Regina Elsner, Theologin, über die Spaltung der orthodoxen Kirche in der Ukraine und die Kollaboration mit Russland

»Kritik kommt auch von Gläubigen«

Da die orthodoxen Kirchen meist Nationalkirchen sind, führen Konflikte zwischen orthodox geprägten Staaten oft zu kircheninternen Spannungen - so auch in der Ukraine. Regina Elsner, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien in Berlin, spricht über politische Einflussnahme auf die Kirche, Kollaboration mit Russland und staatliche Gegenmaßnahmen.
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Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde auch der Status des ehemaligen Ukrainischen Exarchats der Russischen Orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat) in Frage gestellt. Welche Folgen hatte das?

Bereits 1990 gewährte der damalige Moskauer Patriarch der Kirche in der Ukraine eine »weitreichende Autonomie« als Ukrainische-Orthodoxe Kirche (UOK), sie wurde in finanziellen und administrativen Dingen selbständig, unterstand aber weiterhin Moskau. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 mehrten sich Stimmen, denen diese Verbindung mit Moskau noch zu eng war, und 1992 trennte sich die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOKKP) von der UOK und erklärte sich für »autokephal«, also zu einer vollständig unabhängigen nationalen Kirche.
Keine andere orthodoxe Kirche der Welt erkannte die UOKKP an, allerdings genoss sie in der ukrainischen Gesellschaft viel Zustimmung, da sie sich bedingungslos hinter die ukrainische Souveränität stellte. Die UOK blieb jedoch die größte Kirche des Landes, sie war nach dem Kirchenrecht die rechtmäßige Kirche, das ist für Gläubige sehr wichtig. Sie hatte das Recht, die Heiligtümer des Landes – die sehr alten Klöster in Kiew, Potschajiw und Swjatohirsk – zu verwalten und war durch Bindung an die russisch-orthodoxe Kirche international vernetzt und anerkannt.

»Es gibt unter den Bischöfen der ukrainisch-orthodoxen Kirche einige, die nach wie vor sehr russ­landfreundlich sind, was mit viel Misstrauen beobachtet wird.«

In der Ukraine wie in Russland ist die Kirche offiziell vom Staat getrennt, dennoch werden Kirchenfragen zum Gegenstand der Staatspolitik. Welche Auswirkungen hatte das in der Ukraine?

Die Präsidenten der Ukraine haben seit 1991 versucht, die Kirchen für ihre jeweiligen Strategien zu nutzen. Seit dem Euromaidan (Massenproteste 2013/2014, die zum Sturz des prorussischen Prä­sidenten Wiktor Janukowytsch führten, Anm. d. Red.) wurde der Druck auf die Kirchen größer, mehr zur Überwindung von gesellschaftlichen Spaltungen in der Ukraine beizutragen – also auch die Spaltung der Orthodoxie zu beenden. Petro Poroschenko wollte diese gesellschaftlichen Stimmungen 2018 für seinen Präsidentschaftswahlkampf nutzen und eine geeinte ukrainische orthodoxe Kirche präsentieren. Da das Moskauer Patriarchat weiterhin eine Entlassung der UOK in die Selbständigkeit ablehnte, wandte sich Poroschenko an den Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel (Istanbul), der als Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie gilt.

Von der UOK und dem Moskauer Pa­triarchat wurde das als unrechtmäßige Einmischung verstanden, man verweigerte die Teilnahme an einem Einigungskonzil in Kiew im Dezember 2018. Dort wurde die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) gegründet – in der die UOKKP aufging –, die der Ökumenische Patriarch im Januar 2019 als autokephal anerkannte. Die Spaltung in der Ukraine war jedoch nicht aufgehoben und wenige Monate später verlor Poroschenko auch die Präsidentschaftswahl. Es gibt viele Menschen, die die politische Einmischung in die Kirchenfrage stark kritisieren und der OKU deswegen die Legitimität absprechen.

Wie schätzen Sie den Grad der Religiosität in der Ukraine ein? Wie hoch ist der Anteil der Kirchgänger?

Das ist schwer zu sagen, denn die Statistiken sind ungenau. Insgesamt bekennen sich circa 70 Prozent der Bevölkerung zur Orthodoxie, praktizierte Religiosität – also etwa regelmäßiges Beten, regelmäßiger Gottesdienstbesuch – ist mit etwa 25 Prozent ziemlich weit verbreitet. Gerade jetzt im Krieg suchen viele Menschen Halt im Glauben.

Wie reagierte die UOK auf den Beginn der russischen Invasion am 24. Februar vorigen Jahres?

Die Kirchenleitung hatte sich seit 2014 nie deutlich gegen den Krieg oder gegen Russlands Angriffe positioniert. Am Tag der russischen Invasion sprach sie sich jedoch deutlich gegen den Krieg aus, ihr Oberhaupt, Metropolit Onufrij, hat von einem »Brudermord« gesprochen und die russische Führung aufgerufen, die Gewalt zu beenden. Man hat sich auch eindeutig für die Souveränität der Ukraine und die Integrität ihrer Grenzen ausgesprochen. Diese Haltung wurde seitdem mehrmals betont.

Die Kirche hat sich somit deutlich von der Moskauer Kirchenleitung losgesagt, die den Krieg offen unterstützt. Als Russland Mitte Januar im UN-Sicherheitsrat die »Repression gegen die UOK in der Ukraine« auf die Tagesordnung setzte, widersprach die ukrainische Kirchenleitung dieser Vereinnahmung deutlich – man habe niemandem das Recht gegeben, im Namen der UOK zu sprechen, erst recht nicht dem brutalen Angreifer Russland.

Welche Rolle spielt die Zugehörigkeit zu UOK oder OKU für die Kon­struktion nationaler Identität?

Die Ukraine ist historisch ein Land mit großer Religionsvielfalt – es gibt neben der Orthodoxie ein traditionsreiches Judentum, den Islam, die katholische Kirche, viele protestantische Gemeinden. Eigentlich könnte man sagen, dass genau diese Vielfalt entscheidend für die nationale Identität ist. Aber die Orthodoxie spielt eine wichtige historische Rolle, und sie ist ein entscheidender Aspekt der Beziehung zu Russland – nicht nur die Orthodoxie beider Länder, sondern auch der Gründungsmythos beider Staaten bezieht sich auf Kiew. Man braucht also nach Jahrhunderten der russischen Dominanz in der Interpretation dieser Geschichte eine eigene Erzählung, etwas, das die ukrainische Identität der Kiewer Orthodoxie von der russischen Idee unterscheidet.

Spielt das Moskauer Patriarchat eine wichtige Rolle im Ukraine-Krieg?

Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat eine wichtige Rolle als ideologische Unterstützerin der repressiven Innenpolitik und der aggressiven Außenpolitik Russlands, und sie nutzt ihr religi­öse Autorität, um Menschen zu mobilisieren. Das konnte man gerade wieder bei der Sitzung des Sicherheitsrats der UN sehen: Russland hat eine Sitzung zur Religionsfreiheit in der Ukraine beantragt, und es war ein Sprecher der ROK, der die angebliche »politische Repression gegen die UOK« anführte, die Russlands militärisches Eingreifen legitimiere. Durch die religiöse Über­hö­hung des Kriegs werden außerdem die Menschen in Russland zu Kampf und Opferbereitschaft aufgerufen.

Die UOK gilt vielen Menschen in der Ukraine weiterhin als verdächtig. Hat sie sich konsequent von Russland distanziert?

Es gibt vor allem unter den Bischöfen der UOK einige, die nach wie vor sehr russlandfreundlich sind, was mit viel Misstrauen beobachtet wird. Bei einigen Durchsuchungen (im November durchsuchten der Geheimdienst SBU und die Polizei das Kiewer Höhlenkloster, im Dezember fünf Kloster und drei Kirchen der UOK in verschiedenen Gebieten, Anm. d. Red.) galten russische Schriften oder russisches Geld als Beweis für Kollaboration, das halte ich für fragwürdig. Aber es gibt auch konkrete Fälle, wo Priester Stellungen der ukrainischen Armee verraten haben, wo die russischen Streitkräfte durch Lebensmittel, Ausstattung, auch Segen für den Kampf unterstützt werden; auch russische Kriegspropaganda wird in den Kirchgemeinden verbreitet.

Mit welchen Maßnahmen reagierte der ukrainische Staat darauf?

Bisher wurden gegen 17 Personen Sanktionen verhängt, es laufen auch einige Strafverfahren, einigen Bischöfen, die eine doppelte Staatsbürgerschaft hatten, wurde die ukrainische entzogen. Es gibt außerdem schon länger Gesetzentwürfe, die die Tätigkeit der UOK einschränken sollen. Im Religionsgesetz gibt es einen Passus, der Religionsgemeinschaften mit administrativer Leitung in einem als Aggressor identifizierten Staat verpflichtet, dies im Namen deutlich zu machen – demnach müsste sich die UOK in »Russische Orthodoxe Kirche in der Ukraine« um­benennen. Kurz vor dem orthodoxen Weihnachtsfest Anfang Januar wurde der UOK die Nutzung von zwei der zehn Kirchen im Kiewer Höhlenkloster entzogen, dort hatte man angeblich besonders viel belastendes Material gefunden.

Manche, wie Ljudmyla Melnyk vom German-Ukrainian Researchers Network, argumentieren, die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung befürworte diese staatliche Politik.

Tatsächlich sieht die Mehrheit die UOK inzwischen sehr negativ. Das liegt zum einem natürlich an der langen Weigerung der UOK, sich deutlich von den prorussischen Stimmen in der eigenen Kirche zu distanzieren und die Trennung von Moskau klar zu vollziehen. Diese Kritik kommt auch von vielen Gläubigen der UOK selbst. Es wurde aber auch medial sehr stark gegen diese Kirche gehetzt. Dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung ein Verbot der UOK unterstützen würde, liegt vor allem an dieser aufgeheizten Stimmung, die auch nicht mehr zwischen Kollaborateuren und den Gläubigen der UOK unterscheidet.

Natürlich muss die politische Führung diese Stimmungen ernst nehmen, aber sie darf nicht ihre eigenen Gesetze außer Kraft setzen. Bisher war gerade die ukrainische Regierung sehr um Neutralität der Rechtsprechung bemüht, auch um der russischen Propaganda nicht zuzuarbeiten. Dieser Grat ist sehr schmal, aber wenn gesellschaftliche Mehrheiten über die Behandlung ganzer sozialer Gruppen entscheiden dürften, wäre das sicher keine gute Entwicklung.

Regina Elsner studierte katholische Theologie und ­arbeitete bis 2010 als Projektkoordinatorin für die Caritas Russland in Sankt Petersburg. Sie schloss 2016 ihre Promotion über die historischen und theologischen Aspekte der Auseinandersetzung der russisch-ortho­doxen Kirche mit der Moderne ab. Seit 2017 ist sie ­wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Ost­europa- und internationale Studien in Berlin.

Die orthodoxen Kirchen sind meist Nationalkirchen, ­Änderungen der staatlichen Grenzen werden Fragen nach der Loyalität zur weltlichen Macht auf. Daher führen Konflikte zwischen orthodox geprägten Staaten oft zu kircheninternen Spannungen und Spaltungen, so auch seit dem Zerfall der Sowjetunion in deren Nach­folgestaaten.