Die britischen Tabloids waren für die Boulevardpresse weltweit stilbildend

Boulevard auf Britisch

Die britischen Tabloids prägten den Stil der Boulevardpresse weltweit und waren auch Vorbild der »Bild«-Zeitung. Die erfolgreichste von ihnen, die »Sun«, unterstützte in den sechziger Jahren noch die Labour-Partei und propagierte später den EU-Austritt.

Axel Springer habe die Bild-Zeitung 1952 nach dem Vorbild der britischen Boulevardpresse gegründet, heißt es oft. Was dabei aber oft vergessen wird: Die red top tabloids mit den reißerischen Schlagzeilen und der in einfacher Sprache gehaltenen sensationsheischenden Berichterstattung sind nie ausschließlich Sprachrohre konser­vativer Politik gewesen. Das gilt auch für die Tageszeitung The Sun, die heutzutage als das typische Beispiel für Boulevardpresse gilt, aber erst zwölf Jahre nach der Bild-Zeitung gegründet wurde. Die Sun war zunächst Labour zugeneigt und wurde erst fünf Jahre nach ihrer Gründung mit der Übernahme der unter Leserschwund leidenden Zeitung durch Rupert Murdoch 1969 zum Tabloid, also einer Boulevardzeitung im Heftformat. Murdoch begann damals erst, sein weltweites Medienimperium aufzubauen, das heute den Namen News Corporation trägt und zu dem neben Zeitungen wie dem Wall Street Journal auch der Fernsehsender Fox News gehört.

Auch in ihren ersten Murdoch-Jahren tendierte die Sun noch zur Labour-Partei. Das änderte sich ab 1974, als sie im Februar zur Wahl der Konservativen unter dem damaligen Premierminister Edward Heath aufrief. Gleichwohl hieß es in einem Kommentar acht Monate später, dass »alle unsere Instinkte links statt rechts sind«, und entsprechend werde man »jeden fähigen Politiker, der sich selbst als Sozialdemokrat bezeichnet, wählen«. Diese Prägung lag wohl nicht zuletzt an Larry (eigentlich Albert) Lamb, den 1969 Rupert Murdoch persönlich als Chefredakteur verpflichtet hatte. Der 1929 geborene Lamb war in einem Arbeiterhaushalt in der Bergbauortschaft Fitzwilliam in Yorkshire aufgewachsen und galt als akribischer Journalist.

Die neue Sun sollte den ­Lesern und Leserinnen das bieten, für das sie sich inter­essierten. Das waren Lambs Auffassung zufolge in erster ­Linie Fernsehen, Fußball und Sex. Dem Zeitgeist der späten Sechziger entsprechend veröffentlichte die Sun Sex-Ratgeber und erfand die Rubrik »Page 3 Girls«, also Bilder leichtbekleideter junger Frauen versehen mit anzüglichen Textchen. Lamb bestand allerdings auch darauf, dass die Chefin des Frauenressorts der Sun, Joyce Hopkirk (die später maßgeblich an der Entwicklung der Zeitschrift Cosmopolitan beteiligt war), ein Vetorecht hatte und eigenständig Bilder ablehnen konnte. Später bedauerte er, die Seite-drei-Bilder eingeführt zu haben, sagte aber gleich­zeitig, dass er damit anderen Zeitungen nur zuvor­gekommen sei. Zuvor habe schließlich bereits die damals als hochseriös und konservativ geltende Times eine Düngemittelanzeige gedruckt, in der eine nackte Frau zu sehen gewesen sei.

Klatsch und Tratsch gehörten auch von Anfang an zum Kerngeschäft der Sun. In einer der ersten Tabloid-Ausgaben präsentierte sie auf der Titelseite Lady Leonora Grosvenor, 1967 »Debütantin des Jahres«. Sie sei, so lautete die Schlagzeile, gerüchteweise die Freundin von Prinz Charles. Lady Grosvenor heiratete 1975 Patrick Anson, 5th Earl of Lichfield, der einige Jahre später die offiziellen Hochzeitsbilder von Charles und Diana machte.

Die Schlagzeilen der Sun sind berüchtigt. Während des Falkland-Kriegs steigerte sie mit enthusiastischer ­Unterstützung des Kriegs ihre Auflage. Nachdem ein argentinisches Schlachtschiff von einem britischen U-Boot versenkt worden war, wobei Hunderte Soldaten starben, titelte sie in großen Lettern: »Gotcha« (erwischt). 2013 forderte sie vor einem EU-Gipfeltreffen von David Cameron, eine »rote Immigrationslinie« zu ziehen, und illus­trierte diese Forderung mit einer europäischen Landkarte, auf der ein breiter roter Strich Großbritannien von Europa trennte. Die Zeitung warb für den EU-Austritt und handelte sich mit der Schlagzeile »Queen unterstützt Brexit« Ärger ein. Der Buckingham Palace beschwerte sich umgehend, die Sun blieb jedoch bei ihrer Darstellung, obwohl der von ihr als Kronzeuge für die Behauptung zitierte damalige stellvertretende Premierminister Nick Clegg den Bericht »Unsinn« nannte.

Fehler einzugestehen, fällt dem Boulevard traditionell schwer. Als eines der größten Desaster in der Geschichte der Sun wird in Großbritannien die Berichterstattung über die Stadionkatastrophe von Hillsborough gesehen. Am 15. April 1989 waren bei einem Spiel zwischen Liverpool und Nottingham Forest zu einer Massenpanik gekommen; 97 Fans starben, mehrere Hundert wurden verletzt. Vier Tage später machte die Sun mit der Schlagzeile »Die Wahrheit« auf und stellte mehrere unwahre Behauptungen auf: »Einige Fans beraubten die Opfer« hieß es auf der Titelseite, »einige Fans urinierten auf die tapferen Cops« sowie »einige Fans verprügelten einen Polizisten, der Mund-zu-Mund-Beatmung machte«.

In Liverpool und Umgebung begann daraufhin eine regelrechte Sun-Boykottwelle, zu der lokale Kam­pagnen mit Slogans wie »Total eclipse of the Sun« (totale Sonnenfinsternis) beitrugen. Der Journalist Chris Horrie berechnete im Jahr 2014, dass dieser bis heute anhaltende Boykott die Zeitung rund 15 Millionen Pfund monatlich gekostet habe. Außerdem gab es einen interessanten Nebeneffekt: Eine Studie der American Political Science Review kam 2021 zu dem Ergebnis, dass der Boykott in der Region zu deutlich geringeren Vorbehalten gegen die Europäische Union geführt habe als in vergleichbaren Gebieten des Landes.

23 Jahre später entschuldigte sich die Sun für die damalige Lügengeschichte: »Die wirkliche Wahrheit« lautete die Titelzeile im September 2012, »es tut uns sehr leid« stand darunter. Gleichzeitig schaffte die Sun es jedoch, auch auf dieser Seite eins noch die Verantwortung für die von ihr verbreiteten fake news von sich zu weisen: Die Polizei habe damals mit erlogenen Geschichten über Liverpool-Fans versucht, von der eigenen Schuld abzulenken. Kein Wort darüber, dass andere Tabloids besser recherchiert und schon damals Zweifel an der polizeilichen Darstellung geäußert hatten. Die Boykotteure ­beeindruckte die Entschuldigung entsprechend ­wenig.

Hat der britische Boulevard eine Zukunft? Im Gegensatz zu Bild sind die Online-Ausgaben der beiden großen britischen Tabloids, The Sun und Daily Mail, komplett kostenlos – und bieten auch noch deutlich mehr Lesestoff und deutlich längere Artikel. Wie die Bild-Zeitung hat die Sun seit vielen Jahren mit einem stetigen Auflagenrückgang zu kämpfen. 2020, als sie zuletzt Daten öffentlich machte, wurden täglich nur noch 1,2 Millionen Exemplare verkauft. Die finanziellen Schwierigkeiten der Sun sind jedoch auch selbstverschuldet: Wie der Guardian berichtet, haben die Gerichtsprozesse infolge der Enthüllung, dass Reporter der früheren Schwesterzeitung der Sun, der bis 2011 sonntags erschienenen News of the World, systematisch Mobiltelefone von Politikern, Stars und Verbrechens­opfern gehackt hatten, Rupert Murdochs Konzern in den vergangenen Jahren Hunderte Millionen Pfund gekostet.