Samad Rahimli, Rechtsanwalt aus Baku, über politische Gefangene in Aserbaidschan

»Eine organisierte Opposition gibt es nicht mehr«

Die Jungle World sprach mit dem aserbaidschanischen Juristen über die Menschenrechtssituation in dem Land und westlichen Druck auf das Regime von İlham Aliyev.
Interview Von

Bakhtiyar Hajiyev ist einer der berühmtesten Regierungskritiker in Aserbaidschan. Seit Dezember 2022 sitzt er in Untersuchungshaft. Was wird ihm vorgeworfen?
Gegenstand der Anklage ist eine Gerichtsverhandlung, in der Hacıyev einen Disput mit einer regierungsnahen Journalistin hatte. Sie haben sich gegenseitig wegen Verleumdung angezeigt. In einer hitzigen Diskussion schlug er einen Stapel mit Unterlagen auf seinen Tisch. Die Journalistin zeigte ihn an, seit dem 9. Dezember sitzt er in Untersuchungshaft. Konkret wurde er zweier Vergehen beschuldigt: Hooliganismus und Missachtung des Gerichts. Beide Vorwürfe sind juristisch nicht haltbar. Hooliganismus kann nicht vorliegen, weil er die Unterlagen gegen den Tisch und nicht gegen eine andere Person geschlagen hat. Und Missachtung des Gerichts liegt nicht vor, weil der Richter während des Vorfalls nicht anwesend war. Der Vorfall könnte höchstens als Ordnungswidrigkeit gelten.

Der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks, und zahlreiche internationale Organisationen verweisen auf die politische Motivation der Anschuldigungen gegen Hacıyev. Wie sehen Sie das?
In den Jahren 2010 und 2020 kandidierte Hacıyev bei den Parlamentswahlen. Er übte er immer wieder Kritik an der Regierung unter Präsident İlham Aliyev (auf Aserbaidschanisch: İlham Eliyev). In der jüngeren Vergangenheit griffen ihn mehrmals Polizisten auf und sprachen Verwarnungen aus. Im April 2022 entführte ihn sogar eine Gruppe von Unbekannten, zog ihn in ein Auto und schlug ihn zusammen. Sie zwangen ihn, kritische Facebook-Posts über den Innenminister Vilayat Eyvazov zu löschen, und sprachen Drohungen aufgrund seines politischen Aktivismus gegen ihn aus. Wegen all dieser Vorfälle sind wir sicher, dass auch die jetzigen Anschuldigungen politischer Natur sind.

Gibt es andere ähnliche Fälle von politisch Inhaftierten in Aserbaidschan?
Derzeit gibt es rund 100 politische Gefangene in Aserbaidschan. Häufig sind sie wegen Verleumdung angeklagt, noch öfter kommt es zu fabrizierten Anschuldigungen wie Drogenbesitz oder Hooliganismus. Der Hauptgrund dafür ist meistens, dass die Angeklagten die Person des Präsidenten oder seine Familie direkt kritisiert haben. Die Regierung verfolgt damit zwei Ziele. Zum einen möchte sie verhindern, dass Aktivisten oder kritische Journalisten es schaffen, die Bevölkerung zu politisieren und sie gegen die Regierung aufzubringen. Es liegt im Interesse der Präsidentenfamilie, diese Gefahr für ihre eigene Vormachtstellung schnellstmöglich auszuräumen. Zum anderen gibt es kulturelle Gründe. Die Verleumdung des Präsidenten und seiner Familie gilt in der aserbaidschanischen Kultur traditionell als hochproblematisch. In west­lichen Ländern wird beispielsweise Satire oder andere humorvoll verpackte Kritik an Politikern als normal angesehen, als legitimer Weg der Meinungsäußerung. Das ist hier anders – nicht gesetzlich, aber de facto. Der Präsident und seine Familie sind extrem sensibel, was Kritik an ihnen betrifft. Deshalb drohen darauf hohe Strafen.

Wie ist die Situation politischer Häftlinge in aserbaidschanischen Gefängnissen?
Tatsächlich ist die Zeitspanne zwischen Festnahme und Inhaftierung für die betroffenen Personen riskanter als der Aufenthalt im Gefängnis selbst. Denn wenn die Regierung ein gewisses Geständnis erzwingen möchte, setzt sie ­dafür auch Folter ein. Im Gefängnis kann es vorkommen, dass andere Insassen auf politische Häftlinge gehetzt werden. Aber das ist nicht die Regel. Hacıyev war seit dem 9. Januar knapp sieben Wochen lang im Hungerstreik. Inzwischen befindet er sich nach Angaben seiner Anwälte in guter Verfassung, sein Gesundheitszustand ist stabil.

Der Fall macht überdies deutlich, dass Regimekritikern nicht nur Strafverfolgung droht. Anfang März wurden intime Fotos von ihm und mehreren Frauen veröffentlicht.
Aktivisten in Aserbaidschan haben zu Recht große Angst davor, dass private Bilder von ihnen veröffentlicht werden. Das ist keine neue Strategie. Die Regierung versucht, den ultrakonservativ eingestellten Teil der Gesellschaft gegen die Aktivisten zu agitieren. Deren Ruf soll in den Augen ihrer Familie, ihrer politischen Gruppierungen und ihrer Nachbarschaft zerstört werden. Die Regierung möchte ihre Opponenten als moralisch verdorben darstellen. Im Fall von Hacıyev haben sie auch intime Fotos von Frauen veröffentlicht, die sich teilweise ebenfalls politisch engagieren. Einige von ihnen sind verlobt oder verheiratet. Die Regierung erhofft sich damit, dass sich ihre Ehemänner gegen sie wenden und sie verfolgen. Und dass sie Hacıyev angreifen werden, sobald der aus der Haft entlassen wird. Die Situation ist sehr angespannt. Man kann davon ausgehen, dass sich die betroffenen Frauen in akuter Lebensgefahr befinden, einige von ihnen sind auf der Flucht.

Gibt es für jeden politischen Häftling die Möglichkeit, sich von einem unabhängigen Anwalt verteidigen zu lassen?
Aserbaidschan befindet sich momentan weltweit auf dem letzten Platz bei der Anzahl praktizierender Anwälte. Auf 100 000 Menschen in Aserbaidschan kommen lediglich etwa zehn Anwälte. Und die wenigsten davon sind daran interessiert, Menschenrechtsfälle anzunehmen. Sie haben Angst und viele von ihnen haben auch bereits ihre Lizenz verloren. Seit 2017 hat die staatlich kontrollierte Anwaltskammer die volle Kontrolle über die Anwaltschaft im Land. Anwälten, die nicht Mitglied der staat­lichen Anwaltskammer sind, wurde die Berufserlaubnis entzogen. Ich bin ein Beispiel dafür. Seit 2017 darf ich keine Mandanten mehr vertreten. Mein Fall wird vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelt. Ich habe ihn dort eingereicht, um meine Lizenz zurückzuerlangen. All das macht die Lage politischer Häftlinge noch schwieriger.

Wie hat sich die Menschenrechtssituation in Aserbaidschan historisch entwickelt?
Kurz nach der Abspaltung von der So­wjetunion, im Jahr 1991, gab es eine demokratische Bewegung in Aserbaidschan. Die war friedvoll eingestellt und trug ihren Protest auf die Straße. Von 1992 bis 1993 regierte der einzige demokratisch gewählte Staatspräsident Aserbai­dschans, Äbülfäz Elçibey. Er wurde schließlich durch Heydar Aliyev gestürzt. Der war bereits zu Sowjetzeiten der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepu­blik und später der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats der Sowjetunion. Man kann also von einer Rückkehr an die Macht sprechen. Danach reaktivierte er die alte Herrschaftswei­­­­se aus Sowjetzeiten. Er brachte die politische Repression zurück. Als sich sein Gesundheitszustand verschlechterte, machte er seinen Sohn zum Ministerpräsidenten.

İlham Aliyev, der seit mittlerweile 20 Jahren Präsident Aserbaidschans ist …
Seitdem sind alle Fortschritte, die die Unabhängigkeitsbewegung erzielt hatte, verlorengegangen. Auf dem Papier gibt es zwar noch Oppositionsparteien, de facto ist Aserbaidschan aber ein Einparteienstaat. Momentan bleibt den Menschen nichts anderes üblich, als sich auf individueller Ebene zu engagieren. Denn eine organisierte Opposition gibt es nicht mehr. In der Verfassung festgeschriebene Menschenrechte, Versammlungsfreiheit – das wird schon längst nicht mehr respektiert. Der Grad an politischer Unterdrückung in Aserbaidschan hängt außerdem immer mit der Situation Russlands zusammen.

Wie äußert sich das?
Seit der Invasion in der Ukraine sehen wir: Je stärker Russlands Position dort ist, desto schwieriger wird die Situation für politische Oppositionelle in Aserbaidschan. Als Russland nach seinem Einmarsch die ersten Verluste einfuhr, ging die Repression hierzulande zurück. Es wurden sogar einige öffentliche Versammlungen erlaubt. Beispielsweise gab es eine Solidaritätskundgebung vor der ukrainischen Botschaft. Aber jetzt nimmt die Beschränkung der Meinungsfreiheit wieder zu. Die Inhaftierung Hacıyevs ist ein Beispiel dafür. Daran sieht man, wie groß der Einfluss des russischen Regimes in postsowjetischen Staaten ist – noch immer.

Der Sprecher des US-Außenministeriums rief die aserbaidschanische Regierung bereits im Januar dazu auf, die Meinungsfreiheit zu achten und Hacıyev freizulassen. Wie schätzen Sie die Wirkkraft westlichen Drucks ein?
Ich erinnere mich an den Fall von Mehman Aliyev, einem berühmten Journalisten, der im Jahr 2017 verhaftet wurde. Die USA bereiteten Sanktionen vor, die alle Personen betreffen sollten, die mit der Inhaftierung zu tun hatten. Daraufhin wurde Mehman Aliyev freigesprochen. Die Regierung hat großen Respekt vor Sanktionen – dementsprechend können sie in solchen Fällen viel bewirken, auch seitens der Europäischen Union, denn Aserbaidschan ist an guten Beziehungen interessiert.

Samad Rahimli

Samad Rahimli, Jurist und Menschenrechtler

Bild:
Archiv 2.  Juni

Samad Rahimli ist Jurist und praktizierte bis 2017 als Rechtsanwalt in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Er setzt sich vor allem für politische Häftlinge ein und die Einhaltung von Menschenrechten ein. Im Jahr 2017 gründete er »Praktik Hüquqşünaslar Qrupu« mit, einer Anwaltsinitiative, die sich dagegen wehrt, dass nur noch dem Regime genehme Anwälte als Rechtsvertreter vor Gericht auftreten dürfen. Seine Lizenz wurde ihm, wie vielen anderen aserbaidschanischen unabhängigen Anwälten, im Jahr 2017 entzogen. Seitdem kämpft er vor dem Europäischen Gericht für Menschenrechte dafür, seine Berufserlaubnis zurückzuerlangen.