Der Tarifabschluss im öffentlichen Dienst reicht nicht als Inflationsausgleich

Luft nach oben

Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst haben den höchsten Tarifabschluss seit 50 Jahren erkämpft – doch die inflationsbedingten Reallohnverluste der vorigen Jahre würde er trotzdem nicht ­ausgleichen. Nun entscheidet eine Mitgliederbefragung, ob der Abschluss angenommen wird.

Als Frank Werneke Samstagnacht vor die Kameras trat, konnte der Verdi-Vorsitzende den höchsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst seit fünf Jahrzehnten verkünden. Der Abschluss ­betrifft 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen. Doch trotz des guten Tarifabschlusses war von Jubel wenig zu spüren. Werneke sprach zwar von einem »beachtlichen Ergebnis«, Siegesstimmung verbreitete er ­jedoch keineswegs. Mit der Entscheidung, »diesen Kompromiss einzugehen, sind wir an die Schmerzgrenze gegangen«, sagte er.

Der Einigung vorausgegangen waren die umfassendsten Warnstreiks im öffentlichen Sektor seit Jahrzehnten. Mehr als eine halbe Million Beschäftigte hatten sich in den Wochen zuvor an den Arbeitsniederlegungen beteiligt. Die Streikbewegung erfasste neben Kliniken, Kitas und Verwaltungen auch Dienststellen, in denen es zum ersten Mal überhaupt zum Ausstand kam, wie manchen Kindergärten oder Einrichtungen der Behindertenhilfe.

Seit Jahresbeginn sind Zehntausende neue Mitglieder Verdi beigetreten. Wegen der hohen Inflation war die Kampfbereitschaft groß. Bei den Tarifverhandlungen forderten die Gewerkschaften 10,5 Prozent mehr Gehalt mit einer garantierten Mindesterhöhung von 500 Euro im Monat. Insbesondere der kurz vor der dritten Verhandlungsrunde ausgerufene »Megastreik« (Spiegel), bei dem Ende März an Flughäfen, auf Wasserstraßen und im öffentlichen Nahverkehr gestreikt wurde, während gleichzeitig die Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft EVG die Deutsche Bahn bestreikte, erhöhte den Druck auf die Arbeitgeber.

Als Ende März auch die dritte Verhandlungsrunde scheiterte, stimmten die Gewerkschaften einem Schlichtungsverfahren zu. Das nun vorliegende Verhandlungsergebnis orientiert sich weitestgehend an den Vorschlägen der Schlichtungskommission. Neben Verdi waren die Gewerkschaft der Polizei (GdP), die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) sowie der DBB Beamtenbund und Tarifunion an den Verhandlungen beteiligt.

Der Rekordlohnerhöhung steht eine Rekordinflation gegenüber. Das erzielte Ergebnis kann den inflationsbedingten Reallohnverlust der vergangenen drei Jahre nicht wettmachen.

Das Ergebnis ist zumindest den Zahlen nach beachtlich. Für alle Beschäftigten gibt es eine einmalige Inflationsausgleichszahlung in Höhe von 3 000 Euro, die steuer- und abgabenfrei ist. 1 240 Euro sollen im Juni ausgezahlt werden, der Rest danach in monatlichen Raten von 220 Euro. Die eigentliche Lohnerhöhung – die Sonderprämie fließt nicht in den Tariflohn ein – ist erst für März 2024 geplant. Sie würde aus einem Sockelbetrag von 200 Euro plus 5,5 Prozent bestehen. Mindestens sollen die Beschäftigten dadurch monatlich 340 Euro brutto mehr bekommen. Für Auszubildende wurden ein Inflationsausgleich von 1 500 Euro und eine Gehaltserhöhung von 150 Euro ab März 2024 vereinbart.

Die unteren Einkommensgruppen, die auch am stärksten von der Inflation betroffen sind, würden von dem vereinbarten Sockelbetrag am meisten profitieren. Verdi zufolge würde er für manche eine dauerhafte Lohnsteigerung bis zu 16,9 Prozent bedeuten, zusätzlich zur Inflationsausgleichszahlung von 3 000 Euro. Im Durchschnitt würden die Entgelte über alle Einkommensgruppen hinweg um 11,5 Prozent steigen.

Verdi ist damit ein Tarifabschluss ­gelungen, der vor allem der Kernklientel der Gewerkschaft in den unteren und mittleren Lohngruppen zugute kommen würde. Was das genau ­bedeuten würde, hat Verdi vorgerechnet. Das Gehalt eines Müllwerkers in der Entgeltgruppe 3 zum Beispiel würde sich zusätzlich zur Inflationsprämie von 3 000 Euro im Laufe der 24 Monate dauerhaft um 357,34 Euro im Monat und damit um 13,4 Prozent erhöhen. Ein Busfahrer in der Entgeltgruppe 5 würde am Ende der Laufzeit 378,88 Euro mehr im Monat und damit 12,41 Prozent ­bekommen.

Trotz der hohen Abschlüsse war die Verdi-Führung bei der Vorstellung der Ergebnisse zurückhaltend und hütete sich, sie als Erfolg zu verkaufen. Grund dafür dürfte die Kritik sein, die von der gewerkschaftlichen Basis kommt. Die war schon laut geworden, nachdem die Schlichtungsempfehlung Mitte April bekanntgegeben worden war. Viele Gewerkschaftsmitglieder hatten sich nach den wochenlangen Mobilisierungen und Streiks deutlich mehr versprochen.

Denn der Rekordlohnerhöhung steht auch eine Rekordinflation gegenüber – und das erzielte Ergebnis kann den inflationsbedingten Reallohnverlust der vergangenen drei Jahre nicht wettmachen. Die einmalig für 2023 vereinbarte Inflationsprämie könnte sich als unzureichend herausstellen, denn es ist ­unklar, wie stark die Preise im Lauf des Jahres steigen werden. Auch die lange Laufzeit des nun erzielten Tarifabschlusses von 24 Monaten könnte für die ­Gewerkschaft zum Problem werden. Bis Ende 2024 wäre es nicht mehr möglich, auf weitere Preisschübe zu reagieren.

Ein weiterer Nachteil der Einigung ist, dass sich die Beschäftigten in diesem Jahr ausschließlich mit Inflationsausgleichszahlungen begnügen müssten und eine Erhöhung der Gehälter erst 2024 erfolgen würde. Zwar wären die Zahlungen dadurch steuerfrei und ­landeten Netto auf den Konten der Beschäftigten, sie würden jedoch nicht für die Rente und für Erhöhungen in künftigen Tarifrunden zählen. Und während die Vereinbarung zur Übernahme von Auszubildenden fortgeschrieben wurde, weigerten sich die Arbeitgeber, die Regelung zur Altersteilzeit zu verlängern.

Gegen den Tarifabschluss regt sich Widerstand. Ein Zusammenschluss linker Gewerkschafter:innen forderte schon nach Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und die Urabstimmung zum unbefristeten Streik einzuleiten.

Daher regt sich Widerstand gegen den Tarifabschluss. Das Netzwerk für eine kämpferische und demokratische Verdi – ein Zusammenschluss linker Gewerkschafter:innen – forderte schon nach Bekanntgabe der Schlichtungsempfehlung, die Verhandlungen für gescheitert zu erklären und die Urabstimmung zum unbefristeten Streik einzuleiten. Nun wirbt das Netzwerk für eine Ablehnung des Ergebnisses durch die Mitgliedschaft. Auch die Streikdelegierten der Berliner Betriebe des öffentlichen Dienstes haben in einer Resolution die Ablehnung der Schlichtungsempfehlung gefordert. »Wenn es notwendig wird, ­trauen wir uns zu, die Urabstimmung einzuleiten und in einem unbefristeten Streik mehr zu erreichen und einen echten Inflationsausgleich durchzusetzen«, hieß es dort.

Bundesweite Unterstützung, ins­besondere unter Beschäftigten im Gesundheitswesen, erfährt zudem ein von Vertrauensleuten des Hamburger Hafens, des Hamburger Flughafens und des Hamburger Bündnisses für mehr Personal im Krankenhaus initiierter Brief an die Verdi-Verhandlungsleitung, der für eine Fortsetzung der Streiks bis zu einem echten Inflationsausgleich wirbt.

Wie groß der Unmut an der gewerkschaftlichen Basis tatsächlich ist, wird sich in den kommenden Wochen zeigen. Denn ob der Tarifabschluss angenommen wird, liegt nun in der Hand der Mitglieder. Diese stimmen bis zum 12. Mai in einer Mitgliederbefragung über die Annahme der Vereinbarung ab.