Gegenentwurf zum verkommenen Westen
Sommer 1993. Während der sogenannten weißen Nächte, in denen die Dämmerung die ganze Nacht anhält, ging in einem der Sankt Petersburger Kulturpaläste eine grandiose Party über die Bühne, wie sie die Stadt an der Newa so noch nicht gesehen hatte. Erst wenige Wochen zuvor, Ende Mai, war die in der Sowjetunion seit 1934, dem Beginn der Hochzeit der stalinistischen Repression, gesetzlich verbotene männliche Homosexualität entkriminalisiert worden. Die lokale Lesben- und Schwulenszene – die Abkürzung LGBTQI war damals noch nicht gebräuchlich – nahm dies zum Anlass, endlich einmal in ganz großem Stil ausgelassen zu feiern. Nur die geplante Pride-Parade musste wegen fehlender Genehmigung ausfallen. So weit ging bei den zuständigen Behörden der neumodische liberale Hang zur Demokratisierung einer jahrzehntelang parteigelenkten Gesellschaft, wie er sich in der noch im selben Jahr verabschiedeten ersten postsowjetischen russischen Verfassung ausdrückte, dann doch noch nicht.
30 Jahre später gibt es nichts mehr zu feiern. Schon in den folgenden Jahren scheiterte praktisch jeder weitere Versuch, die Vielfalt der sexuellen Minderheiten auf der Straße allen zu zeigen, am Widerstand der Staatsmacht. Lediglich einige kleinere Aktionen zum Thema Rechte für sexuelle Minderheiten liefen ohne gewalttätiges Eingreifen der Polizei ab, nur gelegentlich gelang es bei politischen Demonstrationen zu anderen Anlässen, mit Regenbogenfahnen und Plakaten die nach der Jahrtausendwende zunächst in verschiedenen Regionen und dann landesweit eingeführten Verbote von LGBT-Symbolen zu umgehen.
Russische Meinungsforschungsinstitute stellen die Abkürzung LGBT gerne in eine Reihe mit Pädophilen, Feministinnen und Angehörigen extremistischer oder terroristischer Organisationen.
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