Bei den Lieferdiensten gehen die Arbeitskämpfe weiter

Kampf für den Tarifvertrag

Bei Lieferando wird gestreikt, die Lieferfahrer:innen fordern einen Tarifvertrag. Haben sie Erfolg, könnte das ein Durchbruch für die Angestellten in der Branche werden. Ehemalige Gorillas-Fahrer:innen, die wegen eines wilden Streiks ihre Stelle verloren hatten, steckten unterdessen vor Gericht erneut eine Niederlage ein.
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Am Freitagabend vergangene Woche mussten in Köln wohl einige Menschen mehr als sonst ihre Wohnung verlassen. In der Stadt kam es zum zweiten Warnstreik von Lieferfahrer:innen des international agierenden Konzerns Just Eat Takeaway, der in Deutschland unter dem Namen Lieferando firmiert. Bereits am 14. April hatten Lieferando-­Beschäftigte in Frankfurt am Main gestreikt. Organisiert wurden die beiden Arbeitskämpfe von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Diese will mit ihrer Kampagne »Liefern am Limit« einen Tarifvertrag bei Lieferando durchsetzen. »Wir wollen keine Peanuts, wir wollen mal richtiges Geld«, sagt die Fahrerin Isabel in einem Video, das zum Streiktag in Frankfurt veröffentlicht wurde.

Doch Lieferando lehnt Verhandlungen mit der Gewerkschaft bislang ab. Das Unternehmen beruft sich darauf, dass die Mehrheit der Lieferbeschäftigten bereits über 14 Euro pro Stunde erhielten, mehr als Servicekräfte in der Gastronomie. Das sei »vergleichbar mit den Tarifbedingungen für die Systemgastronomie«, sagte ein Sprecher von Lieferando der Website Tageskar­te, einem Informationsportal für die Gastronomiebranche. Die Gewerkschaft hält allerdings dagegen, dass die Beschäftigten eigentlich nur den gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro die Stunde erhielten, einzig durch Boni könne man auf die 14 Euro kommen. Der Unterschied ist durchaus ­bedeutsam: Wer zum Beispiel krankgeschrieben ist, bekommt keine Boni.

Statt solcher Willkür fordert die Gewerkschaft ein garantiertes Mindestgehalt von 15 Euro pro Stunde, außerdem verbindliche und höhere Zuschläge für Nachtarbeit und Feiertage, mindestens sechs Wochen Urlaub und ein dreizehntes Monatsgehalt. Zudem soll die letzte Fahrt vom Lieferort nach Hause voll bezahlt werden. Derzeit endet die Arbeitszeit mit der letzten Essensübergabe.

Dass der Konzern zu Verhandlungen nicht bereit scheint, überrascht nicht. Auch die Wahl von Betriebsräten gestaltete sich bei Lieferando in der Vergangenheit schwierig. In Berlin war vergangen Herbst ein Betriebsrat mit 17 Mitgliedern gewählt worden. Kurz darauf kündigte Lieferando zehn der Betriebsratsmitglieder wegen angeblichen Arbeitszeitbetrugs. Die Kündigung musste vom neu gewählten Betriebsrat genehmigt werden, der das verweigerte. Damit war das Arbeitsgericht zuständig. »Hier will man Mitbestimmungsorgane mit vollkommen obskuren Begründungen und konstruierten Vorwürfen kaputtschlagen«, sagte Sebastian Riesner von der NGG damals der Taz.

Beim 2020 gegründeten Lebensmittellieferdienst Gorillas wählten die Beschäftigten 2021 einen direkteren Weg des Arbeitskampfs: Sie organisierten sich über Chatgruppen und im persönlichen Kontakt, um gegen unzureichenden Arbeitsschutz und verspätete Lohnzahlungen zu streiken. In der Folge wurden der Gewerkschaft Verdi zufolge in den Standorten Leipzig und Berlin rund 350 Mitarbeiter:innen gefeuert. Das Unternehmen sah sich dazu berechtigt, weil ein sogenannter wilder Streik ohne die Unterstützung einer Gewerkschaft in Deutschland nicht erlaubt ist.

Viele Start-ups im Liefergewerbe brauchen weiterhin regelmäßig neues Kapital, doch wegen der gestiegenen Zinsen gestaltet sich die Suche nach Investoren deutlich schwieriger als zuvor.

Drei der gefeuerten Liefer­fahrer:in­nen, Ronnie, Fernando und Duygu Kaya, fochten im vorigen Jahr die Kündigung mit einer Klage vor dem Arbeitsgericht Berlin an. Damit haben sie sich vorgenommen, einen Präzedenzfall zu schaffen. Der Anwalt der drei Lieferfahrer:innen, Benedikt Hopmann, berief sich auf die Europäische Sozialcharta. Diese sehe keine ­Einschränkung des Streikrechts vor, wie sie in Deutschland gelte. Deshalb hätten auch sogenannte Ad-hoc-Koalitionen das Recht zu streiken. Außerdem seien die Arbeitsverhältnisse in der Lieferbranche meist so kurz und wechselhaft, dass eine gewerkschaftliche Organisierung »de facto unmöglich« sei, sagte Hopmann vergangene Woche dem Tagesspiegel.

Die Gerichte sind dieser Argumentation bislang nicht gefolgt. Am Dienstag vergangener Woche wies in zweiter Instanz das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg die Klagen ab und schloss auch eine Revision vor dem Bundesarbeitsgericht aus. Damit gaben sie dem Unternehmen recht, die Kündigungen wurden bestätigt. Die Kurierfahrerin Duygu Kaya bewertet das Urteil auf Twitter als »politische Entscheidung gegen politische Streiks – Schande«.

Gorillas gibt es als eigenständiges Unternehmen nicht mehr, das Start-up wurde im Dezember 2022 für rund eine Milliarde Euro vom finanzstärkeren Konkurrenten Getir übernommen. Aus der Fusion soll Getir zufolge »das größte Filialnetz für ultraschnelle Lebensmittellieferungen in Europa« entstehen. Die schnellen Lieferdienste haben es wohl fürs Erste geschafft, sich zu etablieren, nicht zuletzt dank der schlechten Arbeitsbedingungen, die in der Branche herrschen. Doch die Konkurrenz bleibt äußerst hart. Die häufigen Fusionen zeigen, wie schwierig es für Lieferdienste ist, profitabel zu wirtschaften. Die Kosten sind hoch und nach dem Ende der Maß­nahmen zur Bekämpfung der Covid-19-­Pandemie schwächelt die Nachfrage.

Gleichzeitig werden die Investoren knausriger. Viele Start-ups des Liefergewerbes brauchen weiterhin regelmäßig neues Kapital, doch wegen der ­gestiegenen Zinsen gestaltet sich die Suche nach Investoren deutlich schwieriger als zuvor. Eine Bilanz, die hohe Ausgaben für Löhne und soziale Absich­erung der Lieferfahrer:innen vorsieht, ist dabei vermutlich nicht hilfreich.

Der Lieferdienst Flink zum Beispiel ist noch nicht profitabel und nun auf der Suche nach neuem Kapital. Dem Handelsblatt zufolge soll die geplante Finanzierungsrunde 200 Millionen Euro umfassen. Nun berichtete die Financial Times, dass Getir Gespräche über eine Übernahme des Konkurrenten führt.