Gespräch mit Julia Ingold, Literaturwissenschaftlerin, über Deutschrap

»Rap hat hierzulande mit vielen Vorurteilen zu kämpfen«

Ein Literaturpreis für einen Rapper? Das legte zumindest der Titel der Tagung »Gebt OG Keemo den Büchner-Preis!« nahe, die Ende März in Berlin stattfand und auf der literaturwissenschaftliche Perspektiven auf Deutschrap diskutiert wurden. Die Organisatorin Julia Ingold sprach mit der »Jungle World« über den Ausnahmerapper Lord Folter, die »Exotisierung der subalternen Erfahrung« und deutsch-jüdischen Rap.
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Während der Tagung wurde erwähnt, dass der Titel »Gebt OG Keemo den Büchner-Preis!« ­bewusst in Anführungsstriche gesetzt wurde. War das also mehr eine Spielerei als eine tatsächliche Forderung?
Es ist eher als Parole gedacht. Es ging nicht darum, dass der Büchner-Preis an OG Keemo gehen soll, vielmehr wollten wir darauf aufmerksam machen, dass da eine ästhetisch anspruchsvolle und auch politische Gegenwartslyrik unterhalb des Radars der klassischen Literaturkritik gemacht wird.

Bei solch einer Parole denkt man an die Vergabe des Pulitzer-Preises 2018 in der Kategorie »Musik« an den Rapper Kendrick Lamar, woraufhin manche forderten, er hätte ihn besser in einer der literarischen Kategorien ­bekommen sollen. So außergewöhnlich ist diese Forderung gar nicht, oder?
Vor allem seit dem Literaturnobelpreis für Bob Dylan hat sich zwar etwas verändert, aber der englischsprachige und der deutschsprachige Raum unterscheiden sich da deutlich, was die Anerkennung und Rezeption von Popmusik generell und Rap im Speziellen betrifft. Zwar gibt es hier kanonisierte Popmusik wie die von Ton Steine Scherben oder die der Hamburger Schule, deren Vorreiter schreiben dann auch Romane. Rap hat hierzulande aber weiterhin mit vielen Vorurteilen zu kämpfen.

In den USA gab es vor 20 Jahren sogar das Fernsehformat »Def Poetry Jam«, in dem Rapper:innen wie DMX oder Lauryn Hill neben etablierten Lyriker:innen wie Amiri Baraka aufgetreten sind. Hierzulande hat so etwas wie Poetry Slam einen eher bürgerlichen Beigeschmack und wenig Berührungspunkte mit Rap. Will sich Rap als eigenständige Kunstform nicht auch bewusst von derlei abgrenzen?
Ich kann schwer für Rapper:innen sprechen. Auf unserer Tagung hat Grim104 betont: »Ich bin kein Schriftsteller, kein Dichter, ich bin Rapper.« Bei der Vorbereitung der Tagung habe ich aber auch mit Lord Folter telefoniert, der hätte ja eigentlich einen Poetikvortrag halten sollen und ist dann im Februar verstorben. Der hat gesagt: »Ich habe so lange auf diesen Anruf gewartet. Ich bin Schriftsteller. Ich lese gerade Heraklit und schreibe wie er.« Da war es sehr willkommen. Samy Deluxe macht auch seit zwei Jahrzehnten deutlich, dass er Dichter ist.

Rapper wie Testo oder Panik Panzer veröffentlichen auch Bücher. Das Feuilleton bespricht immer selbstverständlicher Rapalben. Ist die Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur nicht so durchlässig wie nie?
Auf jeden Fall. Im Vortrag von Sebastian Berlich wurde ja auch deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Rap im Feuilleton immer differenzierter wird. Sozialromantische Gangsterstereotype und »Haftbefehl ist der neue Goethe«-Takes scheinen überwunden. Mittlerweile schaut man sich ernsthaft Ästhetik und Erzählverfahren an. Feldwechsel sind in der Popwelt nichts Neues, aber auch umgekehrt werden Bestseller wie Si­bylle Bergs »GRM« nach einem HipHop-Genre benannt.

Das wurde in dem Fall ja auch nicht nur positiv aufgenommen. Man fragte sich, ob Berg damit nicht eine Gegenkultur der britischen Vorstadtviertel vereinnahmt habe.
Ja, auf solche Fälle verwies auch der Vortrag »Schwarze Stimmen, weiße Publika: Race-Adressen im Deutsch­rap um 2020« von Roman Widder. Darin zeigte er, wie in der bürgerlichen Kultur die Darstellung von Arbeit fetischisiert wird und es häufig heißt: »Da sprechen die Subalternen.«

Von der »Exotisierung der subalternen Erfahrung« war im Vortrag die Rede.
Genau. Natürlich gibt es in der Literatur und auch in der Literaturwissenschaft die Gefahr, das Prekariat zu exotisieren. Aber es ist auch eine Bewegung aufeinander zu, die sich nicht aufhalten lässt. Rap entwickelt sich derzeit zu einer so vielschichtigen Kunstform, da kann die Literaturwissenschaft nicht sagen: Wir bearbeiten das nicht, weil wir da vielleicht etwas fetischisieren. Gute Wissenschaft schaut sich alles an. Die Frage ist das Wie.

Die Tagung hat sich unter anderem auch dem deutsch-jüdischen Gangsta-Rap gewidmet. Was ist an ihm so interessant?
Ich finde, Joscha Jelitzki hat ganz gut herausgearbeitet, dass die deutsch-jüdischen Rapper, die ihr Jüdischsein thematisieren, häufig auf antisemi­tische Stereotype zurückgreifen, auch wenn sie die ironisch oder subversiv bearbeiten. Der deutsch-jüdische Gangsta-Rap scheint da auf die Dinge zu reagieren, die auch vorher im Gangsta-Rap verhandelt wurden. Natürlich gibt es auch deutsch-jüdische Rapper, die das anders machen. Auch Max Herre, der ähnlich wie Ben Salomo eher mit Conscious Rap assoziiert wird, hat autobiographische oder autofiktionale Tracks über seine Vorfahren gemacht, die die Shoah überlebt haben. Das ist im Grunde Geschichtsschreibung der dritten Generation, die zurzeit auch viel im Literaturkontext diskutiert wird.

In einem Vortrag wurde Max Czolleks Begriff der »wehrhaften Poesie« auf die Rapperin Ebow ­angewendet. Was zeichnet deren Texte aus?
Ebow arbeitet ganz aktiv daran, sich das Wort »Kanake« anzueignen. Aber auch einen Rapper wie Apsilon kann man mit Czolleks Begriff in Verbindung bringen, der in seinem Song »Köfte« rappt: »Man kann doch ein braver Deutscher sein, wenn man nur möchte. Doch ich möchte nicht, nein danke, trinke Çay und esse ­Köfte.« Das trifft sehr gut, was Max Czollek mit wehrhafter Poesie meint: diese Verweigerungshaltung.

 »Sozialromantische Gangsterstereotype und ›Haftbefehl ist der neue Goethe‹-Takes scheinen überwunden. Mittlerweile schaut man sich ernsthaft Ästhetik und Erzählverfahren an.« Julia Ingold

Apsilon ist da noch einen Schritt radikaler als Ebow. Und Ebow ist gewissermaßen eine Vorreiterin. Mit Zeilen wie: »In mir drinnen stecken 1 000 Leben / Hab Flure geputzt, Häuser gebaut, wurde ausgenutzt, wurde ausgesaugt … « – da geht es viel um die Ausbeutungsverhältnisse in der BRD. Und in »Prada Bag« rappt sie in Bezug auf die Zurschaustellung von Reichtum im Rap und deren bürgerliche Rezeption: »Das Traurige daran ist, dass du mehr Respekt vor dem Kapitalismus an mir hast als vor mir selbst.« Sie ist da fast eine politische Theoretikerin des Rap.

Die Autorin Şeyda Kurt zitiert in ihrem jüngsten Buch zu Beginn Apsilon mit den Zeilen: »Mama sagt, ich hab zu viel Hass, zu viel Hass in meinem Herz, aber werf’ lieber den ersten Stein. Ich duck’ mich nicht. Nerven lange tot, aber ich leb’.«
Vielleicht zeigt sich im Rap gerade ein neues kritisches Bewusstsein. Der Rapper Torch meinte einst: »Die Punks wollten aus dem System raus und die Rapper wollten ins System rein.« Und Ebow rappt nun in »Asyl«: »Wir sind wert, was der Pass uns an Wert gibt.« Ein spannender Aspekt ist auch die Adressierung. Häufig gilt: Rassistisch diskriminierte Rapper:in­nen erklären den weißen Deutschen ihre Welt. Und da ist auch ganz interessant, dass sowohl Ebow als auch Apsilon noch viel damit beschäftigt sind zu schildern, was überhaupt schiefläuft. Ein Prinzip dabei ist, ganz viel Fremdsprache einfließen zu lassen, und das ist schon ein Verdienst von jemandem wie Haftbefehl: die multilingualen Raptexte. Ebow macht das beispielsweise mit kurdischen Begriffen.

Und Apsilon lässt in seinen Musikvideos türkische Untertitel mitlaufen. Weil vorhin schon die Sprache auf den kürzlich ver­storbenen Lord Folter kam: Warum war er wichtig für Ihre ­Forschung?
Für mich hat seine Musik gezeigt, was lyrisch heute möglich ist im Deutschrap. Er hat ja im Grunde hermetische Lyrik verfasst, mit einer unglaublichen Metapherndichte. Ich nenne ihn auch den »König der Katachrese«, das ist die absichtsvolle Verwendung an sich unpassender Metaphern. Er nimmt einen metaphorischen Sprachgebrauch und führt ihn zurück zu der wörtlichen Bedeutung. Eine Zeile, die ich beeindruckend finde, lautet: »Kein König ist der Baumkrone würdig.« Seine Songs sind für mich in sich geschlossene Gedichte. Das ist vielleicht auch so ein Literaturwissenschaftsfetisch, wenn man sagt: Hach, das Werk ist ein in sich geschlossenes Gebilde. Lord Folters Texte verdienen aber auf jeden Fall mehr philologische Untersuchungen.
 

Julia Ingold

Die Literaturwissenschaftlerin Julia Ingold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bamberg.