Wie die vermeintliche Enthüllung Seymour Hershs antiamerikanischer Propaganda dient

Nur 48 Stunden

Eine vermeintliche Enthüllung des ehemaligen Investigativjournalisten Seymour Hersh wird genutzt, um die USA als Kriegstreiber im Ukraine-Konflikt darzustellen.
Kommentar Von

Sich selbst als »den weltweit führenden Investigativjournalisten« zu präsentieren, zeugt nicht von Bescheidenheit, auch wenn man 1970 den Pulitzer-Preis gewonnen und jahrzehntelang einen exzellenten Ruf genossen hat. Aber da bei der Online-Plattform Substack alle Autor:innen Einnahmen nur erzielen, wenn sie für ihre Angebote Abonnenten finden, wäre dezentere Selbstbewerbung wohl unangebracht – erst recht, wenn man sich seit etwa zehn Jahren von seriöser Recherche verabschiedet hat.

Seymour Hersh hat diverse Kriegsverbrechen und Skandale aufgedeckt, doch 2013 bestritt er den – mittlerweile eindeutig erwiesenen – Giftgaseinsatz durch das syrische Regime und 2018 nahm er Russland gegen den Vorwurf in Schutz, den Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter vergiftet zu haben. Seit Jahren kann er seine Artikel nicht mehr in etablierten Medien unterbringen. Am Mittwoch voriger Woche veröffentlichte er auf Substack den Artikel »How America Took Out the Nord Stream Pipeline«, der schildert, wie die USA in Zusammenarbeit mit Norwegen die russischen Gaspipelines in der Ostsee gesprengt haben sollen. Er beruft sich dabei auf eine einzige anonyme Quelle – die praktischerweise aber über operative Details ebenso gut informiert sein will wie über Beratungen im Weißen Haus.

Als Hersh noch seriös arbeitete, verfügte er über ein Netz von Infor­mant:innen, deren Aussagen er abwägte und vorsichtig bewertete. In seinem 2006 im Magazin New Yorker veröffentlichten Artikel »The Iran Plans« etwa sprach er nicht von einem unmittelbar bevorstehenden US-Angriff, sondern von militärischen Optionen, die Präsident Georg W. Bush vorgelegt worden seien. Viele Schlagzeilen mit Bezug auf seine Recherchen fielen dann dramatischer aus, der Krieg gegen den Iran fand bekanntlich bis heute nicht statt.

Auch bei seriöser Arbeit besteht immer die Gefahr, manipuliert, also zu einem bestimmten Zweck mit gezielten Indiskretionen versorgt zu werden. So war es damals durchaus im Interesse Bushs, kriegsbereit zu erscheinen, da er hoffen mochte, dies werde das iranische Regime kompromissbereiter stimmen. Die Aussagen einer einzigen Quelle können daher ohne weitere Belege keine Tatsachenbehauptungen rechtfertigen. Zudem weist der von Hershs Informanten geschilderte Tathergang einige offensichtliche Ungereimtheiten auf.

Das zweifellos von Russland aufmerksam beobachtete westliche Marinemanöver Baltops 2022 exakt an dessen Ende so zu dirigieren, dass ein norwegisches Minensuchboot lange genug über den Pipelines dümpelt, um es den Tauchern zu ermöglichen, die Sprengsätze in etwa 70 Meter Tiefe zu legen, wäre wohl möglich, aber nicht sehr konspirativ. Erst kurz vor Beginn der Operation soll im Weißen Haus die Besorgnis aufgekommen sein, die geplante Zündung 48 Stunden nach Ende des Manövers könne verdächtig wirken – man fragt sich, wer das Genie war, dem dies nach monatelangen Beratungen gerade noch rechtzeitig in den Sinn kam. Unglaubhaft ist, dass statt Zeitzündern dann eine Sonarboje – über deren späteren Verbleib Hersh nicht informiert – die Sprengung ausgelöst haben soll. Auch das wäre kein sonderlich konspiratives Vorgehen gewesen, und man darf dem US-Militär durchaus zutrauen, über Zeitzünder zu verfügen, die eine Sprengung Monate später ermöglichen. Unklar bleibt auch, warum die Sprengung nach der Schließung der Pipelines durch Russland stattfand.

Dass die Geschichte dennoch so bereitwillig aufgenommen wird, liegt nicht daran, dass Hersh eine »Reporterlegende« (so das konservative Magazin Cicero) ist oder, wie Sahra Wagenknecht (Linkspartei) meint, »minutiös recherchiert hat« – er behauptet nicht einmal selbst, die Angaben des Informanten überprüft zu haben. Vielmehr ist seine Schuldzuweisung in Deutschland nützlich als scheinbarer Beweis dafür, dass der Ukraine-Krieg »nicht unser Krieg« ist, wie man nicht nur unter AfD-Anhänger:innen gerne sagt, sondern einer der USA, die »uns« mit allerlei schmutzigen Tricks immer weiter hineinziehen wollen.

Kurz zuvor waren bereits einige Aussagen Naftali Bennetts in einem knapp fünfstündigen Interview entsprechend gedeutet worden. Im März vorigen Jahres hatte der damalige israelische Ministerpräsident zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln versucht. Kolportiert wird nun, »dass ein Waffenstillstand bereits im letzten Frühjahr fast fertig ausgehandelt war, nur die US- und die britische Regierung seien damals dagegen gewesen«, so Amira Mohamed Ali, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag.

Für eine Vereinbarung habe seiner damaligen Einschätzung nach eine 50prozentige Wahrscheinlichkeit bestanden, während die US-Regierung pessimistischer geurteilt habe, stellte Bennett klar. Die Gespräche seien nach dem Bekanntwerden des russischen Massakers in Butscha abgebrochen worden.

Die russische Propaganda bedient sich weltweit der ein wenig zurechtgedrehten Aussagen Bennetts und der vermeintlichen Enthüllung Hershs. Auch in anderen Ländern springen die üblichen Verdächtigen darauf an, so Tucker Carlson vom rechten US-Fernsehsender Fox News mit einem sehr wohlwollenden Beitrag zu Hershs Artikel. Doch in Deutschland scheint die Wirkung besonders groß zu sein – vermutlich weil man sich hierzulande traditionell als Opfer der USA wähnt. Zudem scheint man stärker das Bedürfnis zu empfinden, auch dann als herzensguter Mensch zu gelten, wenn man von anderen die Unterwerfung unter ein verbrecherisches Regime fordert. Folglich dürfen Ukrainer:innen als unter dem Krieg leidende, nicht aber als eigenständig denkende und handelnde Menschen erscheinen, die sich mit einer für das Durchhalten gegen einen überlegenen Feind hinreichenden Mehrheit selbst dafür entschieden haben, die russische Aggression zurückzuschlagen.