneuland« handelt es sich um einen utopischen Roman, der 20 Jahre weiter in der Zukunft spielt. Die Hauptfigur, ein jüdischer Aussteiger namens Friedrich Löwenberg, plant 1923 nach 20jährigem Rückzug auf einer einsamen Insel die temporäre Rückkehr nach Europa und macht in Palästina Zwischenstation, ohne zu ahnen, was sich dort in der Zwischenzeit zugetragen hat. Denn die Region ist inzwischen zur jüdischen Heimstätte geworden. Völlig überrascht blickt er nun gemeinsam mit seinem nichtjüdischen Kompagnon auf ein aufgeblühtes Land: »Die Ankömmlinge staunten und starrten in das Gewühl. Es fand hier offenbar ein Verkehr aller Völker statt, denn man sah die buntesten Trachten des Morgenlandes zwischen den Gewändern des Okzidents. Chinesen, Perser, Araber wandelten durch die geschäftige Menge. Vorherrschend war freilich die Kleidung des Abendlandes, wie diese Stadt ja überhaupt einen durchaus europäischen Eindruck machte. Man hatte glauben können, daß man sich in einem großen Hafen Italiens befinde. Die Bläue des Himmels und des Meeres und das Leuchten der Farben gemahnten an die glückliche Riviera. Nur waren die Gebäude viel moderner und reinlicher, und der Straßenverkehr enthielt bei aller Lebhaftigkeit weniger Lärm.«

Das beschriebene Jahr 1923 erlebte Herzl nicht mehr, er starb zwei ­Jahre nach dem Erscheinen seines Romans.

Herzl, der Vater Israels

Im Frühjahr des Jahres 1895 beginnt Theodor Herzl in Paris mit der Arbeit an seinem Manuskript zur Idee einer jüdischen Heimstätte; im Sommer attestieren ihm seine Freunde in Wien einen Nervenzusammenbruch, als er ihnen seine Idee präsentiert; im Herbst macht er die Bekanntschaft mit jüdischen Aktivisten in ganz Europa; im Winter stellt er wie gewohnt einen Weihnachtsbaum in seinem Wiener Zuhause auf. Am Valentinstag 1896 erscheint Herzls programmatische Schrift »Der ­Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage«.

Wie kam es dazu? Herzl war als 18-Jähriger mit seiner Familie von ­Budapest nach Wien gezogen und träumte davon, Bühnenautor am Burgtheater zu werden. Seine Familie gehörte dem Bürgertum an und war so wenig mit der Religion verbunden, dass sie selbst die Bar Mizwa des jungen Theodor nicht zelebrierte. Herzl war demnach weder mit der jüdischen Zeremonialkultur noch der hebräischen Sprache vertraut. Seine Forderung nach einer jüdischen Heimstätte resultierte daher nicht aus einer Sehnsucht nach einem religiösen Zentrum, in dem sich alle ­religiösen Juden entfalten könnten, sondern aus der Geschichte der ­Judenfeindschaft. In seinem »Judenstaat« macht er dies wiederholt deutlich: »Die Judenfrage besteht überall, wo Juden in merklicher ­Anzahl leben. Wo sie nicht ist, da wird sie durch hinwandernde Juden ein­geschleppt. Wir ziehen natürlich dahin, wo man uns nicht verfolgt; durch unser Erscheinen entsteht dann die Verfolgung. Das ist wahr, muss wahr bleiben, überall, selbst in hochentwickelten Ländern – Beweis Frankreich – solange die Judenfrage nicht politisch gelöst ist.«

Herzl war spätestens seit der 1894 beginnenden antisemitischen Dreyfus-Affäre in Frankreich davon überzeugt, dass die jüdische Emanzipa­tion in Europa missglückt sei. Einen Ausweg aus der als Judenfrage bezeichneten Diskussion über jüdische Teilhabe in der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft sah er nur noch im jüdischen Aus- und Zusammenschluss. Juden sollten sich freimachen und eine Heimstätte aufbauen, die als »normales« nationales Gefüge neben anderen Nationalstaaten existieren solle und in der sie sich ohne Anfeindung oder Markierung des Andersseins entfalten könnten. Hierfür benötigten sie kaum mehr als »eines für unsere gerechten Volksbedürfnisse genügenden Stückes der Erdoberfläche, alles andere werden wir selbst besorgen«.

In Herzls Programm findet sich weder ein religiöser Zionsgedanke, noch greift es auf die damals weithin beliebte Rassenkunde zurück. Anders als in späteren zionistischen Schriften von Arthur Ruppin oder Max Besser werden Juden Herzl zufolge nicht durch eine gemeinsame »Rasse« zusammengehalten, sondern durch ihre Geschichte und ihr geteiltes Schicksal: »Wir sind ein Volk, ein Volk. Wir haben überall ehrlich versucht, in der uns umgebenden Volksgemeinschaft unterzugehen und nur den Glauben unserer Väter zu bewahren. Man lässt es nicht zu. Vergebens sind wir treue und an manchen Orten sogar überschwängliche Patrioten, vergebens bringen wir dieselben Opfer an Gut und Blut wie unsere Mitbürger.« Und weiter: »Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zu­sammen und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat zu bilden.«

Im Roman »Altneuland« illustriert Herzl, wie ein solcher Musterstaat aussehen könnte. Als westlicher Großstadtbürger stellte er sich sein Alt­neuland als hochentwickelte Region westeuropäischen Charakters vor: ein Land, durchzogen von Eisenbahn­linien, Bewässerungskanälen, energiegewinnenden Talsperren, modernen Schulen, Universitäten, Krankenhäusern, Theater- und Opernhäusern. In mancherlei Hinsicht ­erträumt er es sich sogar als fortschrittlicher und ­liberaler als die westeuropäische Realität. So hat sein Altneuland als erstes Land das Frauenwahlrecht und den Siebenstundentag eingeführt. Überhaupt ist die Wirtschaftsform recht einzigartig und bewegt sich zwischen Kapitalismus und Kollektivismus. Inspiriert vom Ökonomen Franz Oppenheimer wird die Landwirtschaft durch Produktionsgenossenschaften betrieben, wobei die Produktionsmittel allen Genossen gehören; die Wirtschaft wird kontrolliert und es herrscht Vollbeschäftigung bei gleichzeitiger Arbeitspflicht. Kurios erscheint das Verbot von Berufspolitikern. Auch nationalstaatliche Notwendigkeiten wie eine Armee existieren nicht, was auf Herzls ideellen Anspruch einer besseren Welt durch den Zionismus verweist: »Ein Kriegsheer gibt es in der neuen Gesellschaft nicht. Wir haben ja keinen Staat, wie die Europäer Ihrer Zeit. Wir sind eine Gesellschaft von bürgerlichen Leuten, die nur durch Arbeit und Bildung ­ihres Lebens froh werden wollen. Wir begnügen uns damit, unsere Jugend auch körperlich tüchtig zu machen. Wir bilden wie den Geist so den Leib unserer Jugend. Turn- und Schützenvereine genügen uns für diesen Zweck, wie sie in der Schweiz genügten.«

Als Herzl seinen »Judenstaat« verfasste, war er noch nicht auf »Erez Israel« festgelegt. 1895 schrieb er in sein Tagebuch, dass es nicht aufs geographische Gebiet ankomme, da das gelobte Land im jüdischen Herzen sei.

Im »Judenstaat« hingegen liegt Herzls Fokus auf der Struktur der ­Bewegung sowie der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Struktur, durch die eine Heimstätte Wirklichkeit werden kann. Die Programmschrift löste heftige Debatten im Europa um 1896 aus. Sie stieß auf Ablehnung von jüdisch-orthodoxer Seite, da diese Herzls Forderung als Verstoß gegen das göttliche Exil verstand. Ihr zufolge ­könne Israel nicht durch Menschenhand, sondern allein durch den Messias wiedererrichtet werden. Einige ­liberalere Rabbiner begrüßten Herzls Vorstoß dagegen, da sie darin eine Verbindung zu den messianischen Verheißungen zu erkennen meinten. Zahlreiche westeuropäische Juden lehnten Herzls Vorschlag vehement ab, da sie sich als Teil der Mehrheitsgesellschaft verstanden und sie beispielsweise als patriotische Deutsche keinerlei Interesse an einer Auswanderung in die Wüste hatten. Eine zionistische Bewegung hielten sie für überflüssig bis hin zu kontraproduktiv, insbesondere wegen der Behauptung, Juden seien ein Volk und nicht nur eine Religionsgemeinschaft. Lediglich für die von Pogromen gezeichneten Juden aus Ost­europa konnten einige einen Reiz erkennen. Selbst von nichtjüdischer Seite waren beachtliche Reaktionen zu beobachten, die von Zustimmung – sowohl seitens antisemitischer als auch antiantisemitischer Seite – bis zu heftiger Ablehnung reichten.

Zionistische Vorstellungen vor Herzl

Zwar löste »Der Judenstaat«die ersten großen Debatten zum Thema Zio­nismus aus, Herzls Initiative bildete aber nicht den Startpunkt des Zionismus und er war noch nicht einmal der Erfinder des Begriffs. 1890 sprach der in Herzls Nachbarschaft lebende Schriftsteller Nathan Birnbaum erstmals von der Idee des »Zionismus«, und zwar in seiner Zeitschrift Selbst-Emancipation. Er hatte sich bereits als Gymnasiast mit der Auswanderung nach Palästina beschäftigt und diese in seiner Schülerzeitung propagiert, setzte sie jedoch nie in die Tat um. Seine Überzeugung, Juden seien eine eigene Nation, brachte er in nationalen Gruppengründungen zum Ausdruck. 1884 ­formulierte er seine Forderungen in einer ermahnenden Schrift »Die ­Assimilationssucht«. In psychologisierender Weise kritisiert er darin die Anpassung ans nichtjüdische Umfeld und fordert seine Glaubensgenossen auf, sich wieder als Nation zu verstehen, die für ein eigenes Vaterland mit dem Hebräischen als Nationalsprache kämpfen sollte. »Mit dem Wiedergewinnen einer Heimat ­würde der jetzige Judenhaß in seiner spezifischen Gestalt vom Erdboden verschwinden.«

Noch früher forderte der Rabbiner Judah Alkalai zur Rückkehr nach ­Palästina auf. Er, der in Jerusalem aufgewachsen war und später im serbischen Semlin wirkte, engagierte sich seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts publizistisch und (vereins)politisch im Sinne des ­Zionismus. Anders als Herzl verband er damit neben dem Landerwerb ­sowohl die Forderung nach einer Wiederbelebung der hebräischen Sprache als auch die Gründung einer Armee. Mit großer Leidenschaft versuchte Alkalai in Semlin, Paris und Jerusalem, den Grundstein für die Wiedergeburt Israels zu legen. Kurz vor seinem Lebensende 1878 über­siedelte er mit seiner Frau nach Palästina und wurde nach seinem Tod auf dem Ölberg beigesetzt.

Ein Gesinnungsgenosse Alkalais war der im ostpreußischen Thorn wirkende Rabbiner Zwi Hirsch Kalischer. Dieser rief 1862 in seiner Pu­­blikation »Drischat Zion« (Suche nach Zion) zur Kolonisierung Palästinas auf. Wie Alkalai sah er das Ziel mit dem jüdischen Messiasglauben vereinbar und wie Alkalai stellte er sich vor, das Land durch Landkauf, Landwirtschaft und militärische Vertei­digung gewinnen zu können. Anders als Alkalai, der die Kolonisierung durch die Einführung einer Steuer (Zehnt) finanzieren wollte, setzte ­Kalischer dabei auf Spendengelder.

Den Ideen Herzls näher standen zwei weitere Vorreiter des Zionismus: Moses Hess und Leon Pinsker. Hess, der in einer orthodoxen Familie aufwuchs, war ein früher Weggefährte von Karl Marx und richtete sich zunächst mit frühsozialistischen Schriften an die Öffentlichkeit. 1862 überraschte er seine Gesinnungsgenossen mit der zionistischen Schrift »Rom und Jerusalem«. Ebenso wie den So­zialismus sah er den Zionismus als Ausweg aus einer unterdrückenden, antisemitischen Gesellschaft. Von dieser in der Öffentlichkeit kaum ­beachteten Schrift abgesehen war Hess aber kaum im Sinne der Besiedlung Palästinas aktiv. Pinsker, ein Arzt aus Odessa, reagierte 1882 mit seiner Schrift »Autoemancipation!« auf die Pogrome, die 1881 im Zarenreich wüteten. Er erklärte darin die Emanzipation für gescheitert und forderte die Anerkennung der Juden als Nation und ihre Besiedlung außerhalb Europas, war aber zunächst nicht auf Palästina festgelegt.

Während sich Birnbaum von Pinskers »Autoemancipation« inspirieren ließ, waren Herzl die Schriften seiner Vorgänger unbekannt.

Aufschwung der zionistischen Bewegung

In weniger als 20 Monaten nach dem Erscheinen von »Der Judenstaat« schaffte es Herzl, einen über die Staatsgrenzen hinaus beachteten Kongress in Basel einzuberufen, an dem rund 200 Delegierte aus zahlreichen Ländern teilnahmen. Viele von ­ihnen kamen aus Russland, die meisten waren Männer aus dem Bürgertum, weder die Ärmsten noch die Reichsten waren vertreten. Die lediglich 20 teilnehmenden Frauen waren nicht stimmberechtigt, einige von ihnen widersetzten sich jedoch Herzls Vorgabe und beteiligten sich trotzdem an den Abstimmungen. Auch Berichterstatter und Zuschauer konnten dem Kongress beiwohnen, ein Angebot, das nicht nur Juden nutzten.

Das Hauptmerkmal des Kolonialismus, nämlich das Ziel der Ausbeutung an Ort und Stelle, fehlt beim Zionismus.

Rückblickend wird Herzls Verdienst am Aufschwung des Zionismus insbesondere darin gesehen, dass er es schaffte, die verschiedenen Strömungen in einem ersten Kongress zusammenzubringen und sich auf einige Grundsätze zu einigen. So gründeten die Delegierten die World Zionist Organisation (WZO) und wählten den Initiator und Tagungsleiter Herzl zum ersten Präsidenten. Darüber hinaus beschlossen sie ein Programm, das »für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« als Ziel festhielt. Herzl gelang es dabei, eine feierliche Atmosphäre herzustellen, durch die das zunächst als abwegig erscheinende Projekt in einem besseren Licht stand. So inszenierte er den Basler Kongress als erste Nationalversammlung des jüdischen Volkes, bei dem nicht nur der Tagungsraum, das Basler Stadtcasino, festlich hergerichtet war, sondern auch eine entsprechende Kleiderordnung vorgegeben war.

Mit dem Zionistenkongress als Startpunkt und Herzls regem Engagement darüber hinaus entwickelte sich der Zionismus zur politischen Bewegung in ganz Europa, die im Verhältnis zu ihrer Anhängerschaft überraschend vielbeachtet war. Der Zionismus war dabei nur eine politische Bewegung neben anderen jüdischen Vereinigungen, die etwa gleichzeitig ins Leben gerufen wurden, und der sich letztlich nur eine Minderheit zugehörig fühlte. Nur vier Jahre zuvor war der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gegründet worden, der die nichtzionistische Mehrheit als größte jüdische Vereinigung im Deutschen Reich vertrat. In Wilna wurde 1897 der Allgemeine jüdische Arbeiterbund für Polen und Russland (kurz: Bund) gegründet, der die jüdischen Sozialisten vereinigte und dafür eintrat, Juden in Russland als eigene Nation mit Minderheitenstatus sowie Jiddisch als Nationalsprache anzuerkennen.

Der Zionismus entstand also im Rahmen einer allgemeinen Politi­sierung der jüdischen Bevölkerung. Trotz der Differenzen war allen gemein, dass es letztlich der politische Antisemitismus war, auf den sie mit ihrem Zusammenschluss reagierten. Setzte sich der Centralverein ganz explizit den sogenannten Abwehrkampf gegen den Antisemitismus zum Ziel und erhoffte sich der Bund in der Anerkennung als Na­tion im Sozialismus einen gleichberechtigten Platz, so war es der Anti­semitismus, der Herzl dazu brachte, für eine jüdische Heimstätte zu kämpfen.

Bereits auf dem ersten Zionistenkongress vertraten die Delegierten unterschiedliche Auffassungen vom Zionismus. Es dauerte jedoch einige Zeit, bis sich verschiedene Fraktionen herausbildeten. Der Kulturzionismus war die erste Richtung, die sich zusammenschloss. Als Demokratische Fraktion nahmen deren Anhänger seit 1901 an den Zionistenkongressen teil. Ideologisches Vorbild war Achad Ha’am aus Odessa, ein früher Kritiker und Wegbegleiter Herzls seit 1897. Im Gegensatz zu Herzl legte er den Schwerpunkt auf die Wiederbelebung einer jüdischen Kultur, die er als Voraussetzung für die Besiedlung Palästinas erachtete. Herzl, dem es mehr um die Rettung der Juden als um die Rettung des Judentums ging, warf er eine Vernachlässigung jüdischer Werte vor.

Herzls »Altneuland« mangelte es Achad Ha’am zufolge an der Vision einer jüdischen Kultur, unter anderem weil darin das Hebräische nicht wiederbelebt wurde, dabei sei die hebräische Sprache mit ihrer Tradition und Literatur ein zentrales kulturelles Gut. Herzl empfand die Vorstellung der Wiederbelebung des Hebräischen als realitätsfern und träumte stattdessen von einer Vielsprachigkeit nach dem Schweizer Modell.

Im Kontrast zum Kulturzionismus standen toratreue Anhänger, die 1902 unter dem Rabbiner Isaak Jakob Reines eine Fraktion unter dem ­Namen Misrachi (geistiges Zentrum) gründeten. Das orthodoxe Judentum war zwar mehrheitlich antizionistisch eingestellt, einige wenige konnten sich jedoch mit dem politischem Zionismus anfreunden. So gehörte Reines zu den wenigen Rabbinern, die bereits am Ersten Zionistenkongress teilnahmen. Die Auseinandersetzung mit kulturell-religiösen Fragen, welche die Fraktion um Achad Ha’am ins Zentrum stellte, empfanden Reines und seine Anhänger als gotteslästerlich. Sie erwarteten von der aus ihrer Sicht säkularen Judenheit, sich aus jüdisch kulturell-religiösen Angelegenheiten herauszuhalten.

In der Tradition des Frühzionisten Moses Hess stehend, bildete sich 1902 die Richtung des sozialistischen Zionismus heraus. Hierbei wurde der Zionismusgedanke verknüpft mit einer Gesellschaftskritik und sollte die sogenannte Judenfrage gemeinsam mit der sozialen Frage gelöst werden. Mit der Auswanderung sollte nicht nur dem Antisemitismus entgangen werden, sondern auch der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Ideologische Wegbereiter waren neben Hess der russische Autor und Marxist Nachman Syrkin und der russische Schriftsteller Ber Borochov. Aus den verschiedenen sozialistischen Überzeugungen heraus entwickelten sich unterschiedliche Ver­einigungen wie die sowjetnahe Arbeiterorganisation Poale Zion (Arbeiter Zions), deren prominente Mitglieder Borochov und Syrkin waren. Sie führte den Judenhass auf die sonderbare wirtschaftliche Stellung der ­Juden innerhalb des Kapitalismus zurück und war überzeugt, dass sie sich durch einen eigenen Staat normalisieren könnten. Der nächste Schritt sei schließlich die Weltrevolution. Weniger ideologisch ausgerichtet war die Partei Hapoel Hazair (Der junge Arbeiter), die für die Produktivierung der jüdischen Gesellschaft in Form von kooperativen Siedlungen kämpfte. Hierdurch sollte sich die jüdische Nation normalisieren. Der sozialistische Zionismus war zunächst vor allem unter den jungen osteuropäischen Zionisten verbreitet und entwickelte sich schnell zu eine der Hauptströmungen und zur führenden Kraft der Siedler, die letztlich auch nach der Staatsgründung Israels die Politik bis zu den Parlamentswahlen 1977 bestimmte.

Im Kontrast dazu stand die antisozialistische Bewegung um Wladimir Jabotinsky, einem Schriftsteller und Hebraisten aus Odessa. Die WZO beauftragte ihn mehrfach mit der Pflege diplomatischer Kontakte, unter anderem verhandelte er mit Vertretern des Osmanischen Reichs und später der britischen Krone. Er entfernte sich jedoch zunehmend von Herzls kosmopolitischen Ideen und propagierte einen ethnischen Nationalismus, der notfalls militärisch verteidigt werden müsse. Während des Ersten Weltkriegs gründete er die Jüdische Legion, die den Briten half, Palästina der türkischen Herrschaft zu entreißen. Insgesamt legte er seinen ­Fokus immer mehr auf die jüdische Verteidigung und weniger auf die Diplomatie oder praktische Besiedlung. Enttäuscht von der britischen Politik sowie der hinnehmenden Haltung der WZO gründete er 1925 den Bund der Zionistischen Revisionisten als Gegenbewegung zur bestimmenden Richtung der WZO.

Zu Herzls Lebzeiten lag der Fokus der WZO auf diplomatischen Bemühungen, die die Grundlage für eine großangelegte Ansiedlung schaffen sollten. Jener sogenannte politische Zionismus wurde nach Herzls Tod durch seine Nachfolger in Richtung eines praktischen Zionismus bewegt, bei dem neben den diplomatischen Zielen auch die gleichzeitige Besiedlung gefördert wurde, in der Annahme, dadurch Tatsachen zu schaffen, die die Verhandlungsbasis stärken.

Meanwhile in Palestine …

Als Herzl seinen »Judenstaat« verfasste, war er noch nicht auf Erez ­Israel festgelegt. 1895 schrieb er in sein Tagebuch, dass es nicht aufs geographische Gebiet ankomme, da das gelobte Land im jüdischen Herzen sei, und: »Das Gelobte Land ist dort, wohin wir es tragen!« Im »Judenstaat« überschreibt er ein Kapitel mit »Palästina oder Argentinien?« und darin verspricht er, die Bewegung »wird nehmen, was man ihr gibt und wofür sich die öffentliche Meinung des Judenvolkes erklärt«. Sowohl in der Wahl Palästinas als auch Argentiniens sah Herzl Vorzüge. Neben Argentinien war auch Ostafrika (Uganda) bis 1905 im Gespräch. Diese auf die Region bezogene Offenheit wird vor dem Hintergrund verständlich, dass sich Europa seinerzeit in vielen Teilen der Welt Gebiete aufteilte.

Einige dieser Regionen waren dünn besiedelt, und aus westeuropäischer Sicht schien es verschiedene Optionen zu geben, sich neu anzusiedeln. In dieser Hinsicht waren die Zionisten durchaus vom zeitgenössischen kolonialen Weltverständnis geprägt. Gleichzeitig unterschieden sich ihre Vorstellungen hinsichtlich der Besiedlung elementar. Das Hauptmerkmal des Kolonialismus, nämlich das Ziel der Ausbeutung an Ort und Stelle, fehlt beim Zionismus.

Spätestens seit den Pogromen von Kischinew (dem heutigen Chișinău) 1903 kam es Herzl in erster Linie darauf an, einen Ausweg aus der mörderischen Judenverfolgung zu finden. Als die Verhandlungen mit dem Deutschen Reich, dem Osmanischen Reich und Ägypten hinsichtlich Palästinas scheiterten, zeigte er sich pragmatisch und versuchte sich im Ostafrika-Projekt.

Doch die Wahl des Landes mit seiner fürs Judentum so bedeutenden Geschichte war von anderen längst getroffen worden. Denn während der erste Zionistenkongress in Basel tagte, lebten bereits die ersten Zionisten in insgesamt 19 Siedlungen der Region Palästina, die damals noch vom Osmanischen Reich verwaltet wurde. Die Siedler waren mehrheitlich vor Pogromen aus dem Zarenreich oder vor der antijüdischen Politik Rumäniens geflohen und gehörten der ältesten zionistischen Organisation an: der 1881 in Rumänien gegründeten Chibbat Zion (Zionsliebe) beziehungsweise Chowewe Zion (Zionsliebende). Viele der zumeist jungen Studenten kamen zunächst in Jaffa an und verließen Palästina schnell wieder, enttäuscht über die widrigen Bedingungen. Bis 1904 siedelten sich circa 5 500 der verbliebenen Einwanderer in den Städten Palästinas an und rund 4 500 zogen in die neuen Kolonien, um autarke Landwirtschafts­betriebe aufzubauen. Neben den Neugründungen Rischon LeZion (1882) und Rosch Pina (1882) wurde auch das zwei Kilometer von Jaffa entfernte Dorf Amlabasch mit einer Boden­fläche von 400 Hektar wiederbelebt, das 1878 kurz nach dem Tod des Frühzionisten Judah Alkalai von dessen Jerusalemer Anhängern erworben und besiedelt worden war, das jedoch nach anderthalb Jahren wieder brachlag. Hieraus entwickelte sich später die Stadt Petach Tikwa.

Den Siedlern war es im Sinne ihres zionistischen Idealismus wichtig, das Land selbst zu bearbeiten, anstatt wie andere europäische Kolonisa­toren die bereits ansässige Bevölkerung für sich arbeiten zu lassen oder von Zuwendungen aus Europa oder den USA abhängig zu sein. In ­ihrer neuen Heimat trafen sie nicht nur auf die christliche und muslimische Bevölkerung, sondern auch auf den sogenannten Alten Jischuw, die jahrhundertelang ansässige jüdische Bevölkerung, die in den religiösen Zentren Jerusalem, Hebron, Tiberias und Zfad (Safed) wohnte und auf ­finanzielle Unterstützung ihrer Glaubensgeschwister in Europa und Amerika angewiesen war. Sie war alles andere als zionistisch, sondern lebte im Heiligen Land nach religiösen Geboten. Die zionistischen Siedler konnten daher kaum auf ihre Unterstützung hoffen.

Auf Unterstützung waren die jungen Siedler jedoch bald angewiesen, denn landwirtschaftliche Misserfolge zehrten ihre Ersparnisse schnell auf. Herausfordernd war nicht nur der häufig minderwertige Boden, der ihnen zum Kauf angeboten wurde, sondern auch mangelnde landwirtschaftliche Erfahrung. Letztlich wurden viele der Siedlungen vom französischen Baron Edmond de Rothschild unterstützt, der Gelder zu strikten Konditionen gab, die den Idealen der Siedler keineswegs entsprachen. Ihr Traum von einem unabhängigen Aufbau war daher bald ausgeträumt und die heutzutage als erste Alija (Aufstieg) bezeichnete Einwanderungswelle von 1881 bis 1904 wird rückblickend als Misserfolg angesehen.

1904 setzte eine zweite Einwanderungsbewegung ein, die den Grundstein für eine dauerhafte zionistische Niederlassung legen sollte. Zwar verließen auch hier viele das Land wieder, dennoch stieg die jüdische ­Bevölkerung in Palästina bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs auf 80 000 an. Viele von ihnen waren junge Einwanderer aus osteuropä­ischen Ländern, die vom sozialistischen Zionismus geprägt waren. Unter ihnen war aber auch Hulda Thomaschewsky, eine der ersten deutschen Zionistinnen, die nach Palästina aufbrachen. Sie war eine der ersten Frauen auf dem ersten Zionistenkongress und gehörte seit spätestens Mitte der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts zum engen Kreis der Berliner Zionisten. Schon seit 1897 dachte sie ernsthaft über eine Auswanderung nach Palästina nach.

Viele neue Siedler hatten vor der Auswanderung im Rahmen der Hachschara (Vorbereitung) eine landwirtschaftliche und handwerkliche Ausbildung erhalten sowie Hebräisch gelernt. Mit ihren Sprachkenntnissen trieben sie die Hebraisierung des Alltagslebens voran und 1905 konnte bereits das erste hebräischsprachige Gymnasium in Palästina eröffnet werden. Einige der Ankömmlinge probierten ein neues Lebensmodell im Kibbuz aus. Hier gab es statt Privat­eigentum und Kleinfamilienleben eine solidarische Gruppengemeinschaft, bei der selbst die Kindererziehung nicht im Elternhaus, sondern im Kinderhaus erfolgte.

Thomaschewsky dagegen wohnte mit ihrer kleinen Tochter Mirjam in der Deutschen Kolonie in Jaffa – und damit in einem eher christlich geprägten Viertel. Sie arbeitete bei der Anglo-Palestine Bank, deren erste ­Filiale 1903 in Jaffa von zionistischer Seite eröffnet wurde, um die Infrastruktur und Wirtschaft an Ort und Stelle zu stärken. Im März 1906 kehrte Thomaschewsky jedoch aufgrund der schwierigen Bedingungen als ­Alleinerziehende sowie der gesundheitlichen Probleme ihrer Tochter nach Berlin zurück.

Die dritte Einwanderungsbewegung konnte kriegsbedingt erst 1919 einsetzen. Inzwischen war Palästina an Großbritannien gefallen. Noch während des Ersten Weltkriegs hatte der britische Außenminister Lord Arthur Balfour 1917 in einer Erklärung die Sympathien der britischen Regierung zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina ausgedrückt. Entsprechend groß waren die Hoffnungen der Zionisten auf eine weitere Besiedlung. Bis 1923 kamen rund 35 000 jüdische Einwanderer nach Palästina. Wieder kam die Mehrheit aus osteuropäischen Ländern – nicht selten geflohen vor antisemitischen Ausschreitungen – und stand dem Sozialismus nahe.

Theodor Zlocisti, der ebenfalls zionistische Lebensgefährte von Hulda Thomaschewsky, hatte 1914 die überproportionale Einwanderung aus Osteuropa kritisiert und die Deutschen zur Einwanderung aufgefordert, denn: »Der deutsche Jude hat durch die Schule, den Staat, durch die ganze Organisation des Lebens, in dem er treibt, eine Erziehung erfahren, die ihn für die Entwicklung der palästinensischen Kolonisation zu einem wertvollen, zu einem notwendigen Element macht. Deutschland ist groß und stark geworden durch seine Ordnung, durch Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit, durch die Exaktheit, mit der die Räder all seiner Betriebe, der staatlichen wie der privaten, ineinandergreifen. Gewiß, wir sind weniger ideenreich, trockener, schwungloser. Aber planmäßiger, hartnäckig, und lassen die Stimmung nicht den Weg der Pflicht verlegen.«

Hieran wird deutlich, dass es in der zionistischen Bewegung außer Differenzen zwischen den politischen Strömungen auch Spannungen aufgrund der Herkunft gab. Zlocisti jedenfalls nahm seine Aufforderung offenbar selbst ernst und setzte sie 1920 in die Tat um. Zusammen mit Hulda und der gemeinsamen Tochter Mirjam zog er nach Tel Aviv, einer Stadt, die sich seit 1909 im Aufbau befand. So schreibt Helene Cohn, die kurz nach der Familie Zlocisti von Berlin nach Palästina kam: »Das dama­lige Tel Aviv waren eigentlich nur ein paar Strassen. Die Jehuda Halevy Strasse, wo Zlocistis wohnten, war wohl beinahe die eine Grenze und auf der anderen Seite gabs hinter der Synagoge in der Allenbystrasse nicht mehr viel. Jedenfalls war es weit weit weg vom Meer, das man mit einer sogenannten kleinen Diligence erreichen konnte. Ein Wägelchen, das vielleicht 8 bis 10 Personen aufnahm.«

Tel Aviv entwickelte sich erst im Zuge der vierten Einwanderungsbewegung während der zwanziger Jahre zu einer Stadt, wie sie sich ein zeitgenössischer Europäer vorstellte. Es wurden immer mehr Cafés, elegante Geschäfte und kulturelle Einrichtungen wie ein Theater eröffnet, denn viele der 80 000 Neueinwanderer waren polnische Händler und Kleingewerbetreibende, die es in die Städte zog und diese mit ihren privatwirtschaftlichen Initiativen belebten und zum Häuserbau anregten. Außerdem wurde mit der Gründung der Einheitsgewerkschaft Histadrut (Zusammenschluss) 1920 die allgemeine Struktur im Land gestärkt.

Ende der zwanziger Jahre gingen die Einwohnerzahlen aufgrund der Weltwirtschaftskrise zurück und nahmen erst mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus wieder zu. Bis dahin kann resümiert werden, dass die Einwanderung seit 1881 im weltweiten Vergleich stets marginal war. So gingen bis 1929 nur etwa drei Prozent aller jüdischen Auswanderer aus Ost- und Mitteleuropa nach Palästina, die allermeisten zog es nach Amerika. In Westeuropa hingegen dachten die wenigsten Zionisten darüber nach, selbst auszuwandern, sondern verstanden sich trotz ihres zionistischen Engagements als treue Staatsbürger ihres Landes. Dies sollte sich erst ab 1932 ändern.

Mit der fünften Einwanderungsbewegung in den dreißiger Jahren wird häufig eine polemische Frage verknüpft, welche die Neueinwanderer offenbar zu hören bekamen: »Kommst du aus Überzeugung oder aus Deutschland?« Es ist richtig, dass vor der nationalsozialistischen Bedrohung lediglich 2 000 Einwanderer aus Deutschland kamen, zwischen 1932 und 1939 kamen dagegen 55 000. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese keine Zionisten waren. Vielmehr war der Nationalsozialismus der Anlass, dorthin zu fliehen, ähnlich wie es vorher die Judenverfolgung in ost­europäischen Ländern war, welche die Mehrheit der Einwanderer in den Jahren zuvor mobilisierte.

In den dreißiger Jahren landeten plötzlich Persönlichkeiten in Palästina, die zuvor in Deutschland erfolgreich waren, wie der Schriftsteller Arnold Zweig oder der Maler Jakob Nussbaum. Während andere – vorausgesetzt sie konnten sich eine Flucht überhaupt leisten – nach Frankreich, England, in die Niederlande oder USA flohen, entschieden sie sich bewusst für Palästina, nachdem sie bereits jahrelang mit dem Zionismus sympathisiert hatten. Das heißt jedoch nicht, dass sie dort glücklich wurden. Nussbaum, in Frankfurt am Main ein anerkannter Künstler, der es sich leisten konnte, für die Existenz weniger erfolgreicher Künstlerkollegen zu kämpfen und zu diesem Zweck 1922 die Frankfurter Künstlerhilfe gegründet hatte, ließ sich nach seiner Flucht am See Genezareth nieder. Hier war er jedoch ungewohnt einsam, malte immer seltener, wurde krank und starb bereits 1936 im Alter von 63 Jahren. Arnold Zweig dagegen, der sich 1934 in Haifa ein Haus bauen ließ, wurde Opfer eines Angriffs nationaljüdischer Fraktionen, als er als Redner auf einer Veranstaltung der deutschsprachigen Zeitschrift Orient auftrat. Er selbst, der bereits fast erblindet war, konnte sich sprachlich im neuen Land nicht einfinden. Zweig kehrte 1948 nach Ost-Berlin zurück, wo man ihn als Vorzeigeautor des »neuen Deutschland« begrüßte.

»Ihr seid kurios, Ihr Mohammedaner! Seht Ihr diese Juden nicht als Eindringlinge an?«

In Herzls »Altneuland« stellt ein christlicher Besucher dem muslimischen Mitglied der »neuen Gesellschaft« Palästinas, Reschid Bey, die Frage, ob die Muslime die einwandernden Juden nicht als Eindringlinge empfunden hätten. Statt sich gegen die Einwanderung zu wehren, seien sie begeisterter Teil der neuen Gesellschaft geworden. Reschid Bey antwortet darauf: »Würden Sie den als einen Räuber betrachten, der Ihnen nichts nimmt, sondern etwas bringt? Die Juden haben uns bereichert, warum sollten wir ihnen zürnen? Sie leben mit uns wie Brüder, warum sollten wir sie nicht lieben?« Später im Roman wird geschildert, wie Palästina »bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts völlig vernachlässigt (war), in einer Art von Urzustand lag«. Die Neueinwanderer brachten alle technischen Errungenschaften aus Europa mit und konnten die Städte, Landwirtschaft, das Transport­wesen et cetera nach modernstem Maßstab aufbauen.

Die palästinensische Region malte sich Herzl von der Ferne als dünn besiedeltes Gebiet aus, in dem man sich widerstandslos ansiedeln könne. Die Konfrontation mit der nichtjüdischen Bevölkerung konnte er sich nicht vorstellen, weil er sie nicht kannte. Wie er dachten zahlreiche Anhänger des Zionismus. Gleichzeitig gab es auch populäre zionistische Denker wie Achad Ha’am, die schon frühzeitig auf die lokale Bevölkerung verwiesen, welche die Zionisten ganz sicher nicht mit offenen Armen empfangen würden. Denn das Land war zwar tatsächlich dünn besiedelt, es lebten aber muslimische und christliche Araber im Land, die ganz und gar nicht darauf warteten, dass zionistische Einwanderer ihr Land erblühen ließen.

Schon mit dem zionistischen Einwanderungsbeginn im Jahr 1881 kam es zu ersten gewaltsamen Reaktionen, nicht nur von muslimischer, sondern anfangs vornehmlich von christlicher Seite, die unter anderem vom europäischen Antisemitismus geprägt war. Die Zionisten kannten die Gewalt gegen sie bereits aus ­ihren Herkunftsländern, reagierten diesmal jedoch nicht mit Flucht, sondern setzten sich zur Wehr. Sie schlussfolgerten, dass in den neuen Siedlungen nicht nur Handwerker und Landwirte benötigt würden, sondern auch Wächter, um die Siedlungen zu beschützen.

Gleichzeitig reagierte auch die osmanische Verwaltungsmacht unmittelbar auf die unerwünschte Kolonisierung: 1881 erließ sie ein Einwanderungsverbot für Juden aus Osteuropa. Als Herzl einige Jahre später mit Sultan Abdul Hamid über die Erlaubnis jüdischer Einwanderung verhandeln wollte, machte dieser ihm klar, dass er die Umsetzung ­seiner zionistischen Vision niemals zulassen werde. Zu jener Zeit war er bereits wegen der Massaker an den Armeniern als »blutiger Sultan« in Europa berüchtigt. Das Einwanderungsverbot wurde in der Praxis unter anderem durch Bestechung umgangen.

1891 protestierten einflussreiche und wohlhabende Araber in einem offiziellen Schreiben an die Regierung in Istanbul gegen die Einwanderer und deren strategisch vorangetriebene Landkäufe. Die in den nächsten Jahren erstarkende arabische Nationalbewegung sah die zionistische Bewegung als eines der Hauptpro­bleme für eine arabische Unabhängigkeit.

Die vom politischen Zionismus geprägte Führung der WZO sah eine Lösung des Interessenkonflikts zwischen jüdischer und arabischer ­Nationalbewegung in der Diplomatie. 1919 war Chaim Weizmann, der neue WZO-Vorsitzende nach dem Ersten Weltkrieg, scheinbar erfolgreich. Er schaffte es, mit Faisal, dem Sohn des Scharifs von Mekka und späteren König des Irak, ein Abkommen zu schließen, dem zufolge die Araber die jüdischen Ansprüche auf Paläs­tina anerkennen würden – allerdings nur unter der Bedingung, dass sie ihre eigene Unabhängigkeit in Form eines arabischen Großreichs er­reichen. Da dies den Interessen der französischen und britischen Kolo­nialmächte widersprach, die in einem Geheimabkommen von 1916 die Gebiete im Nahen Osten bereits unter sich aufgeteilt hatten, wurde die Übereinkunft mit Faisal hinfällig.

Unter der britischen Vorherrschaft spitzten sich die Konflikte zu. Rück­blickend wird die britische Politik von 1919 bis 1948 als kontraproduktiv für den Frieden im Nahen Osten kritisiert, da sie stets zwischen zionistischen und arabischen Interessen lavierte, regelmäßig neue Verordnungen erließ und damit zunehmend zu Frustrationen auf arabischer und ­zionistischer Seite statt zu Stabilität in der Region führte. Dabei tat sie nichts für eine Annäherung beider Seiten, schließlich hatte sie zu fürchten, diese könnten sich gegen sie zusammenschließen.

Bis zur Staatsgründung kam es zu zahlreichen Ausschreitungen. Im April 1920 griffen arabische Antizionisten mehrere Kibbuzim an, unter anderem das Pionierdorf Tel Hai, aber auch in Jerusalem und anderen Großstädten kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen. Ein Jahr später stürmten arabischen Truppen nach den Erste-Mai-Aufzügen der sozialistischen Zionisten eine Einwanderungsherberge in Jaffa und lösten ein Gemetzel aus. Damit bewirkten sie die Loslösung Tel Avivs von Jaffa, denn viele Juden zogen anschließend in die neue jüdische Stadt.

Neben Ausschreitungen war auch Boykott ein Mittel der arabischen ­Bevölkerung gegen die jüdischen Einwohner. So heißt es 1929 in einem Zeitungsbericht des Sydney Morning Herald: »In Jerusalem, Jaffa, Haifa und anderen Städten wird der Boykott in solch einer Strenge einge­halten, dass kein Araber es wagt, ein jüdisches Geschäft zu betreten, es sei denn, er tut es heimlich. Jene, die sich der Anordnung widersetzt ­haben, trugen die Konsequenzen in Form von Schlägen oder bekamen Dreck und Exkremente über den Kopf gegossen.«

Einige Wochen vor dem Bericht kam es in Palästina zu schweren Massakern. Es begann mit Zusammenstößen zwischen Arabern und Juden an der Klagemauer, die sich zu Angriffen auf Juden im gesamten Land ausweiteten. Unter anderem wurde in Hebron ein Massaker verübt, bei dem 67 Juden ermordet wurden und das zur vollständigen Vertreibung der Juden aus der Stadt führte, in der sie zuvor jahrhundertelang gelebt hatten.

Infolgedessen entwickelten sich innerzionistische Debatten zur Frage des Umgangs und insbesondere zur Möglichkeit eines binationalen Staats. Schon 1921 hatten Robert Weltsch und Hans Kohn gewarnt, dass ein zionistisches Projekt nicht auf Kosten anderer Interessen im Land realisiert werden könne. Sie träumten von ­einem binationalen Staat, in dem arabische Interessen gleichberechtigt neben zionistischen stehen. 1925 gründeten die beiden die Vereinigung Brit Schalom (Friedensbund), blieben mit ihr aber eine Minderheit innerhalb der zionistischen Bewegung. Die Führung um Chaim Weizmann dagegen konnte sich mit der Idee eines binationalen Staats nicht anfreunden, auch nach den Massakern von 1929 nicht. Stattdessen konzen­trierte sie sich fortan auf die Besiedlung und blendete die Konflikte weitgehend aus.

Die gegensätzliche Position vertrat Wladimir Jabotinsky mit seiner ­revisionistischen Richtung, die aber wie Brit Schalom eine Minderheitenposition in der zionistischen Bewegung darstellte. Im Gegensatz zu Brit Schalom erkannte er die nationalen Interessen der Araber ganz klar und als den eigenen Interessen widersprechend. Daher setzte er auf Wehrhaftigkeit. Als 1936 die als »arabische Aufstände« bezeichnete nati­onalistische Erhebung der Araber begann, die sich nicht nur in Streiks ­gegen die britische Verwaltungsmacht zeigte, sondern sich gleichfalls gegen die jüdische Bevölkerung in Überfällen und Massakern entlud, übernahm Jabotinsky das Oberkommando über die Irgun, eine seit 1931 bestehende zionistische paramilitärische Untergrundorganisation, die Schutzmaßnahmen ergriff, aber auch Angriffe auf die arabische Bevölkerung und später auch gegen britische Einrichtungen verübte.

Während der arabischen Unruhen, die bis 1939 anhielten, wurden rund 1 200 Juden ermordet. In dieser Zeit erstellte eine von den Briten beauftragte Kommission 1937 einen ersten Teilungsentwurf. Im Kommissionsbericht wird deutlich, dass sich die Realität ganz anders entwickelt hatte als in Herzls »Altneuland«. Denn: »Die Araber haben zwar durch die Entwicklung, die das Land infolge der jüdischen Einwanderung genommen hat, Vorteil gehabt, das hat aber keinerlei aussöhnende Wirkung ausgeübt. Im Gegenteil: die Besserung der wirtschaftlichen Lage in Palästina hat die Verschlechterung der politischen Lage bedeutet.« Der Teilungsplan, der den Arabern den Großteil Palästinas zugestand, während die Zionisten auf rund 20 Prozent des Landes leben sollten, wozu allerdings die fruchtbareren Gebiete gehörten, verstärkte die Proteststimmung auf arabischer Seite jedoch nur und es zeichnete sich ab, dass sie niemals bereit sein würde, eine Lösung zu akzeptieren, die ihr nicht das gesamte Land zuspricht.

1939 erließen die Briten mit dem »MacDonald-Weißbuch« neben dem Verkaufsverbot von Grundstücken an Juden drastische Einreisebeschränkungen nach Palästina. So stieg auch auf zionistischer Seite die Frustration. Die Hagana begann, sich intensiv um die illegale Einwanderung jüdischer Geflüchteter zu bemühen. Als der deutsche Einmarsch in Palästina drohte, baute sie ihre Militär­organisationen aus. Als die Vernichtungsmaschinerie in den Konzen­trationslagern bekannt wurde, forderten die Zionisten die Aufhebung des britischen Einwanderungsstopps, doch selbst als nach Kriegsende das Ausmaß der Vernichtung die Welt bestürzte, änderte die britische Besatzung ihre Haltung nicht. 1945 erließ die frisch gegründete Arabische Liga eine Resolution zum Boykott jüdischer und zionistischer Güter und Produkte. Ein Ende der Konflikte war nicht abzusehen und Groß­britannien sah sich außerstande, das Mandat weiter auszuüben. Eine von den Vereinten Nationen (UN) eingesetzte Untersuchungskommission empfahl die Teilung. Am 29. November 1947 wurde der Teilungsplan von der UN-Vollversammlung beschlossen, am 14. Mai 1948 feierten die Zionisten im den Juden zugesprochenen Gebiet die Unabhängigkeit, in derselben Nacht griffen Ägypten, Transjordanien, Syrien, Irak und Libanon den jungen Staat ­Israel an.

So wurde Herzls Traum letztlich von der Realität eingeholt. Dem Gründungsvater des Zionismus ging es bei seinem Plan zur Besiedlung Palästinas um eine Normalisierung der jüdischen Existenz, verbunden mit dem Wunsch, dadurch an einer bes­seren Welt zu arbeiten – wie auch immer diese aussehen mochte. Dies war keine Eigenheit der jüdischen Nationalbewegung, sondern lässt sich auch an anderen modernen Nationalbewegungen Europas beobachten. Für Herzl jedenfalls zeichnete sich diese bessere Gesellschaftsform folgendermaßen aus: »Wir stehen und fallen mit dem Grundsatz, daß, wer sich zwei Jahre in den Dienst der neuen Gesellschaft gestellt hat, wie es vorgeschrieben ist, wenn er sich diese zwei Jahre ordentlich aufgeführt hat, Mitglied werden kann, welcher Nation oder Konfession er auch immer angehören mag.«

Liest man Herzls »Altneuland« heute, mag man nicht viel wiedererkennen, zu sehr spricht der liberale Europäer des 19. Jahrhunderts aus ihm, wenngleich in mancherlei Hinsicht ein außergewöhnlich avantgardis­tischer. Vergessen ist sein Traum jedoch nicht. Tel Aviv, die Stadt, die heutzutage für das plurale und freie Israel steht, erinnert mit seinem ­Namen stets an ihn. Denn als Herzls Roman noch im Erscheinungsjahr übersetzt wurde, trug die hebräische Ausgabe den Titel »Tel Aviv«.

Der Text wurde gekürzt und redaktionell bearbeitet.

Abdruck mit freundlicher ­Genehmigung der Autorin aus: ­Associazione delle talpe / Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen (Hrsg.): Maulwurfsarbeit VI. ­Bestellung unter: ­bestellung@talpe.org