Ecuadors Präsident Guillermo Lasso umgeht ein Amtsenthebungsverfahren

Spiel auf Zeit

Ecuadors Präsident Guillermo Lasso hat kurz vor einer Entscheidung im Amtsenthebungsverfahren gegen ihn das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angekündigt. Damit versuche er, einer drohenden Anklage zuvorzukommen, meinen Experten.

Ecuadors Präsident Guillermo Lasso hat Mitte vergangener Woche das Parla ment aufgelöst. Dieses, so der liberal-konservative Präsident, setze alles ­daran, Ecuador zu destabilisieren. Die Maßnahme des am 24. Mai 2021 ver­eidigten Mannes aus der Wirtschaftsmetropole Guayaquil ist legal und ein Instrument, das die Verfassung anbietet, um politische Krisen zu lösen. Das betonte auch Lasso in einer im Fernsehen übertragenen Ansprache: »Dies ist eine demokratische Maßnahme, weil sie den Ecuadorianern die Macht zurückgibt, selbst über ihre Zukunft zu entscheiden.«

Die Verfassung Ecuadors enthält eine Besonderheit, die dort als muerte cru­zada (sich kreuzender Tod) bezeichnet wird. Der Artikel 148 verleiht dem Staatsoberhaupt das Recht, einmalig im Fall einer »schweren politischen Krise« oder »innerer Unruhen« das Parlament aufzulösen. Binnen eines halben Jahres müssen dann Neuwahlen stattfinden und in diesem Zeitraum regiert die Exekutive übergangsweise auf Basis von Dekreten. Vollkommen legal, aber, so die Kritiker des Präsidenten, nur ein Trick, um das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen Lasso abzuwenden.

Diese Einschätzung teilt auch Alberto Acosta Espinosa, der ehemalige Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung, die in den Jahren 2007 und 2008 die neue Verfassung für Ecuador ausarbeitete. Er sieht einen Missbrauch des Instruments der muerte cruzada, weil Lasso damit das laufende Amtsenthebungsverfahren gegen ihn beendete. Das Verfahren war am Dienstag vergangener Woche mit 88 Ja- gegen 23 Nein-Stimmen bei fünf Enthaltungen eröffnet worden und befand sich kurz vor der Entscheidung, als Lasso das Parlament auflöste.

Das Parlament wirft dem Präsidenten Unterschlagung vor. Lasso soll von Veruntreuungen und Korruption im staatlichen Ölkonzern Flopec gewusst und diese nicht angezeigt, sondern durch eine entsprechende Besetzung von Posten aktiv gefördert haben. Die ecuadorianische Staatskasse soll das mehrere Millionen US-Dollar gekostet haben. Lasso bestritt in seiner Fernsehansprache erneut die Anschuldigungen und warf den Parlamentariern vor, ihn seit Beginn seiner Amtszeit stürzen zu wollen. Ihr einziges politisches Ziel sei »die Destabilisierung der Demokratie und des Staates«.

Die Mordrate von 25 Tötungsdelikten je 100.000 Einwohnern im vorigen Jahr war die höchste in der Geschichte Ecuadors. Sie könnte nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Fernando Carrión in diesem Jahr auf bis zu 35 ansteigen.

Das sehen allerdings nicht nur die Parlamentarier, sondern auch Experten und das Gros der Bevölkerung anders. Je nach Umfrage unterstützen lediglich 13 bis 17 Prozent der Befragten Lasso, und seine nunmehr zweijährige Regierungszeit bewerten nur von 20 Prozent positiv. Das hat Gründe, so Yaku Pérez, der bei der Präsidentschaftswahl 2021 als Kandidat der Partei Pachakutik antrat, den politischen Arm der indigenen Dachorganisation Conaie. »Fakt ist, dass Lasso Geld in Finanzoasen transferiert hat, wie die ›Pandora Papers‹ belegen, und dafür keine politische Verantwortung übernommen hat«, sagt Pérez. »Hinzu kommt, dass er die öffentlichen Betriebe Ecuadors seinem Schwager Danilo Carrera anvertraut hat, der ein Korruptionssystem für die Vergabe von Posten im öffentlichen Dienst installiert haben soll. Von diesem System soll Lasso ebenfalls gewusst haben – ohne aktiv zu werden.«

Doch die politische und ökonomische Krise des Landes reicht tiefer. Das noch vor sechs Jahren recht friedliche südamerikanische Land erlebt einen enormen Anstieg von Gewaltverbrechen. Die Mordrate von 25 Tötungsdelikten je 100.000 Einwohnern im vorigen Jahr war die höchste in der Geschichte Ecuadors. Sie könnte nach Einschätzung des Sozialwissenschaftlers Fernando Carrión in diesem Jahr auf bis zu 35 ansteigen. »Ecuador gehört heute zu den gefährlichsten Ländern der Region«, meint der Professor der in Quito ansässigen Lateinamerikanischen Fakultät für Sozialwissenschaften (Flacso).

Die Regierung macht vor allem Drogenhändler für den Anstieg der Gewalt verantwortlich, und partiell gibt Carrión ihr recht. Zu dieser Entwicklung beigetragen habe aber auch der Rückzug des Staats. »Die staatlichen Strukturen wurden gestutzt: 2018 gab es ein Sicherheitsministerium, ein Justizministerium, das für die Haftanstalten mitverantwortlich war, ein Innenministerium und ein Sekretariat der Politik. Dann wurde all dies in das Regierungsministerium zusammengeführt und man reduzierte den Etat«, so Carrión. 2018 begann die Mordrate zu steigen und die Zahl der Kartelle stieg Carrión zufolge bis heute auf 25.

Die Kriminalität entfaltete ihre eigene Dynamik. »Ecuador liegt zwischen den beiden größten Kokainproduzenten der Welt: Im vergangenen Jahr hat Kolumbien die Erträge um 25 Prozent gesteigert, Peru hat die Produktion verdoppelt. Nun werden etwa 800 Tonnen Kokain pro Jahr über Ecuador in alle Welt geschmuggelt«, rechnet der Wissenschaftler vor.

Immerhin ist klar, wie es weitergehen soll. Der Nationale Wahlrat muss innerhalb von sieben Tagen einen Termin für die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen festlegen. Die müssen in spätestens 90 Tagen stattfinden. Bis ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt ist, könnte es, sollte eine Stichwahl nötig werden, bis zu sechs Monate dauern. So lange bleibt Lasso geschäftsführend im Amt – weitere Monate im Präsidentenpalast, die er sich verschafft hat.