Nabelschau

Schafft zwei, drei, vier Dschungel!

Bye-bye, Kreuzberg. Die »Jungle World« findet ihr neues Domizil in einer Remise in Berlin-Mitte.

Die Macht der Archive
In den meisten Haushalten gibt es Monster, die einem beim Umzug das Leben schwer machen: die Plattensammlung, das Aquarium, das Klavier, auf dem nie einer spielt. Alles Lappalien im Vergleich mit unserem in deckenhohen Schwerlastlen ruhenden Archiv. Es besteht aus gigantischen Stapeln vergilbter Jungle World-Ausgaben, die nach alter Väter Sitte und einer für Nichteingeweihte schwer zu durchschauenden Systematik gesammelt werden. Und das Archiv wächst ja noch und braucht immer mehr Platz, den es nun in einem eher engen Flur unserer neuen Remise bekommen soll.

Regal1


Tagelang ist die Umgzugsuntergruppe »Archiv« damit beschäftigt, die zum Teil noch aus dem letzten Säkulum stammenden Zeitungen fachmännisch zu verpacken, Kartons zu beschriften, mit Tesafilm zuzukleben, nach Mitte zu fahren. Es zieht sich wie Kaugummi. Irgendwann wird dann der Durchbruch vermeldet: »Wir haben das Archiv zu 95 Prozent dabei.«

Regal2


Auch nicht ohne ist der Ab- und Wiederaufbau der retrofuturistischen, scharfkantigen Gestängekonstruktion des Archivregals, den unerschrockene Kollegen zum Teil unter Lebensgefahr am Wochenende bewerkstelligen. Respekt, alle Daumen fliegen hoch.

Wurde auf der alten Schreibmaschine 1949 die Verfassung der DDR geschrieben?

Rätsel gibt der Fund einer grauen »Adler«-Schreibmaschine in den Tiefen des alten Büros in der Gneisenaustraße auf. Gerüchteweise wurde darauf 1949 die Verfassung der DDR geschrieben. Oder waren es die Bekennerschreiben der RAF? Oder doch das legendäre Redaktionsstatut der Jungle World, dessen Existenz so umstritten ist wie sonst nur die des Bernsteinzimmers?

Schreibmaschine


»Können wir uns denn kein Umzugsunternehmen leisten?« wird zwischendurch entgeistert gefragt. Locker, aber wem will man die Verantwortung für all die Kostbarkeiten wie das Archiv, antiquarische Lenin-Ausgaben, den Egon-Eiermann-Konferenztisch und last but not least das Judith-Butler-Poster aufhalsen? Der Kollege springt ein: »Ich nehme das Judy-B-Poster sonst für meine Wand zu Hause, wenn es nicht im neuen Büro hängen soll.«

Telefon


Apropos schwer zu durchschauende Systematiken. Es gibt einen ausgefeilten Zeit-Raum-Plan in der Redaktions-Cloud, in den sich jeder und jede eintragen soll, der oder die eine Schicht in der alten oder der neuen Redaktion übernimmt, je nachdem, was man lieber tut, einpacken oder auspacken. Bevor alle das System begriffen haben, ist der Umzug auch so gut wie durch.

Umzug


Der lange Weg nach Mitte
Die neuen Räume sind wunderschön. Parkett, blütenweiße Wände, Oberlichter, durch die die Frühlingssonne ihre Strahlen schickt. Wer klebt den ersten Antifa-Sticker? Es gibt Grünpflanzen auf dem Fensterbrett in der Küche, die richtig gesund aussehen. Ein Geschenk unserer arglosen Vormieter, die offenbar noch nie von den elend verdursteten Kakteen aus unserem Kreuzberger Office gehört haben.

Pflanzen


Sektlaune kommt auf, aber es gibt natürlich auch ein paar Wermutstropfen. Raus aus der Kreuzberger Fabriketage heißt Abschied von der Markthalle am Marheinekeplatz (= Jungle-Kantine), bedeutet bye-bye »Teppich-Kontor« im Hinterhof (= coole Leute), und die Eins-a-U-Bahnanbindung ist auch futsch.

Los ging alles in einer Künstlerwohnung in einem verwunschenen Altbau am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg. Damals hieß es: Kost und Logis frei.

Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich in Kreuzberg oder Neukölln niedergelassen, der Anfahrtsweg ist für die meisten jetzt um einiges länger. Man ist in der Fehrbelliner Straße zwar von U-Bahnstationen nur so umzingelt, aber keine ist so hübsch nah dran, wie es der versiffte U-Bahnhof Gneisenaustraße an der alten Adresse war.

Radfahrerfreundlich ist der Kiez auch nicht gerade. Muss die Frühkonferenz nach hinten verlegt werden? Überhaupt: Sind wir jetzt strenggenommen Zone? Und wie konnte es überhaupt so weit kommen?

Was bisher geschah
Los ging alles in einer Künstlerwohnung in einem verwunschenen Altbau am Tempelhofer Ufer in Kreuzberg. Damals hieß es: Kost und Logis frei. Zwei Jahrzehnte und drei Kreuzberger Fabriketagen später sind die Gewerbemieten im angestammten Habitat derart gestiegen, dass die Jungle World die Flucht nach Mitte antritt. Westbindung hin oder her. Das neue Büro ist viel kleiner als die alte Fabriketage, dafür gibt es einen Garten. Die Raucher und Raucherinnen jubeln natürlich. Zigarettenasche in rauen Mengen soll künftig die Flora & Fauna in Mitte düngen. Schafft zwei, drei, vier Dschungel!

Jungle


Aber Obacht, ein safe space sei die Remise mit Erdgeschosszugang nicht, meint unsere Layouterin. Sie rät, immer dranzudenken, alle Rollläden abends herunterzulassen und gut abzuschließen, außerdem: kein Bargeld liegen zu lassen und keine teuren Computer. Denn beim Erdgeschoss sei die Frage leider nicht, ob versucht wird einzubrechen, sondern nur wann. Ach so. Kurze Durchsage an alle Einbrecher: »Einbruch zwecklos. Die Kasse wird täglich geleert, die Laptops werden abends mit nach Hause genommen, Judy-B befindet sich an einem sicheren Ort und das Archiv ist kostenlos auch online verfügbar.«