Die einstigen ökonomischen Erfolge der Ära Erdoğan verlieren ihren Glanz

Auf maroden Wegen

Die früheren Errungenschaften der AKP-Regierung können kaum darüber hinwegtäuschen, wie herabgewirtschaftet die Türkei inzwischen ist. Der Glaube mancher Anhänger des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan scheint erschüttert.

Marschmusik dröhnt über den Platz vor dem Ägyptischen Basar in der Altstadt von Istanbul. Wahlkämpfer agitieren vor großen Porträts ihrer Parteiführer, Fahnen flattern in den türkischen Nationalfarben Rot und Weiß vor dem Anleger der Bosporus-Fähren im Stadtteil Eminönü. »Kemal kommt und Tayyip kann nach Hause gehen«, schmettern die Wahlkämpfer der CHP. Kemal Kılıçdaroğlu, der Vorsitzende der säkularen Republikanischen Volkspartei (CHP), ist Präsident Recep ­Tayyip Erdoğans Herausforderer. Er tritt als gemeinsamer Kandidat des »Bündnisses der Nation« gegen Erdo­ğans »Volksallianz« an. »Am 14. Mai schicken wir den alten Mann in Rente«, verhöhnen die AKP-Anhänger Kılıç­daro­ğlu, der lediglich fünf Jahre älter ist als Erdoğan. Die Stände der Wahlkämpfer stehen hier im Abstand von wenigen Metern beieinander. Der Ort ist günstig, eine Million Menschen eilt täglich hier vorbei in Richtung Fähre.

Seit 2019 stellt die CHP mit Ekrem İmamoğlu den Oberbürgermeister von Istanbul und kann sich so für ihren Wahlkampf zentrale Orte in der Stadt sichern. Fast 20 Jahre lang dominierte die AKP die Metropolen Ankara und Istanbul während der Wahlen und hatte einen klaren Vorteil in der Präsenz im öffentlichen Raum. Das hat sich nun geändert; manchen passt das überhaupt nicht.

Aysel Koçak schwingt eine Fahne und wiegt sich im Takt der Marschmusik, die Erdoğan als größten Parteiführer und besten Freund aller Schwachen und Unterdrückten preist. »Die werden am 14. Mai alle verrecken«, schnaubt sie verächtlich in Richtung des Stands der Opposition. Koçak ­engagiert sich im starken kommunalen Frauenverband der AKP. Im Fastenmonat Ramadan im April hat sie im Wahlkreis Fatih der Provinz Istanbul Wahlkampf gemacht, indem sie Frauen Lebensmittel nach Hause brachte. Gemeinsames Fastenbrechen und abendliche Treffen an der Moschee gehörten dazu. Die 55jährige hat den Aufstieg des Präsidenten in den Neunzigern miterlebt. Erst war er Parteiführer der Wohlfahrtspartei in Istanbul, dann Oberbürgermeister. »Ich gehöre seit 25 Jahren zur Basis«, sagt sie stolz. Und sie ist fest davon überzeugt, dass Erdoğan auch diesmal siegen wird. »Alles andere ist Propaganda von diesen Lumpen dort«, sie zeigt in Richtung CHP.

Ein Wahlkämpfer der CHP, etwa in ihrem Alter, schwingt eine rot-weiße Fahne und brüllt, dass die Soldaten Mustafa Kemal Atatürks siegen werden. Fahnen, Posen und Musik der beiden feindlichen Lager ähneln sich. Sie eint neben der Konzentration auf den Kandidaten der Nationalismus. Das »Bündnis für Arbeit und Freiheit« hat hier nichts verloren. Es vertritt die Anliegen von Kurden, Frauen, Migranten, LGBTIQ+ und der Ökologiebewegung – die die Regierung immer wieder kriminalisiert. Die Regenbogenfarben beispielsweise sind in öffentlichen Raum verboten. Kılıçdaroğlu ist Alevit, doch bis zu diesem Wahlkampf schwieg er dazu stets. Erst als das »Bündnis für Arbeit und Freiheit« seine Unterstützung zusagte und aufgrund der vielen Ermittlungsverfahren gegen ihre Politiker keinen eigenen Kandidaten aufstellte, entdeckte er das Thema für seine Partei.

Die CHP verspricht im Wahlkampf die Politik, mit der Erdoğan vor 20 Jahren in Istanbul agitierte: kostenlose Babynahrung, Zuschüsse für Schüler, Miethilfen. Die Metro rauscht am An­leger vorbei. »Die haben wir erbaut«, betont Koçak und hat recht. Das – allerdings schon wieder marode – Netz des öffentlichen Nahverkehrs und die funktionierende Wasserversorgung ­gehen tatsächlich auf die Politik der AKP zurück. Doch nach 20 Jahren an der Macht könnte es sein, dass diese his­torischen Errungenschaften vor dem Hintergrund von Korruption und Günstlingswirtschaft nicht mehr ausreichen, um dem Präsidenten eine Mehrheit zu verschaffen.

Koçaks Bild Erdoğans als eines Mannes aus dem Volke, der wie alle einfachen Leute jahrelang schlechtes Istanbuler Leitungswasser trinken musste, wie es aus einer weiteren der Wahlkampfhymnen der AKP aus den Lautsprechern schallt, hat an Anziehungskraft verloren. Auf seiner letzten großen Kundgebung vor der Wahl höhnte Erdoğan in Istanbul, die Biertrinker von der CHP würden am 14. Mai nach Hause geschickt. Doch selbst seine ei­genen Anhänger hegen Zweifel daran. Eineinhalb Millionen Menschen machten sich zwar auf, den Präsidenten auf dem Gelände des stillgelegten Atatürk-Flughafens zu sehen. Doch ohne Auto musste man von der U-Bahnstation noch kilometerweit zur Kundgebung laufen. Eine Frau in langem Mantel und schwarzem Kopftuch in Koçaks Alter gab enttäuscht auf.

Erdoğan ließ am Schwarzen Meer einen riesigen neuen Flughafen in ein Waldgebiet bauen, weil der alte angeblich zu klein war. Ausländische Investoren, darunter viele deutsche, und Günstlinge der AKP verdienten dar­an, die grüne Lunge der Stadt wurde zerstört. »Es ist alles viel zu weit weg«, sagte die AKP-Anhängerin und schaute auf ihr Handy. Da brüllte der Präsident, er werde jetzt einen Tunnel unter dem Bosporus bauen. »Inşallah«, ­sagte sie müde.