Der Abschlussbericht über die Documenta 15 liegt vor

Abrechnung mit der Echokammer

Das Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung der jüngsten Documenta hat in seinem Abschlussbericht den Antisemitismus auf der Kunstschau präzise analysiert. Doch ob der Bericht tatsächlich Konsequenzen nach sich ziehen wird, ist fraglich.

Im Juli des vergangenen Jahres beauftragten die Gesellschafter der Kunstschau Documenta sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie sollten die antisemitischen Inhalte der Ausstellung aufarbeiten, die von Juni bis September in Kassel zu sehen gewesen war. Bereits in einer Presseerklärung vom vergangenen September erklärte das Gremium unter der Leitung der Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff, dass nicht nur die präsentierten antisemitischen Werke ein Problem darstellten, sondern auch »ein kuratorisches und organisationsstrukturelles Umfeld, das eine antizionistische, antisemitische und israelfeind­liche Stimmung zugelassen hat«. Bereits das war eine unmissverständliche Kritik. Der nun veröffentlichte Abschlussbericht der Experten wird noch deutlicher.

Auf 133 lesenswerten Seiten analysieren die Autorinnen und Autoren die antisemitischen Ausstellungsstücke, die Reaktion auf die Kritik daran, das kuratorische Konzept der Documenta und gehen der Frage der konkreten Verantwortung nach. Sie legen dar, wie die visuellen Codes des Antisemitismus funktionieren, und zeigen jüdische Per­spektiven auf. Ihr Urteil ist so klar wie niederschmetternd: »Alle der zahlreichen Werke, die sich mit dem Nahen Osten beschäftigen, waren einseitig anti­israelisch; demnach wurden alle jüdischen Figuren als Missetäter und nie als Opfer von Diskriminierung, Gewalt und Terror dargestellt.« Die Documenta habe »als Echokammer für israelbezogenen Antisemitismus und manchmal auch für Antisemitismus pur« fungiert. Die antisemitischen Aussagen der einzelnen Werke seien dabei »in ihrer ideologischen Gesamttendenz durch den Ausstellungskontext verstärkt« worden.

Detailliert und schlüssig wird im Bericht analysiert, was an den kritisierten Werken antisemitisch ist, etwa im riesigen Triptychon der indonesischen Künstlergruppe Taring Padi mit dem Titel »People’s Justice«. Zu den Figuren, die dort abgebildet sind, gehören ein jüdischer Mann mit Fangzähnen und SS-Runen auf dem Hut sowie ein als Schwein dargestellter Mossad-Agent. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zeichnen – auch anhand von Bildbeispielen – nach, woher diese antisemitische Ikonographie kommt, in der Juden als Nazis und Schweine dargestellt werden. Ihren Ursprung habe sie, vor allem nach dem Sechstagekrieg, in der Sowjetunion, sie habe sich dann aber auch in »anderen Ostblockländern sowie in sowjetisch inspirierten, linken Bewegungen und in arabischen und anderen muslimischen Ländern« verbreitet.

Im Bericht findet sich zudem ein historischer Exkurs zu den israelisch-indonesischen Beziehungen, aus dem hervorgeht, dass die Rolle des Mossad bei der Unterstützung des Diktators Suharto erheblich kleiner war, als Taring Padi es in ihrem Bild und später in seiner Erklärung zur »Kontextualisierung« dargestellt haben – und vor allem ein Vielfaches kleiner als die Rolle anderer Staaten. Diese Überbetonung Israels, urteilt das fachwissenschaftliche Gremium, falle »in ein altbekanntes antisemitisches Muster: nämlich den jüdischen Anteil an der Förderung der politischen und wirtschaftlichen Übel der Welt erheblich zu übertreiben«.

Das Team um Nicole Deitelhoff hebt überdies hervor, welche Folgen der Antisemitismus auf der Documenta gezeitigt hat: »Die zögerliche Reaktion der Documenta auf Fälle von Antisemitismus war für viele jüdische Bürger*in­nen und Organisationen verstörend. Antisemitische Vorfälle sind für Jüdinnen und Juden kein rein diskursives Phänomen, sondern sie bedrohen ihre gesellschaftliche Teilhabe, ihre Sicherheit und ihre Zukunft in Deutschland als Land der Shoah.« Die Kritik des Gremiums richtet sich vor allem gegen den Interimsgeschäftsführer der Documenta, Alexander Farenholtz, dessen »selbst­auferlegte Sprachlosigkeit« trotz eindeutig antisemitischer Werke die Autorinnen und Autoren scharf rügen. Aber auch die Kuratoren des indonesischen Kollektivs Ruangrupa werden dafür kritisiert, jede Kritik am Antisemitismus auf der Documenta pauschal mit Rassismusvorwürfen begegnet zu sein und kein Interesse an einer inhaltlichen Auseinandersetzung gehabt zu haben.

In seinem Bericht schlägt das Wissenschaftsgremium sechs Maßnahmen für die zukünftige Organisationsstruktur der Documenta vor. Eine davon lautet, dass die Findungskommission, die mit der Auswahl der Kuratoren ­beauftragt ist, künftig »für jede Documenta jeweils neu aus Persönlichkeiten zusammengestellt werden soll, die bisher nicht für die Documenta gGmbH tätig waren«. Dieser Rat ist offenbar nicht beherzigt worden. In der Findungskommission für die Documenta 16 finden sich ausschließlich frühere künstlerische Leiter der Kunstschau. Ruangrupa war angefragt worden, lehnte jedoch ab. Mit dabei ist hingegen Adam Szymczyk, der Kurator der Documenta 14. Er hat unter anderem einen Aufruf aus dem Milieu der BDS-Bewegung unterschrieben, in dem Israel als »Kolonialmacht« und »Apartheidstaat« bezeichnet wird.

Der Abschlussbericht des fachwissenschaftlichen Gremiums um Nicole Deitelhoff zeigt in aller Deutlichkeit auf, welch antisemitisches Desaster die jüngste Documenta war, wer das zu verantworten hatte und was sich ändern müsste. Doch es ist höchst fraglich, ob die Verantwortlichen und die Geldgeber von Stadt, Land und Bund tatsächlich die erforderlichen Konsequenzen aus dem Bericht ziehen, damit die nächste Documenta nicht wieder eine »Antisemita« wird. Politische oder finanzielle Folgen aus dem Bericht für die Gestaltung künftiger Ausstellungen zeichnen sich bislang jedenfalls nicht ab.