Joshua Cohens Buch »Die Netanjahus« oszilliert zwischen Campusroman und Autofiktion

Die unbrauchbare Vergangenheit

Joshua Cohens mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Roman »Die Netanjahus« erzählt von einem jüdischen College-Professor in den fünfziger Jahren, der eine berühmte Familie bei sich aufnimmt. Gekonnt spielt Cohen dabei mit Fragen nach dem Biographischen und der Autofiktion.

Am Ende eines ereignisreichen Tages steht Ruben Blum im Schnee vor verschlossener Tür und kann es kaum erwarten, in sein Haus zurückzukehren. Zwar hält er sein Heim nicht weniger für ein »stickiges Gefängnis« als das Polizeiauto, in dem er hergebracht wurde. Seine Frau ist von ihm gelangweilt, seine Tochter ständig wütend und genervt.

Aber im Vergleich zu der Unruhe, die seine Gäste in sein beschauliches Leben im beschaulichen Corbindale im beschaulichen Ostküstenstaat New York gebracht haben, wirkt der ansonsten unspektakuläre Alltag des Professors für Geschichte an einem unbedeutenden College geradezu paradiesisch unaufgeregt. Denn was mit den Gästen in das Leben von Ruben Blum eingebrochen ist, ist nicht weniger als die Vergangenheit und eine Herkunft, die er längst zurückgelassen haben wollte und die ihn dennoch ständig begleitet.

Als erster Jude überhaupt an der Universität
Ruben Blum ist der Protagonist von Joshua Cohens jüngstem, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Roman »Die Netanjahus«, der nun in einer gelungenen Übersetzung von Ingo Herzke auf Deutsch erschienen ist. Blums Leben gerät im Winter 1959/1960 aus den Fugen, als er von seiner Universität, an der er der als erster Jude überhaupt unterrichtet, in eine Berufungskommission zur Anstellung eines mysteriösen Mediävisten namens Ben-Zion Netanjahu beordert wird. Dass Blums Forschungsgebiet (Geschichte des amerikanischen Steuerrechts) nicht weiter von dem Ben-Zions (die Inquisition im mittelalterlichen Spanien) entfernt sein könnte, tut für die Kollegen nichts zur Sache. Blum eigne sich für die Betreuung vor allem, so informiert ihn sein Vorgesetzter in schamloser Offenheit, weil Ben-Zion ja »­einer der Ihren ist«.

Mit an Philip Roth oder Vladimir Nabokovs »Pnin« erinnernden übersteigerten, zwischen Komik und Drastik changierenden Bildern führt Cohen den in den Fünfzigern im wahrsten Sinne des Wortes gewöhnlichen Antisemitismus und die spezifische Dialektik des Neuanfangs vor Augen.

Mit dieser vermeintlichen Verbindung durch die jüdische Herkunft zwischen den beiden ist es aber nicht so weit her. Denn im Grunde haben sich der auf Assimilation und sozialen Aufstieg bedachte Blum und der Sohn eines Rabbis Ben-Zion, der sich als Anhänger des revisionistischen Zionismus in der Tradition von Wladimir Zeev Jabotinsky herausstellt und für den die Diaspora von Übel ist, nicht viel zu sagen. Und so gerät der Besuch Ben-Zions, der unerwartet mit seiner Frau und seinen drei verzogenen Kindern anreist und sich nicht im Hotel, sondern prompt im Haus der Blums einquartiert, zu ­einem furios chaotischen Spektakel, voller Irritation und Peinlichkeiten.

Auch wenn man nicht wüsste, dass es sich bei Ruben Blum um eine literarisierte Version des berühmten, 2019 verstorbenen Literaturkritikers Harold Bloom handelt und dass Ben-Zion Netanjahu (in anderer Schreibweise: Benzion Netanyahu) niemand anderem nachempfunden ist als dem Vater des jüngst wiedergewählten israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu, der ebenso wie die beiden anderen Söhne Ben-Zions und seine Frau Zilla (oder Tzila) in dem Roman auftritt, und auch wenn man nicht wüsste, dass Bloom tatsächlich einmal Benzion Netan­yahu bei einem Vorstellungsgespräch begleiten musste und diese Geschichte dem von ihm sehr geschätzten Joshua Cohen erzählt hat, auch dann wäre der Roman immer noch ein großes Lesevergnügen und eine scharfsinnige und ausnehmend unterhaltsame Inszenierung eines ­US-amerikanisch-jüdischen Lebens in den späten fünfziger Jahren zwischen Assimilation, dem US-amerikanischen Gleichheitsversprechen und auferlegter, beharrlicher ­Differenz.

Wenn es im Untertitel heißt, es handele sich um einen »Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie«, dann scheint es, als wolle Cohen sein Publikum dazu anhalten, nicht die ganze Zeit an die Wirklichkeit zu denken, die die Fiktion ­inspiriert hat. Auch dass die Netanjahus erst nach der Hälfte der Geschichte auftreten und vorher nur vermittelt, beispielsweise durch ­eingeschobene Empfehlungsschreiben präsent sind, rückt eher das ins Genre des Campusromans verpackte Immigrationspsychogramm der ­Familie Blum in den Vordergrund.

Harold Bloom wurde 1930 in New York City geboren und sprach die ersten Jahre seiner Kindheit kein Englisch, sondern Jiddisch.

Dass Cohen in einem Nachwort die historischen Fakten, also die Vor- und Nachgeschichte der zugrunde­liegenden Anekdote, gleich selbst liefert, dürfte insofern auch als widerwilliges Zugeständnis an einen sowohl literarischen als auch gesellschaftlichen Trend zu verstehen sein. Denn während die Wirklichkeit immer mehr als weltgewordener Text verstanden wird – Menschen werden als dies oder das »gelesen« und statt Ideologien gibt es überall »Narrative« –, wird der literarische Text immer häufiger programmatisch und explizit durch die historische Wirklichkeit, eigenes Erlebtes und vermeintlich Authentizität verbürgende Erfahrung angereichert; man denke an das Phänomen der Autofiktion. Wenn Cohen in Interviews ­unter Zuhilfenahme eines deutschen Worts von »Maskenfreiheit« spricht, also dem freien Raum des Spiels, den die Maske und der ästhetische Schein ermöglichen, und von Literatur als Mittel, um das Biographische abzuwehren, dann kann das durchaus als Kritik dieser Entwicklung verstanden werden.

Cohens kompakter, straff durch zehn Kapitel führender Roman entfaltet seine Kraft darum auch weniger aus der zweifelsohne bemerkenswerten historischen Kuriosität, die er aufgreift, als durch deren Literarisierung und dramatische Anordnung. Diese lebt vor allem von der eigentlichen Hauptfigur, Ruben Blum, sowie dessen Familie.

Zwischen Komik und Drastik changierende Bilder
Zwar ist das Buch Harold Bloom gewidmet und der Name des Protagonisten eine deutliche Anlehnung, recht eigentlich aber ist Ruben Blum das genaue Gegenteil des Literaturwissenschaftlers, der vor allem durch seine Schriften zur englischen Romantik berühmt wurde. Bloom wurde 1930 in New York City geboren und sprach die ersten Jahre seiner Kindheit kein Englisch, sondern Jiddisch, und bewahrte sich Zeit seines Lebens einen lebendigen Widerspruchsgeist. Blum hingegen betreibt zwar erfolgreich, aber eher leidenschaftslos »Taxation Studies«, führt ein zwar liebevolles, aber recht dröges Familienleben und begehrt keinesfalls auf.

Dass es dafür in den USA der fünfziger Jahre gute Gründe gab, macht Cohen immer wieder deutlich. Mit an Philip Roth oder Vladimir Nabokovs »Pnin« erinnernden übersteigerten, zwischen Komik und Drastik changierenden Bildern – und einer großen Aufmerksamkeit für ödipale und quasiödipale Konstellationen – führt er nicht nur den damals im wahrsten Sinne des Wortes gewöhnlichen Antisemitismus vor Augen, sondern auch die spezifische Dialektik des Neuanfangs, der sich zahllose Generationen von Emigranten ausgesetzt sahen. Blum absorbiert diesen Druck und verwandelt ihn eine offensive Distanzierung von einer »unbrauchbar« gewordenen Vergangenheit. »Den größten Teil meines Lebens«, so erzählt uns Blum, »zog ich keine Kraft aus meiner Herkunft und nutzte jede Gelegenheit, sie zu ignorieren oder sie wann immer möglich zu leugnen.«

Das wird ihm freilich nicht leichtgemacht. So muss Ruben Blum jedes Jahr für die Fakultätskollegen den Weihnachtsmann spielen. Seine Tochter wiederum, die gerade an einem Bewerbungsessay für die Universität zum Thema Fairness schreibt – den ihr ihr Vater immer wieder mit Korrekturen zurückgibt –, verabscheut ihre für zu groß befundene Nase und wünscht sich nichts sehnlicher als eine korrigierende Operation. Auch die Eltern des Ehepaars Blum sind als – auch sozialökonomische und kulturelle – Gegensätze angelegt: Hier die ukrainisch/russisch-jüdischen Eltern Rubens, die als Zuschneider und Büglerin arbeiten, dort die rheinisch-jüdischen Eltern seiner Frau Edith, die die Stoffe liefern. Und doch kämpfen sie alle auf unterschiedliche Weise mit der Herausforderung, dass Amerika einen zwar willkommen heißt, aber nur um den Preis, im Neuanfang jemand an­deres zu werden.

Die obsessive Suche nach einem versteckten jüdischen Wesen, das auch die Konver­sion nicht ändern kann, beruhte auch auf der Notwendigkeit, ein Objekt der Herrschaft und der Unterscheidung zu haben.

Die andere Seite dieses Anderswerdens erzählt Joshua Cohen auf elegante Weise durch die Figur des paradoxerweise in den USA lebenden, arbeitenden und für das zionistische Projekt werbenden Ben-Zion Netanjahu, wobei er nah an dessen realer Biographie bleibt. In Israel, so sinniert der Erzähler Blum, »waren vertriebene und geflüchtete Juden dabei, sich als ein Volk neu zu erfinden«. Dass Netanjahu – der echte wie der literarisierte – ausgerechnet zur spanischen Inquisition im Mittelalter forscht, die sich unter anderem auf die Conversos, die konvertierten Juden, konzentrierte und somit auf brutale Weise die Frage beantwortete, ob jemand überhaupt etwas anderes sein könne, als ihm essentialisierend untergeschoben wurde, öffnet die Figurenkonstel­lation zugleich für Assoziationen zu zeitgenössischen Debatten über Identität.

Tragische Ähnlichkeit
Die Pointe ist dabei eine doppelte: Nicht nur setzte die Inquisition auf gewaltsame Weise die Annahme ins Werk, dass niemand zu etwas anderem werden könne, als was er oder sie ursprünglich war. Die obsessive Suche nach einem versteckten jüdischen Wesen, das auch die Konver­sion nicht ändern kann, beruhte auch auf der Notwendigkeit, ein Objekt der Herrschaft und der Unterscheidung zu haben.

Anders als in der deutschen Literatur üblich, die auf kulturkämpferische Topoi häufig holzschnittartig und schablonenhaft zurückgreift – man denke an die Figur des Journalisten Ole in Sascha Rehs »Aurora« –, arbeitet Cohen diese Bezüge aber durch Zwischentöne in die Handlung ein, beispielsweise wenn der Erzähler Ruben Blum offensichtlich aus der Gegenwart von »Schneemenschen« spricht.

Kaum überraschend gibt es auch keine einfache Auflösung des Gegensatzes zwischen Assimilation und Beharren auf Identität (gerade dann, wenn man auf eine solche reduziert wird) oder zwischen Diaspora und dem Staat Israel. Auf elegante und fesselnde Weise wird vielmehr eine tragische Ähnlichkeit inszeniert. Nicht nur möchte Ben-Zion Professor werden, wie es Ruben Blum bereits ist, und muss sich wider Willen auf die Logik einer seinem Aktivismus damals noch fremden Institution einlassen. Vielmehr besteht der gemeinsame Nenner zwischen den beiden nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Denn von deren Versprechen des Neuanfangs, auch wenn sich dieser nur als langgezogene Übergangsstation herausstellt, zehren sowohl Ruben Blum als auch Ben-Zion Netanjahu.
 

Joshua Cohen: Die Netanjahus.
Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2023, 288 Seiten, 25 Euro