Der russische Präsident Wladimir Putin erklärt den Krieg zum Dauerzustand

Putins neue Normalität

In seiner Rede zum ersten Jahrestag des Angriffs auf die Ukraine stimmte Präsident Wladimir Putin die russische Bevölkerung auf einen anhaltenden Krieg und eine dauerhafte Konfrontation mit dem Westen ein.

Vor einem Jahr gab Wladimir Putin zum Überfall auf die Ukraine vollmundige Erklärungen ab. Er forderte die ukrainischen Führung in der Manier des Anführers einer Straßengang im entsprechenden Jargon auf, sich geschlagen zu geben. Von der damaligen siegesgewissen Überheblichkeit war am 21. Februar in Putins Rede vor der Föderationsversammlung, also beiden Kammern des russischen Parlaments, nicht mehr viel zu bemerken. Die allenfalls für ein paar Tage geplante »Spezialoperation« zur Herbeiführung eines Regimewechsels in Kiew artete in einen perspektivlosen Abnutzungskrieg aus, was Putin gar nicht erst zu verbergen suchte. Nur bei seinen Ausführungen über die Politik des aggressiven Westens gegenüber Russland kam er richtig in Fahrt.

Weil sich der Präsident mit richtungsweisenden Aussagen zuletzt rar gemacht hatte, war sein Auftritt mit Spannung erwartet worden. Spekulationen über einschneidende Personalveränderungen in Spitzenpositionen und die Ausrufung des allgemeinen Ausnahmezustands waren zuvor laut geworden. Nichts davon ist eingetroffen. Viel Raum nahmen in Putins Rede eher zweitran­gige Themen wie die Reform des Hochschulwesens ein, der Krieg stand nicht so sehr im Zentrum wie erwartet. Putin versprach den Soldaten im Kampfeinsatz allerdings alle sechs Monate einen 14tägigen Erholungsurlaub, was nach Berechnungen des russischen Militärexperten Ian Matveev zur Folge hätte, dass dauerhaft etwa elf Prozent der an der Front eingesetzten Soldaten abwesend wären – seiner Meinung nach zu viel, als dass es sich die Armeeführung leisten könnte, solche Vorgaben zu verwirklichen.

Der russische Staatsapparat ist damit befasst, sich auf den per­manenten Krieg einzustellen. Am Tag nach Putins Rede beschloss die Duma ein Gesetz zur Regelung der Geheimhaltung statistischer Daten.

Manche der im Saal Anwesenden schienen dem Gesagten wenig Bedeutung beizumessen. Dem Vorsitzenden der rechtsextremen Liberaldemokratischen Partei, Leonid Sluzkij, fielen gar die Augen zu. Sein Kollege Gennadij Sjuganow, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei KPRF, machte sich hingegen eifrig Notizen. Als politischer Routinier dürfte er die Kunst, zwischen den Zeilen zu lesen, perfekt beherrschen; er hat zudem immer wieder seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis gestellt. Da gilt es, keinen noch so leisen Zwischenton zu verpassen. Schließlich musste die versammelte politische Führung auf Ansagen, die sie als eindeuti­ge Vorgaben interpretieren konnte, ebenso vergeblich warten wie die verunsicherte Gesamtbevölkerung auf überzeugende Erklärungen, weshalb sie die Gürtel enger schnallen soll – denn das passte nicht zu Putins optimistischen Lageeinschätzungen.

Nur in einem Punkt erlaubte sich der Herrscher im Kreml, seine Sichtweise in aller Deutlichkeit zu erläutern: Der Krieg sei kein vorübergehendes Ereignis, sondern Dauerzustand. Putin definiert kein Kriegsziel, er stellt keinen Endpunkt in Aussicht und schon gar keinen Sieg. Russland kämpft, um zu kämpfen, kompromisslos, und um keine Niederlage einzustecken. Eine dermaßen plakative Absage an einen wie auch immer gearteten Frieden, und sei es in ferner Zukunft, lässt ihm nur die Option offen, mit weiterer Eskalation zu drohen.

Dass Putin in seiner Rede ankündigte, den »New Start«-Vertrag auszusetzen, stellt insofern keine Überraschung dar. Dieser Schritt ist von hoher symbolischer Tragweite, handelt es sich doch um das letzte noch gültige Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen Russland und den USA. Konkret festgeschrieben ist in dem 1991 erstmals unterzeichneten, 2010 neu aufgelegten und 2021 verlängerten Vertrag eine Begrenzung des strategischen Nuklearwaffenarsenals beider Länder, das schrittweise auf 800 Trägersysteme sowie 1 550 Atomsprengköpfe reduziert worden war.

Welche praktischen Konsequenzen sich daraus ergeben, ist unklar. Inspektionsbesuche fanden nach 2019 ohnehin nicht mehr statt, es erfolgte nur noch der Austausch von Daten, die sich nur eingeschränkt verifizieren lassen. Eine Wiederaufnahme des Abkommens wäre theoretisch möglich, allerdings deutet wenig darauf hin, da Putin den Westen fast durchweg als existentielle Bedrohung darstellt. Eine komplette Vertragskündigung könnte als nächster Schritt folgen – dann wäre der Bruch mit internationalen Sicherheitsvereinbarungen komplett.

Putin ließ keine Zweifel daran, dass seine diesbezüglichen Überlegungen in engem Zusammenhang mit der sogenannten Spezialoperation in der Ukraine stehen. Im Unterschied zu früherer gab es allerdings keine, wenn auch ohnehin nur rhetorischen, Angebote an die Regierung der Ukraine. Das sollte denjenigen zu denken geben, die dem Aufruf von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer folgen und für sofortige Verhandlungen zwischen Wladimir Putin und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj plädieren.

Die EU und die USA hat Putin in Fragen von Partnerschaften offenbar abgeschrieben. Während die russische Einflussnahme auf dem afrikanischen Kontinent eher Beiwerk ist, rückt China in den Vordergrund diplomatischer Bemühungen. Zum Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine fand sich im Kreml Chinas ehemaliger Außenminister Wang Yi ein, der seit Jahresanfang als Direktor des Büros der Zentralen Kommission für auswärtige Angelegenheiten der ranghöchste Diplomat des Landes ist. Dass Russland und China im Laufe des vergangenen Jahres näher zusammengerückt und inzwischen sogar chinesische Waffenlieferungen an Russland im Gespräch sind, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Chinas Führung den andauernden Krieg in der Ukraine als Problem wahrnimmt, auch wenn sie ihn öffentlich nicht verurteilt.

Bei einer Abstimmung in der UN-Generalversammlung vergangene Woche, in der Russland zum Rückzug aus der Ukraine aufgefordert wurde, ent­hielt sich China. Zeitgleich präsentierte die chinesische Regierung einen Zwölfpunkteplan zur Beendigung des Kriegs, der so allgemein gehalten ist, dass er mehr einer allgemeinen Absichtserklärung gleichkommt, als konkrete Schri­tte vorzugeben. Zu Anfang steht die Forderung nach Souveränität aller Länder, hervorgehoben werden auch die Bedeutung der nuklearen Sicherheit und Garantien zur Sicherstellung von Getreidelieferungen aus der Ukraine. Wie und auf welcher Grundlage Friedensgespräche in Gang kommen sollen, bleibt indes offen.

Selenskyj wertete die Vorschläge als reines Gedankenspiel, trotzdem strebt er ein Treffen mit Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping an. Damit steht er nicht alleine. Der belarussische Präsident Aleksandr Lukaschenko reiste Ende Februar nach Peking, der französische Präsident Emmanuel Macron plant für Anfang April eine Visite.

Je länger die Kampfhandlungen auf ukrainischem Gebiet andauern, desto dringlicher sind Debatten über Auswege aus der verfahrenen Situation. Und sei es vorläufig nur, um die Gewöhnung an den Krieg als Normalzustand durch Gedankenexperimente zu verhindern. Doch auch sie müssten an realistische Einschätzungen anknüpfen, da sie andernfalls per se jede Chance verspielen, über eine reine Konfliktverwaltung hinaus Wirkungskraft zu erzielen.

Damit, sich auf den permanenten Krieg einzustellen, ist der russische Staatsapparat befasst. Am Tag nach Putins Rede beschloss die Duma ein Gesetz zur Regelung der Geheimhaltung statistischer Daten. Ab sofort darf die Regierung ganz legal den Zugang zu bislang stets veröffentlichten Daten beispielsweise zur allgemeinen Sterblichkeit oder Wirtschaftsleistung verbieten, die im Kontext des Kriegs kritische Schlussfolgerungen ermöglichen könnten.

Jewgenij Prigoschin, der Gründer und Finanzier der Söldnergruppe Wagner, trägt derweil einen erbitterten Konflikt mit dem russischen Verteidigungsministerium und dem Kommandeur der russischen Truppen in der Ukraine, Walerij Gerassimow, aus. Munition und logistische Unterstützung würden ihm verweigert mit dem Ziel, seine Privatarmee zu zerstören, so Prigoschin. Mit seinen in der vorigen Woche vorgebrachten heftigen Anschuldigungen konnte er zwar offenbar die eingeforderte Munitionslieferung durchsetzen, dafür scheint das russische Staatsfernsehen über die Machenschaften des ambitionierten Geschäftsmanns nur noch wohldosiert berichten zu dürfen.