Das Gerede von der »Lohn-Preis-Spirale« und der »sozialen Hängematte« ist Teil des Klassenkampfs von oben

Frohes Schaffen

Gegen das Plädoyer für »Mehr Bock auf Arbeit« des Arbeitgeber-Lobbyisten Steffen Kampeter verteidigte SPD-Minister Hubertus Heil die fleißig arbeitende Reinigungs­kraft. Breite Zustimmung findet dagegen, dass angeblich Sozialleistungsempfänger:innen das eigentliche Problem darstellten.

Eine der wichtigsten Aufgaben des Staats im Kapitalismus ist es, die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft so zu reglementieren, dass sie ununterbrochen fortschreiten kann. Mittels Arbeitsschutzmaßnahmen oder auch den Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie sorgt der »ideelle Gesamtkapitalist«, wie Friedrich Engels den Staat nannte, dafür, dass der nationale Vorrat an der Ware Arbeitskraft einigermaßen dem Bedarf entspricht.

Zudem muss gesichert werden, dass die Bevölkerung das nationale Herrschaftspersonal sowie einen objektiv inakzeptablen Gesellschaftsvertrag akzeptiert. Über die Tatsache, dass im Kapitalismus ausnahmslos alle um das Leben betrogen werden, können die Verheißung einer Rente im Alter und bis dahin jährlich vier bis sechs Wochen bezahlter Urlaub nur notdürftig hinwegtäuschen.

Trotzdem machen die Leute ganz überwiegend mit und formen sich ihr Bild vom Gegenüber anhand seines Arbeitsplatzes. Dass man die Frage »Was arbeitest du?« nicht nur von Nachbar:innen im Treppenhaus oder in der Blutsurenge der Familie gestellt bekommt, sondern auch auf linken Partys, ist Ausdruck der gesellschaftlichen Totalität des Arbeitsfetischs – selbst wenn sie im letzteren Fall eher darauf abzielt, ob man etwas »Sinnvolles« oder gar »Erfüllendes« tut, als darauf, ob man »gutes Geld« verdient.

Die Einführung der Fünftagewoche in der BRD, sicher auch vor dem Hintergrund des sozialpolitischen Systemwettbewerbs mit der DDR zu sehen, hat eine enorme Arbeitsverdichtung nach sich gezogen.

Obwohl die übergroße Mehrheit der Gesellschaft die Lohnarbeit an sich nicht hinterfragt, haben sich die Bedingungen, unter denen sie geleistet wird, im Rahmen der sogenannten Sozialpartnerschaft zweifellos über lange Zeit verbessert. Die Einführung der Fünftagewoche in der BRD, sicher auch vor dem Hintergrund des sozialpolitischen Systemwettbewerbs mit der DDR zu sehen, hat eine enorme Arbeitsverdichtung nach sich gezogen, die stetig fortschreitet.

So führte der Einzug der betriebswirtschaftlichen Lehre in die Soziale Arbeit und die öffentlichen Verwaltungen jeweils zu Mehrarbeit, zum Beispiel durch das sogenannte Qualitätsmanagement, die sich nur sehr selten in den Stellenplänen niederschlug; das Arbeitsvolumen stieg, die Zahl der Mitarbeiter stagnierte bestenfalls. Daneben trägt die ständige Erreichbarkeit im digitalen Zeitalter dazu bei, positive Effekte von Wochenarbeitszeitverkürzungen aufzuheben – auch für Menschen, die in Teilzeit lohnarbeiten.

»Überzogene Streikziele«
Daher verwundert es nicht, dass die Beschäftigten immer weniger Wochenstunden für ihre Lohnarbeit aufwenden wollen. Nach den jüngsten Zahlen der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) wollen die Befragten durchschnittlich nur 32,8 Stunden pro Woche arbeiten. Das ist das bislang niedrigste Ergebnis der repräsentativen Wiederholungsbefragung, die seit 1984 vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung betrieben wird und an der mittlerweile jährlich circa 30 000 Menschen aus etwa 15 000 Haushalten teilnehmen. Das Statistische Bundesamt beziffert die reale durchschnittliche Wochenarbeitszeit für 2021 in Deutschland auf 34,7 Stunden, also knapp zwei Stunden mehr, als die Befragten im SOEP es sich wünschten.

»Wir brauchen mehr Bock auf Arbeit«, sagte der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter (CDU), Ende Februar im Gespräch mit der Plattform Table Media. Selbstverständlich muss Kampeter das schon von Berufs wegen fordern, selbiges gilt für seine ebenfalls Ende Februar vorgebrachte Kritik an Arbeitskämpfen: »Fluggesellschaften und Passagiere wurden für überzogene Streikziele in Geiselhaft genommen«, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), nachdem die Gewerkschaft Verdi mehrere Flughäfen bestreikt hatte. Kampeter sagte auch, »gesetzliche Regelungen für den Arbeitskampf« seien »überfällig« und müssten klarmachen, »dass Arbeitskämpfe Ausnahmen bleiben sollen«.

Auch SPD und DGB wollen nur, dass die Leute fleißig schuften gehen und keinen Ärger machen.

Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB), Yasmin Fahimi (SPD), hingegen bemerkte am vergangenen Wochenende in der ARD: »Es wird bei uns im europäischen, internationalen Vergleich extrem wenig gestreikt. Insofern ist es der Versuch, Stimmung zu machen gegen das Streikrecht, was ich wirklich hochproblematisch finde. Denn man bewegt sich damit auf ein sehr gefährliches Territorium, wo es um Staatsbürgerrechte geht, und daran jetzt mal so bisschen herumzuphilosophieren, ob man da nicht was einschränken müsste, geht an die Wurzeln unserer Demokratie.« Das zeigt, wie sehr sich Fahimi und mit ihr die SPD und der DGB in die Defensive gedrängt sehen, denn auch sie wollen nur, dass die Leute fleißig schuften gehen und keinen Ärger machen.

So gab dann Fahimis Parteigenosse Hubertus Heil, der Bundesminister für Arbeit und Soziales, ebenfalls dem RND eine sehr SPD-typische Antwort auf Kampeters Forderung nach »mehr Bock auf Arbeit«: »Ich kann mit diesem Spruch überhaupt nichts anfangen. Die fleißigen Menschen in diesem Land, die beispielsweise als Reinigungskräfte arbeiten oder in der Pflege schuften, brauchen von niemandem respektlose Belehrungen über ihre Arbeitsmoral.« Und er ergänzte: »Die Menschen haben Bock auf anständige Arbeitsbedingungen unter einem Tarifvertrag und auf anständige Bezahlung. Es ist kein Zufall, dass es besonders in Bereichen mit schlechter Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen schwer ist, Arbeitskräfte zu finden.«

Feilschen um Prozente
Dass Dinge wie »anständige Arbeitsbedingen« in den originären Arbeitsbereich eines Bundesministers für Arbeit und Soziales fallen, er damit also weniger Kritik am BDA als an seiner eigenen Regierungsarbeit übt, ist Heil entweder nicht klar oder er hofft schlicht, dass es schon niemand merken wird. Und es ist tatsächlich egal, denn das, was die Vertreter der sogenannten Sozialpartnerschaft hier machen, ist allzu häufig ein öffentliches Feilschen um Prozente bei den Tarif­abschlüssen – und das gehört nun mal genau wie beim Kauf eines Gebrauchtwagens zu Tarifverhandlungen dazu.

Sehr viel ärgerlicher ist hingegen, dass sich Kampeter auf die Debatte vor der Umbenennung von Hartz IV in »Bürgergeld« beruft. Dort sei es »um die Bedingungen von Nicht-Arbeiten« ­gegangen. »Wir brauchen aber eine Debatte, warum es sich lohnt, zu arbeiten. Warum es notwendig und richtig ist, mehr zu arbeiten. Warum es genau richtig ist, darauf Lust zu haben«, so Kampeter. »In der Politik in Deutschland gibt es nur für Ersteres große ­Begeisterung – an das Zweite traut sich keiner ran.«

In einem Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf über das »Bürgergeld« hieß es, es sei »die Gefahr gegeben, dass breite Schichten der Bevölkerung ihre Arbeit aufgeben und von Sozialleistungen leben wollen«.

Dass es hierzulande eine generelle Unterstützung dafür gebe, nicht zu ­arbeiten, besonders seitens der Politik, ist eine faktenbefreite Behauptung. Sie reiht sich aber ein in die Kampagne, die insbesondere die Unionsparteien im vergangenen Jahr gegen die Umbenennung von Hartz IV in »Bürgergeld« betrieben. Wiederholt wurde behauptet, dass das »Bürgergeld« Menschen davon abhalte, eine Lohnarbeit anzunehmen, oder sie sogar dazu bringe, ihre vorhandene Lohnarbeit aufzugeben, weil sich Arbeit nicht mehr lohne. Linke Kritik daran, dass die Umbenennung nur geringfügige Verbesserungen für Leistungsbezieher:innen bringt und beispielsweise die Erhöhung der Regelsätze zum Anfang dieses Jahres noch nicht einmal die hohe Inflation ausgleichen, wurde dadurch von Anfang an übertönt. Zudem konnten die Politiker:innen der SPD denen der Union gar nicht vehement widersprechen, denn dann hätten sie ja einräumen müssen, dass ihre »Überwindung von Hartz IV« eine rein sprachliche sein sollte.

Märchen findet Einzug in Sozialgerichtsurteil
So konnte sich öffentlich tatsächlich die Vorstellung durchsetzen, dass es den Arbeitslosen nun viel besser gehe. Diese Mär fand Anfang März sogar Einzug in ein Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf. Eine Familie hatte darauf geklagt, dass die »Bürgergeld«-Regelsätze verfassungswidrig seien, weil die Inflation nicht hinreichend ausgeglichen werde und sie deshalb das Existenzminimum unterschritten.

Im Urteil heißt es, »das Niveau der SGB-II-Leistungen, insbesondere für Familien in Großstädten«, sei »inzwischen so hoch, dass Geringverdiener bis Normalverdiener, die keinen entsprechenden Inflationsausgleich erhalten, nicht über wesentlich höheres Einkommen verfügen als Sozialleistungsbezieher«. Das stimmt so freilich allein schon deshalb nicht, weil das Sozialgericht Düsseldorf die steuerlichen Freibeträge nicht in seine Überlegungen ein­bezog. Im Urteil heißt es weiter: »Damit ist die Gefahr gegeben, dass breite Schichten der Bevölkerung ihre Arbeit aufgeben und von Sozialleistungen leben wollen. Dies wiederum würde den Sozialstaat gefährden.«

Ob nun gerade von einer »Lohn-Preis-Spirale« geredet wird oder von den Massen, die sich in die soziale Hängematte fläzen wollen, eines ist klar: Auch das ist Klassenkampf – nur eben von oben, und ohne aktiven ­Gegenpart. Oder wie es das Sozialgericht Düsseldorf formulierte: »In einer ärmer werdenden Gesellschaft müssen leider auch die Sozialleistungsbezieher mit weniger auskommen.«