Bret Easton Ellis schreibt in seinem neuen Roman »The Shards« über sein Alter Ego

Abgestumpftheit als Prinzip

Im neuen Roman von Bret Easton Ellis, der im Los Angeles der frühen achtziger Jahre spielt, wird das Leben einiger gutsituierter Teenager von einer Mordserie überschattet. Einer von ihnen ist eine Art Alter Ego des Autors.

Es gibt diese zwei Sätze, die in wenigen Worten den Kern des Romans »The Shards« beschreiben: »Wir waren Teenager, die sich mit Sex und Popmusik beschäftigten, mit Filmen und Prominenten, mit Lust und kurzlebigen Phänomenen und unserer eigenen neutralen Unschuld. Dass Ronald Reagan Präsident war, bedeutete uns so gut wie nichts – wie der angebliche Rassismus des Jonathan Clubs war es allenfalls eine Art Witz, absurd, nicht allzu ernst zu nehmen, weil es so abstrakt war, aber natürlich konnten wir es uns leisten, alles durch dieses Prisma der Abgestumpftheit zu betrachten.«

Die Abgestumpftheit, von der hier die Rede ist, diese dumpfe und gleichgültige Betrachtung der Welt, ist die Lebenseinstellung, der einzig vorhandene Wahrnehmungsmodus der Protagonist:innen in Bret Easton Ellis’ über 700 Seiten langem neuem Buch, einem grandios beklemmenden sowie hochspannenden Coming-of-Age-Thriller, der zugleich ein äußerst detailliertes Bild von Los Angeles Anfang der achtziger Jahre zeichnet. Genauer gesagt von einem bestimmten Milieu zu einer bestimmten Zeit in einer Stadt, die wie keine andere für die US-amerikanische Popkultur steht.

Ellis vermengt in »The Shards« geschickt Erinnerungen an die eigene Jugend mit seiner unbestechlichen Mixtur aus gewaltvollem Thriller und harscher Gesellschaftskritik, mit der er seit mehr als 30 Jahren zu den bekanntesten US-Autoren zählt.

Die Teenager, über die Ellis hier schreibt, sind die wohlstandsverwahrlosten Kinder einflussreicher Filmproduzenten, Anwälte oder Immobilienmakler. Sie leben in überbordenden Luxusvillen mit Swimmingpool und Hausangestellten in Beverly Hills oder am Mulholland Drive und fahren mit dem eigenen Mercedes-Cabrio, Porsche oder einer Corvette zur Schule. In ihren pastellfarbenen Polohemden mit aufgestelltem Kragen und einer eigenen Kreditkarte in den karierten Shorts gehören sie zu einer träumerischen und selbstvergessenen Oberschicht, die keinen Verzicht kennt.

Bret Easton Ellis vermengt hier geschickt Erinnerungen an die eigene Jugend mit seiner unbestechlichen Mixtur aus gewaltvollem Thriller und harscher Gesellschaftskritik, mit der er seit mehr als 30 Jahren zu den bekanntesten US-Autoren zählt und die ihm spätestens mit »American Psycho« (1991), seinem gnadenlosen Abgesang auf die egozentrische Yuppie-Kultur, zu einem Welterfolg verhalf. Der 17jährige Ich-Erzähler in »The Shards« heißt nicht nur Bret Ellis (seinen Beinamen Easton hat der Autor als einzige Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion weggelassen), er erzählt auch mit dem Blick aus der Gegenwart über seine Jugend, als er zum Schriftsteller wurde und gerade seinen Debütroman »Unter Null« schrieb. Tatsächlich wuchs der Autor Ellis im San Fer­nando Valley der Siebziger auf, jenem Teil von Los Angeles, in dem sich nun auch die Teenager seines Romans herumtreiben.

Und deren Leben gleicht einem nihilistischen Dauerrausch. Entweder befeuern sie ihre Ekstase mit einer Nase Koks nach der anderen oder sie betäuben jegliche Gefühlsregung ihres sinnentleerten Lebens mit reichlich Valium. Ihr Verhalten hat mit dem von Jugendlichen nicht mehr viel gemein, denn man wurde »mit der Woche, in der man in L.A. den Führerschein machte, zum Erwachsenen«. Mit dem eigenen Auto kam die Freiheit, »allein unterwegs zu sein, außerhalb der Reichweite irgendwelcher Erziehungsberechtigter«. In ihren schicken Nobelkarossen fahren sie nach Westwood ins legendäre Village Theatre, um sich Stanley Kubricks »The Shining« anzuschauen, lungern in der Westfield Century City Mall herum oder schleichen sich abends mit gefälschten Ausweisen in Hollywoods Nachtclubs, um mit Billy Idol oder Duran Duran abzuhängen. Sie sind rich kids, »die in Wahrheit nichts darüber wussten, wie die Welt wirklich funktionierte – über die Erfahrung verfügten wir wohl, nur ihre Bedeutung kannten wir nicht«.

Die berauschte Sorglosigkeit weicht nach einem unbeschwerten Sommer ihrem Gegenteil, als im September 1981, mit Beginn des Abschlussjahrs auf der exklusiven Privatschule, ein neuer Mitschüler auftaucht, dessen Erscheinen »mit einer Art Wahnsinn zusammenfiel, der sich langsam über die Stadt senkte. Es war, als würde sich eine andere Welt einstellen und die, die wir alle für so selbstverständlich gehalten hatten, in eine dunklere Farbe tauchen.« Immer wieder wird in Häuser eingebrochen, ohne dass etwas geklaut wird – nur die Möbel werden verrückt. Haustiere verschwinden auf mysteriöse Weise. Zudem streunen abgehalfterte Hippies der sonderbaren Sekte »Riders of the Afterlife« in der Stadt herum und belästigen Menschen. Und seit einigen Monaten treibt ein Serienmörder in Los Angeles sein Unwesen. Der wird »Trawler« genannt und hat bereits drei junge Frauen ermordet. Bret ist davon überzeugt, dass sein neuer, äußerst charismatischer und gutaussehender Klassenkamerad, von dem er sich magisch angezogen fühlt und der bald Teil seiner Clique wird, etwas mit den Morden zu tun hat.

Was den Roman so faszinierend macht, sind die seelischen Überlagerungen in Brets Kopf, die ihn allmählich in eine Sackgasse aus Paranoia und Isolation manövrieren. Denn er hat selbst etwas zu verbergen, nämlich seine Homosexualität, dass er auf einen seiner engsten Freunde steht, und dass er sich mit einem anderen dauerbekifften Jungen aus der Schule heimlich in dessen Poolhaus zum Sex trifft. Die Liebesbeziehung zu seiner Freundin, der Tochter eines einflussreichen Filmproduzenten, hält er nur zum Schein aufrecht. Er möchte zu den Schönen und Beliebten gehören und spielt das Schauspiel, den »Traum der Pantomime«, der die Gruppe mit dem Auftauchen des neuen Mitschülers immer weiter spaltet, eifrig mit. Offen schwul lebten 1981 nur die wenigsten.

Für die sexuelle Lust, die im Buch omnipräsent ist, findet Bret Easton Ellis, ähnlich wie in seinen früheren Romanen (»Glamorama« von 1999 oder »Imperial Bedrooms« von 2010), unerschrocken direkte Worte. In einem kürzlich erschienenen Interview mit Zeit Online sagte er dazu: »Beschreibe die Sache einfach! Und sei nicht ängstlich dabei, schreib einfach ›Vagina‹ und ›Penis‹, schreib, wer hart ist, wer kommt.« Auch auf seine Jugend kam er zu sprechen: »Ich erinnere mich noch genau, wie unersättlich geil ich war die ganze Zeit, als ich 15, 16, 17, 18 Jahre alt war. Es war fast unerträglich. Das musste nun Teil des Romans sein.«

Und wie schon in »American Psycho«, in dem die unerträgliche Ödnis aus Konsum, Sex und Statussymbolen den Investmentbanker Patrick Bateman zu einem bestialischen Mörder werden lässt, ist es auch hier die pure Gewalt, die sich in das oberflächliche, privilegierte und unschuldige Teenager-Leben hineinschleicht. Doch die Exzesse und der Wahnsinn der Stadt lassen die Menschen nur abgestumpft auf die Verbrechen reagieren: »Niemand erwähnte die toten Mädchen«, und nach dem Tod eines Mitschülers befand sich Bret »als Einziger in einem Zustand der Ungläubigkeit, den niemand ganz zu teilen schien – es mochte ›gruselig‹ sein, dass ein Schüler vermisst wurde, und ›irre‹, dass der Rucksack gefunden worden war, und der ›verschwundene Junge‹ sorgte für eine leichte Aufregung, aber nur eine Zeit lang, dann ging der Schulalltag wieder seinen normalen Gang«. Ellis baut im Verlauf des Romans eine ungeheure Spannung auf, die einen immer weiter in die verstörende Geschichte hineinzieht, bis sich die Gewalt wie in einem Splatter-Film erbarmungslos entlädt. Im Rausch aus Valium und unterdrückter Angst weiß Bret, der Ich-Erzähler, irgendwann selbst nicht mehr zu unterscheiden zwischen Realität und der Paranoia, in die er sich immer weiter hineingesteigert hat.

Das Bild, das Bret Easton Ellis von Los Angeles und auch von den USA insgesamt zeichnet, ist das des »Empire«, wie er immer wieder schreibt, als die US-amerikanische Gesellschaft in den Wohlstandsjahren nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den Massenmedien einen eigenen Mythos kreierte, der die Menschen in Oberflächlichkeit und Passivität versinken ließ. In »The Shards« reflektiert Bret über sich selbst: »Ein siebzehnjähriger Junge, der in Privatschuluniform und mit einer Wayfarer auf der Nase in einem Mercedes-Cabrio über den Mulholland Drive braust, ist ein Bild aus einem bestimmten Augenblick des Empire, das mir zuweilen etwas unangenehm war. Sah ich wie ein Arschloch aus?, fragte ich mich dann kurzzeitig, ehe ich dachte: Ich sehe so cool aus, dass es mir egal ist.«

Bereits in seinem vorigen Buch »Weiß« (2019), seiner umstrittenen und zuweilen polemischen Essaysammlung, in der Ellis über sein eigenes Leben und Schreiben reflektiert und sich dabei vor allem über die digitale Debattenkultur auslässt, wirft er seiner Generation vor, in den siebziger und achtziger Jahren in einer auf Materialismus basierenden Scheinwelt gelebt zu haben, auf die man nur mit »Ironie und negativer Grundhaltung« reagieren konnte, »die sowohl Abgestumpftheit als auch Attitüde war.« »The Shards« nun ist nicht nur ein herausragender Psychothriller, das Buch zeichnet auch in seiner raffinierten Mischung aus Fiktion und Autobiographie nach, wie Bret Easton Ellis diese Abgestumpftheit zum »ästhetischen Grundprinzip« erklärte und damit seine eigene literarische Stimme fand.

Bret Easton Ellis: The Shards. Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 736 Seiten, 28 Euro