Die besetzten ukrainischen Gebiete sind ein Experimentierfeld für die russische Führung

Unter russischer Besatzung

Russlands Kriegswirtschaft erzielt in den besetzten ukrainischen Gebieten Gewinne, die unter Kreml-Getreuen aufgeteilt werden. Auch ausländische Unternehmen sind an diesem Geschäft beteiligt. Außerdem kann die russische Führung im Rahmen des Kriegsnot­stands Repressionsmethoden erproben.

Pelzmäntel sind der Inbegriff eines luxuriösen Kleidungsstücks. Ihre ursprüngliche Funktion, hervorragend zu wärmen, verlor im gleichen Maß an Bedeutung, in dem ihr Wert als Statussymbol stieg. Das mögen sich auch die Sowjetfunktionäre gedacht haben, die den späteren isländischen Literatur­nobelpreisträger Halldór Laxness für die ersten russischen Ausgaben seiner Werke mit einem Pelzmantel entlohnten anstelle harter Währung. Erst nach der Abreise fiel Laxness auf, dass der Mantel wegen starken Mottenbefalls keinen Rubel wert war.

Nicht viel besser erging es einem Dutzend Frauen im Donbass, die auf ­einem am 8. Februar veröffentlichten Video in schicken Pelzmänteln posierten – einer vermeintlichen Gabe aus der russischen Hauptstadt. »In diesem ­Moment spüre ich, dass wir eine Familie sind«, antwortet aus dem Off eine Männerstimme auf die vorgebrachten Dankesbekundungen. Die Aufnahme wirkt fast schon rührend, doch offenbart sich in diesem Fall der Zynismus der russischen Besatzung besonders. Einige der Frauen sind russische Kriegswitwen, andere ließen sich zur Teilnahme an der Inszenierung mit dem Versprechen überreden, einen Pelzmantel als Honorar zu erhalten. Der Online-Zeitung Nowaja Gaseta Europa berichtete eine Frau, manchen Teilnehmerinnen seien die Pelzmäntel entgegen der Versprechungen, sie behalten zu dürfen, sogar wieder abgenommen worden. Was als großzügige Spende aus der Moskauer Boutique ­Sobolluxury von dem Unternehmer Alek­sandr Borjak ­deklariert war, könnte zudem russische Kriegsbeute aus Cherson sein. Eine Ukrainerin behauptete in den sozialen Medien, die Mäntel anhand der Etiketten als aus ihrem Geschäft stammend erkannt zu haben.

Den Zuschlag für die Mariupoler Restbestände der Ketten Obi und Starbucks erhielt der erst 25 Jahre alte Walid Kortschagin, der dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow nahesteht.

Russland legitimiert sein militärisches Vorgehen immer wieder mit der Behauptung, humanitäre Hilfe zu leisten und die Bevölkerung im Süden und Südosten der Ukraine vom nazistischen Joch des Kiewer Regimes zu befreien. Materiellen Profit schlagen ­daraus Personen wie Miroslawa Reginskaja, die Ehefrau von Igor Girkin, der in der Vergangenheit als russischer Einflussagenten der GRU, des russischen Militärnachrichtendiensts, im Donbass aktiv war. Bekannt wurde er unter dem Namen Igor Strelkow und galt anfangs als das Gesicht der Separatisten. Er und sein Mitstreiter Jewgenij Skripnik dafür bekannt, dass sie nur einen Anteil der humanitären Hilfs­güter weitergeben und den Rest selbst einstreichen. Skripniks Stab koordiniert derweil unverdrossen öffentlichkeitswirksame Aktivitäten, hauptsächlich indem er Spendensammlungen zugunsten von Witwen und Mütter gefallener Soldaten initiiert. Die Begünstigen erscheinen dann in Videos wie dem erwähnten oder werden mit Geldscheinen in den Händen fotografiert. Wer das Geld wirklich behalten kann, darf sich glücklich schätzen.

An der auf die von Russland besetzten Gebiete ausgerichteten Kriegsökonomie verdienen auch andere. Eine gemein­same Recherche von Le Monde, The Insider und Bellingcat offenbarte, wie die Supermarktkette Auchan, die ihren Hauptsitz in Frankreich hat, das russische Militär versorgte. Russische Dependancen von Auchan lieferten bereits im März vergangenen Jahres als humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung deklarierte Waren an Militärangehörige. Die Lieferungen wurden über zehn Kleinfirmen abgewickelt, von denen zwei nach Angaben des investigativen russischen Nachrichtenportals The Insider inzwischen ihre Beteiligung zugegeben haben. In großem Stil dürften zahlreiche russische Geschäftsleute so an Wiederaufbauprogrammen für zerbombte Städte wie Mariupol verdienen.

Den Zuschlag für die dortigen Rest­bestände der aus Russland abgezogenen Ketten Obi und Starbucks erhielt der erst 25 Jahre alte Walid Kortschagin, der über seine Familie dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow nahesteht. Außerdem hält er inzwischen einen 50prozentigen Anteil an den Iljitsch-Eisen- und Stahlwerken in Mariupol. Die vormaligen Besitzer haben wegen der russischen Besatzung den Zugriff auf ihr Eigentum verloren. Es liegt die Vermutung nahe, dass sein Familienclan auf diese Weise für Verdienste bei der Einnahme der Stadt durch Russland honoriert wurde.
Auch die Besatzung der Krim kann als eine Art Raubzug charakterisiert werden, wenn dieser sich auch noch unter weitaus zivileren Bedingungen vollzog als im zerstörten Mariupol. Doch am Ergebnis ändert das nichts. Berühmt aufgrund der spektakulären Natur und des südlich-maritimen Klimas, lockte die Halbinsel Touristen an und somit auch jene, die an ihnen verdienen wollten. Sämtliche Sanatorien und weitere lukrative Objekte wechselten innerhalb kürzester Zeit ihre Eigentümer und gingen in russischen Besitz über.

Ohne die stellenweise äußerst brutale Ausübung der Besatzungsgewalt wäre dieser Prozess undenkbar gewesen. Am härtesten traf es die angestammte Minderheit der Krimtataren, deren Angehörige dutzendweise zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden. Mit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine begann eine erneute Repressionswelle. Nach Angaben der 2015 gegründeten krimtatarischen Nichtregierungsorganisation »Ressourcen-Zentrum«, die sich für die Belange der Krimtataren einsetzt, fanden zahlreiche Hausdurchsuchungen und Verhöre statt. Allein zwischen Februar bis September 2022 wurden 138 Menschen verhaftet, 104 davon sind Krimtataren, die sich gegen die russische Besatzung und den Angriffskrieg ausgesprochen hatten. Auch in Cherson leben viele Krimtataren; durch die Besetzung gerieten auch sie in das Einflussgebiet russischer Häscher. Nach Razzien im Juni verschwanden von dort mehrere Frauen und Männer, die nach mehreren in einem Keller verbrachten Wochen später in russischen Untersuchungsgefängnissen wieder auftauchten.

Das Wort podwal (Keller) wurde im Donbass bereits 2014 zum angsteinflößenden Schlagwort der neuen Herrschaftsordnung. Während der beiden Tschetschenien-Kriege wurden Menschen oftmals in Gruben gequält; Folter wurde nun Teil des Alltagsgeschäfts der neu aufgestiegenen Führungsschicht der sogenannten Volksrepubliken in Donezk und Luhansk, die sie in den Kellern vollzog beziehungsweise vollziehen ließ. Doch auch die Anführer der mit russischer Hilfe inszenierten Aufstände gegen die ukrainische Zentralregierung in Kiew setzten sich, wie sich bald zeigen sollte, einem hohen ­Risiko aus. Einer nach dem anderen verlor sein Leben – so der Warlord Arsen Pawlow, mit dem Deckname Motorola, der im Herbst 2016 im Aufzug seines Wohnhauses in die Luft gesprengt wurde, und zwei Jahre später das Oberhaupt der Donezker Volksrepublik Aleksandr Sachartschenko, der in einem Restaurant bei einer Explosion starb.

Als im vergangenen November der stellvertretende Gouverneur im von Russland besetzten Teil der Oblast Cherson, Kyrill Stremoussow, bei einem Autounfall starb, gab es so viele Un­gereimtheiten, dass ein gezielter Anschlag gegen ihn als wahrscheinlich gilt. Nur darüber, wer dahintersteckt – Russland oder die Ukraine –, gehen die Ansichten auseinander: Stremoussow leistete sich offene Kritik am russischen Verteidigungsministerium, als Kollaborateur war er gleichzeitig der ukrainischen Seite verhasst.

In den vier ukrainischen Regionen, die Russland im Herbst nach Scheinreferenden annektiert hat, Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja, gilt in den von Russland besetzten Teilen seit Oktober das Kriegsrecht. Das ­ermöglicht zahlreiche Sondermaßnahmen, die zu einer Entrechtung der Bevölkerung führen und ihre Bewegungsfreiheit enorm einschränken: Ausweiskontrollen stehen auf der Tagesordnung, Telefone werden ausgelesen, Taschen durchsucht. Zudem ist es praktisch unmöglich für beispielsweise die Presse, Vorgänge vor Ort zu verifizieren. Aus den Gebieten dringen lediglich über den russischen Propagandaapparat transportierte Nachrichten oder über private Kanäle verbreitete Informationen nach außen. Die russische Besatzungsmacht nutzt unter anderem wiederbelebte Druckerzeugnisse wie die in Cherson erscheinende Naddneprjanskaja Prawda, die als einstiges Organ der Kommunistischen Partei der Ukraine altvertraut ist.

Unzweifelhaft kam es zu etlichen Widerstandsaktionen, wie beispielsweise Arbeitsniederlegungen in Betrieben im Gebiet Saporischschja. An Schulen weigerten sich Lehrkräfte, nach neuen Lehrplänen zu unterrichten, weswegen zeitweise Lehrpersonal aus Russland angeworben wurde. Von ukrainischer Seite gingen Aufrufe aus, sich der Zusammenarbeit mit den Besatzungsverwaltungen grundsätzlich zu entziehen und selbst Passdaten nicht mitzuteilen, die für den Bezug sozialer Leistungen notwendig sind. Wer anderer Einkommensquellen beraubt war, dem blieb aber oft keine Wahl. Russische Medien gaben jede Kooperation als Ausdruck prorussischer Gesinnung oder von Zugehörigkeitsgefühl zum großen Bruder im Osten aus. Doch basiert das Verhalten der lokalen Bevölkerung oftmals weniger auf politischen oder ethnischen Überzeugungen als schlichtweg auf Notwendigkeiten des Überlebens unter extremen Bedingungen. Aufgrund der engen, wenn auch jahrelang unterbrochenen Beziehungen zwischen der Krim und dem Gebiet Cherson ist es nicht verwunderlich, dass sich ein Teil der dortigen Bevölkerung beim Rückzug der russischen Truppen für eine Übersiedlung auf die Krim entschieden hat. Trotzdem wäre es deplatziert, von einer freiwilligen Entscheidung zu sprechen.

Kürzlich berichtete Wiktor Medwed­tschuk, ein Vertrauter von Präsident Wladimir Putin und ehemaliger hochrangiger ukrainischer Politiker, davon, dass die ukrainische Regierung noch unter Präsident Petro Poroschenko, dem Amtsvorgänger Wolodymyr Selenskyjs, bereit gewesen sei, sich von den abtrünnigen Volksrepubliken im Donbass zu trennen. Putin aber habe abgelehnt. Donezk und Luhansk erfüllten auch ohne Annexion ihre politische Funktion für den Kreml. Doch damals wie heute gilt, dass der Donbass für die russische Führung als wichtiges Experimentierfeld dient. Da die Region vom Monitoring durch unabhängige Institutionen abgeschnitten ist, können dort Maßnahmen erprobt werden, die später in ganz Russland eingesetzt werden könnten. Dass die Donezker Regierung kürzlich den Suchdienst Google blockiert und Youtube stark verlangsamt hat, zeigt die zukünftig zu ­erwartende Richtung an.