Tränen für den Regenwald
Es gibt wohl nur wenige Verträge, über die so lange verhandelt wurde wie über das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und der lateinamerikanischen Wirtschaftsgemeinschaft Mercosur. Als die Gespräche im Jahr 1999 begannen, wurde in Deutschland noch in D-Mark bezahlt und der Bundeskanzler hieß Gerhard Schröder. Fast ein Vierteljahrhundert später soll das Abkommen nun endlich zustande kommen. Die neue brasilianische Regierung unter Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat einen Abschluss bis Mitte des Jahres angekündigt. Auch von Seiten der EU hieß es zuletzt, man wolle das Abkommen schnell zu einem Abschluss bringen. Dies sei der »dringende Wunsch« der europäischen Regierenden, sagte Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans im Februar.
Dabei sah es schon einmal so aus, als sei ein Abschluss greifbar nahe. Am Rande des G20-Gipfeltreffens im Jahr 2019 einigten sich die EU und die Mercosur-Gründungsstaaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay in wesentlichen Handelsfragen. Damit schien die Bahn frei für die vom Anteil am Welthandelsvolumen her wohl größte Freihandelszone der Welt, jedenfalls aber für den größten Freihandelsvertrag, den die EU je vereinbart hat. Jedes Jahr sollten Zölle in Höhe von mehreren Milliarden Euro wegfallen.
Doch im selben Jahr trat Jair Bolsonaro das Präsidentenamt in Brasilien an. Seine rechte Regierung schaffte umgehend zahlreiche Umweltgesetze und Kontrollen ab, die wiederum als Bedingung für den Vertragsschluss gelten. Solange er im Amt war, galt eine Ratifizierung des Handelsabkommens in Europa als undenkbar. Mit Lulas Wahlsieg hat sich die Lage wieder geändert. Für alle beteiligten Ländern ist das Abkommen von großer Bedeutung. In Brasilien hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung keinen sicheren Zugang zu Nahrungsmitteln. Argentinien ächzt seit Jahren unter einem hohen Staatsdefizit und einer Inflationsrate, die im Februar auf 102,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat gestiegen ist. Die Mercosur-Staaten leiden unter einer tiefgreifenden Wirtschaftskrise, alle Länder des Kontinents noch unter den Folgen der Covid-19-Pandemie, fast überall hat die Zahl der Armen zugenommen.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich auch für die EU-Staaten die Situation verändert. Sie befinden sich nun in einem »Wettlauf um Ressourcen«, wie die deutsche Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, Jennifer Morgan, im Dezember auf einem Wirtschaftsforum in Buenos Aires betonte. Es werden »weltweit neue Partner für die energetische Transformation« gesucht, um eine nachhaltige Klimapolitik zu verfolgen.
Noch vor einem Jahrzehnt war die EU der wichtigste Exportmarkt für den Mercosur, heutzutage ist es China.
Die Bedeutung des Abkommens betonte auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), als er Ende Januar nach Südamerika reiste. Da Russland als Rohstoff- und Energielieferant ausfällt und die EU sich aus der Abhängigkeit von China bei Seltenen Erden befreien möchte, bieten sich die Mercosur-Länder als Rohstofflieferanten an. Bei einem Besuch in Brasilien zusammen mit Landwirtschaftsminister Cem Özdemir kündigte Wirtschaftsminister Robert Habeck vergangene Woche an, »grüne Wertschöpfungsketten für mehr Wohlstand und Klimaschutz« aufzubauen.
Die deutsche Industrie fordert, dass die Verhandlungen über das Mercosur-Abkommen schnell vorankommen sollen. Das Exportland Deutschland habe im vergangenen Jahr Weltmarktanteile und Wettbewerbsfähigkeit verloren, weshalb der Bedarf an weiteren Freihandelsabkommen groß sei, so der Bundesverband der Deutschen Industrie.
Ob der Vertrag tatsächlich bald zustande kommt, ist trotz aller optimistischen Ankündigungen jedoch weiterhin unklar. Widerstand droht vor allem von europäischer Seite. Besonders skeptisch ist die französische Regierung. Der Sieg von Lula sei zwar eine »exzellente Neuigkeit für unsere bilateralen Beziehungen«, zitierte das Handelsblatt im Januar einen Sprecher des französischen Außenministeriums. Die Regierung sei aber weiter der Auffassung, »dass es die aktuelle Situation nicht erlaubt, bei einem EU-Mercosur-Abkommen voranzugehen«. Dabei gehe es um »sehr empfindliche« Fragen insbesondere beim Umweltschutz und der Abholzung des Regenwalds.
Allein im vergangenen Jahr wurden dem Handelsblatt zufolge im Amazonasgebiet fast 12 000 Quadratkilometer Fläche abgeholzt. Das Abkommen sieht vor, dass die Handelserleichterungen nicht für Produkte gelten, die von frisch gerodeten Flächen stammen. Unklar ist aber, wie diese Regelung überwacht werden soll. Die neue Regierung in Brasilien hat versprochen, die Abholzung des Regenwalds noch in diesem Jahr zu stoppen. »Ich jedenfalls kann Tränen in die Augen bekommen, dass eine Regierung das Ruder so rumreißt«, sagte Habeck in Brasilien.
Zweifelhaft ist allerdings, ob die brasilianische Regierung die betroffenen Regionen überhaupt umfassend kontrollieren kann. Die brasilianische Umweltschutzbehörde Ibama ist der Frankfurter Rundschau zufolge in einem ähnlich desaströsen Zustand wie der Regenwald und beinahe handlungsunfähig. Jedenfalls rodet die Agrarlobby nach wie vor riesige Flächen für Sojaanbau und Rinderhaltung.
Vermutlich sorgt sich die französische Regierung nicht nur um den Regenwald, sondern auch um die französischen Bauern. Diese fürchten vor allem die verbilligten Importe von argentinischem Rindfleisch und anderer landwirtschaftlicher Produkte aus Südamerika. Das Letzte, was der französische Staatspräsident Emmanuel Macron derzeit gebrauchen kann, ist neben den Rentenprotesten ein symbolträchtiger Aufstand der Landwirte.
Auch Irland, Polen und Belgien hatten bereits zuvor Besorgnis geäußert, dass das Abkommen schwerwiegende Auswirkungen auf die Landwirtschaft ihrer Länder haben könne. In Österreich gibt es ähnliche Bedenken. Der Vertrag setze »heimische Bauernfamilien unter Druck« und schränke die »Produktion in Europa« ein, klagt Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig. Das sei mit »den europäischen Klima- und Nachhaltigkeitszielen nicht vereinbar«. Die österreichische Regierung lehnt daher das Freihandelsabkommen ab und will stattdessen »den Fokus auf einen starken Binnenmarkt und Versorgungssicherheit richten«, wie Totschnig erklärt. Dabei ist die EU selbst der weltweit größte Exporteur von Agrarprodukten.
Deutliche Kritik kommt auch von Umweltverbänden und Nichtregierungsorganisationen. In Deutschland wenden sich kirchliche Organisationen wie Brot für die Welt gegen das Abkommen, ebenso die Deutsche Umwelthilfe und Oxfam. Gemeinsam mit der katholischen Entwicklungsorganisation Misereor hat Greenpeace Anfang des Jahres eine Studie zu dem geplanten Abkommen vorgelegt. Der Vertrag sei »Gift für den Amazonas-Regenwald, Gift fürs Klima«, heißt es darin. Der Freihandel würde demnach die Produktion vieler Waren steigern, die mit grünen Zukunftsplanungen schwer vereinbar sind, wie zum Beispiel Rindfleisch, Autos mit Verbrennungsmotoren oder Pestizide. Zudem sei das Umweltkapitel des Abkommens »extrem schwach bis hin zu wertlos«, heißt es weiter, und explizit von den geplanten Sanktionen bei Vertragsverstößen ausgenommen: »Verstößt ein Staat also gegen die Umweltklauseln im Vertrag, bleibt das mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit folgenlos.« Ein politischer Rahmenvertrag soll eine Klausel enthalten, die es ermöglicht, den Handelsvertrag bei Verstößen gegen Menschenrechte oder Demokratie auszusetzen.
Die Europäische Union will die Kritiker des Vertrags besänftigen, indem sie in den kommenden Wochen über einen Zusatzvertrag mit den Mercosur-Staaten verhandelt. Darin sollen sich die Regierungen zum Pariser Klimaabkommen bekennen sowie die Rechte indigener Gesellschaften und den Schutz des Regenwaldes garantieren – eine Zielsetzung, die in Südamerika nicht nur auf Verständnis trifft. Auf dem Mercosur-Gipfeltreffen Ende vergangenen Jahres in Uruguays Hauptstadt Montevideo bezeichnete der argentinische Präsident Alberto Fernández die Appelle zum Schutz des Amazonas-Waldes als vorgeschoben. Die EU solle die Mercosur-Länder »nicht länger belügen«. Der wahre Grund, warum das Abkommen nicht endlich ratifiziert werde, sei die protektionistische Haltung einiger EU-Staaten, »die nicht wollen, dass unser Fleisch, unser Getreide und unsere Lebensmittel ins Land kommen«, sagte er.
Viel Zeit zum Verhandeln bleibt der EU nicht. Noch vor einem Jahrzehnt war die EU der wichtigste Exportmarkt für den Mercosur, heutzutage ist es China. Uruguay hat bereits im vergangenen Jahr im Alleingang ein Handelsabkommen mit der Regierung in Peking vorangetrieben, obwohl die Mercosur-Mitglieder laut Statut nur gemeinsam mit Drittstaaten über Handelsfragen verhandeln dürfen. Allzu lange wollen die Mercosur-Staaten offenbar nicht mehr auf die EU warten.