Die neue Vereinbarung zwischen dem Zentralrat und der Bundesrepublik hat große Bedeutung für das Leben der Juden in Deutschland

Mischung aus Lehrhaus und Think Tank

Jüdische Sichtweisen werden oft ignoriert oder instrumentalisiert. Eine Akademie in Frankfurt am Main soll dem entgegenwirken.
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Ende April unterzeichneten die Bundesinnenministerin Nancy Fae­ser (SPD), der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, sowie sein Vizepräsident, Mark Dainow, einen Vertrag, der den seit 2003 gültigen und 2018 zuletzt geänderten Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem jüdischen Dachverband ergänzt. Mit ihm verpflichtet sich die Bundesregierung zur Erhaltung und Pflege des »deutsch-jüdischen Kulturerbes«, gleichermaßen dienen die Mittel dem Schutz von Jüdinnen und Juden vor Antisemitismus.

Kern des Änderungsvertrags ist es, die jährlichen Staatsleistungen von 13 Millionen auf 22 Millionen Euro anzuheben. In den meisten Medien dürfte das als Randnotiz durchgegangen sein, doch der Blick auf die Details verdeutlicht, welche Bedeutung diese Änderung für das Leben der Juden in Deutschland hat.

Die Erhöhung soll ab 2024 vor allem den Betrieb der Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main absichern. Deren Bau im Stadtteil Westend hatte das Bundesministerium des Innern und für Heimat bereits mit 16 Millionen Euro gefördert. Sie werde »einen wichtigen Beitrag zur Verankerung jüdischen Denkens und jüdischer Werte in unserer Gesellschaft« leisten, so Zentralratspräsident Schuster.

Viele jüdische Kritiker haben in der jüngeren Vergangenheit immer wieder scharf beanstandet, dass in öffentlichen Debatten jüdische Sichtweisen ignoriert oder instru­mentalisiert werden.

Die ­Jüdische Akademie, so scheint es, wird eine Mischung aus Think Tank und jüdischem Lehrinstitut sein. In einem Interview mit dem Online-Portal der Bundeszentrale für politische Bildung führte die designierte Direktorin, Sabena Donath, aus, Auftrag der Akademie sei es, bundesweit »Strahlkraft« zu entwickeln, weil in ihr »intellektuell und bildungspolitisch Themen« behandelt werden, »die eine jüdische Perspektive auch in den mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs hineintragen« können.

Das scheint dringend notwendig. Viele jüdische Kritiker haben in der jüngeren Vergangenheit immer wieder scharf beanstandet, dass in öffentlichen Debatten jüdische Sichtweisen ignoriert oder instru­mentalisiert werden. Die Akademie könnte dem entgegenwirken, indem sie ein Ort nicht für manche, sondern für alle Jüdinnen und Juden in all ihrer Pluralität wird. Ein Ort, an dem gestritten und ­debattiert wird sowie die unterschiedlichen jüdischen Sichtweisen und Erfahrungen erkundet werden.

Opferrolle im Gedächtnistheater
Das Konzept ist dementsprechend darauf ausgelegt, die Hemmschwellen für die Teilnahme niedrig zu halten – nicht nur für Jüdinnen und Juden, sondern genauso für nichtjüdische Menschen. In den Räumen der Akademie soll einerseits eine innerjüdische Diskussion stattfinden, wie Donath in besagtem Interview ausführt, andererseits soll »eine Form von Selbstbestimmung ermöglicht« werden, die öffentlich wahrgenommen wird.

Im besten Sinne sollen an der Akademie also künftig Tradition – vor dem Hintergrund der durch die Shoah zerschnittenen Kontinuität – und Moderne verschmelzen. Denn die Arbeit der Akademie soll starke Ähnlichkeiten zu der eines Think Tanks haben und Donath zufolge auch in Verbindung zum berühmten Freien Jüdischen Lehrhaus stehen, das 1920 gegründet und anfangs von Franz Rosenzweig geleitet wurde. An das Lehrhaus anzuknüpfen, müsse gelingen, »indem wir religiöse und säkulare Bildung miteinander verbinden«, so Donath.

Die neue Akademie könnte tatsächlich Katalysator für die vielfältigen Denkrichtungen sein, die die vorherrschenden gesellschaft­lichen Diskussionen über das Judentum verändern wollen. Durch selbstbewusst vorgetragene jüdische Sichtweisen könnten diese ­beeinflusst werden, um beharrliche Fremdzuschreibungen, wie die der Opferrolle im sogenannten Gedächtnistheater, zu durchbrechen. In dieser Mischung aus Lehrhaus und Think Tank kann die jüdische Pluralität artikuliert werden, die so gar nicht der erinnerungskulturell geprägten Verengung entspricht, an die sich die Mehrheitsgesellschaft so sehr gewöhnt hat.