Ostdeutsche sind im Durchschnitt ärmer als Westdeutsche

Der Boom im Osten blieb aus

Menschen in Ostdeutschland sind bis heute öfter arm, werden schlechter bezahlt und haben weniger Eigentum als im Westen. Dazu haben auch politische Entscheidungen beigetragen, entscheidend war aber, dass eine umfassende Modernisierung der ostdeutschen Industrie nach der Wiedervereinigung keine Profite versprach.

Es war ein großes Versprechen, das der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl am 1. Juli 1990 gab. An diesem Tag trat die Wirtschafts- und Währungsunion zwischen DDR und BRD in Kraft. Dadurch wurde noch vor der Vereinigung der beiden Staaten die Deutsche Mark als Zahlungsmittel in der DDR eingeführt und es wurden fast 8.000 Volkseigene Betriebe (VEB) mit vier Millionen Beschäftigten einer »Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung des Volkseigentums« unterstellt, die diese privatisieren sollte. Kohl verlautbarte damals: »Durch eine gemeinsame Anstrengung wird es uns gelingen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln. (…) Es wird niemandem schlechter gehen als zuvor, dafür vielen besser.«

In der DDR wurde diese Aussage nicht als Zusage einer relativen Verbesserung gegenüber den Verhältnissen vor 1990 verstanden, sondern als Versprechen der Herstellung einer ökonomischen Situation, wie sie in Westdeutschland geherrscht hatte. Mehr als 30 Jahre später ist zu konstatieren, dass dies nicht geschehen ist. Alle Untersuchungen der ökonomischen und sozialen Situation in Deutschland zeigen, dass sich die vormalige Staatsgrenze entlang ökonomischer Indizes weiter abbildet; wobei sich auch in Westdeutschland regionale Unterschiede verschärft haben und dieses heute von der Forderung des Grundgesetzes nach gleichwertigen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik so weit entfernt ist, wie es vor 1989 nicht vorstellbar war.

Lohnunterschied sogar gewachsen
Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) der Bundesregierung von 2021 stellt fest, dass Arbeitslosigkeit und Niedriglohnbeschäftigung in Ostdeutschland verbreiteter sind als in Westdeutschland, auch in regulären Arbeitsverhältnissen werden geringere Löhne bezahlt. Das jährliche Medianeinkommen, also die Einkommenshöhe, bei der es genauso viele Menschen mit einem niedrigeren wie mit einem höheren Einkommen gibt, lag in Ostdeutschland 2016 3.900 Euro niedriger als in Westdeutschland. Dabei ist der Unterschied sogar gewachsen, 2006 lag er noch bei 2.500 Euro. Die Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linkspartei im Bundestag aus dem vergangenen Dezember, die sich auf das Durchschnittseinkommen bezieht, also den Durchschnitt aller gezahlten Gehälter, konstatiert für den Zeitraum von 2020 bis 2022 ein Anwachsen des Unterschiedes zwischen den Durchschnittseinkommen in Ost und West von 11.967 Euro auf 12.173 Euro pro Jahr.

Dazu kommt, dass das durchschnitt­liche Bruttovermögen im Westen mehr als doppelt so hoch ist wie im Osten und mehr Menschen über Immobilien­eigentum verfügen. Entsprechend ist das Armutsrisiko im Osten höher, was laut ARB dazu führt, dass Ostdeutsche in benachteiligten sozialen Lagen über­repräsentiert seien – »mit steigender Tendenz«.

Ostdeutschland sei »um 20 Prozent bis 25 Prozent ärmer als Westdeutschland«, so das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle.

Letztlich ist, so das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle in einem Dossier mit dem Titel »Die garstige Lücke«, Ostdeutschland »um 20 Prozent bis 25 Prozent ärmer als Westdeutschland«. Das Weiterbestehen dieser Differenz wird darin historisch erklärt. Zusätzlich zu den historischen Belastungen durch die von der DDR an die Sowjetunion geleisteten Reparationen und der Krise der sozialistischen Planwirtschaft sei dies vor allem dem Prozess der Transformation nach 1990 geschuldet. Zum einen habe die Einführung der D-Mark in Ostdeutschland zum Umtauschkurs von nahezu eins zu eins für das Gebiet der ehemaligen DDR eine Währungsaufwertung bedeutet, wodurch Produkte und Dienstleistungen ihre Wettbewerbsfähigkeit verloren hätten. Zum anderen habe die Privatisierungspolitik der Treuhand zur Zerschlagung der ostdeutschen Industrie geführt.

Privatisierung der Staatsbetriebe
Die Folge seien Verhältnisse gewesen, die zu einer geringeren Produktivität der ostdeutschen Wirtschaft führten. So seien einerseits fast zwei Millionen gut ausgebildete Arbeitskräfte in den Westen migriert, bei einer Erwerbsbevölkerung, die 1990 bei rund neun Millionen lag. Andererseits seien ab den neunziger Jahren bestimmte nicht konkurrenzfähige Wirtschaftsbetriebe durch Subventionen am Leben erhalten worden, um die mit der massenhaften Arbeitslosigkeit einhergehende soziale Krise nicht noch zu verschärfen.

Dieser Erklärungsansatz, der sich so oder ähnlich in den meisten Veröffentlichungen zur Lage in Ostdeutschland findet, ist insofern stimmig, als die soziale Lage der ostdeutschen Bevölkerung tatsächlich direktes Resultat politischer Entscheidungen als auch wirtschaftlicher Entwicklungen ist. Dabei ist die Entscheidung für die Privatisierung der Staatsbetriebe durch die Treuhand die bekannteste und meistdiskutierte Maßnahme. Auch der Rückgang der Zahl von ­Ostdeutschen in bezahlten Leitungspositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Justiz und Verwaltung in den neunziger Jahren ist mittlerweile Gegenstand der Debatte. Gegen rentenpolitische Entscheidungen bei der Überführung des DDR-Sozialsystems in das der BRD, durch die Angehörige bestimmter Berufsgruppen wie Bergleute oder Beschäftigte im Gesundheitswesen, aber auch geschiedene Frauen den Ansprüchen der entsprechenden Gruppen im Westen gleichgestellt wurden und dadurch faktisch Rentenansprüche verloren, haben die Betroffenen jahrelang erfolglos gekämpft.

Es ist kein Zufall, dass zwar dieses Jahr in Ostdeutschland ein höheres Wirtschaftswachstum erwartet wird als im Westen, aber die einzige Industrieansiedlung im Osten, die tatsächlich zu einem Wirtschaftswachstum führt, der Bau der Tesla-Fabrik in Grünheide bei Berlin ist.

Kaum thematisiert werden die Folgen der Entscheidung, Ansprüche von Grundeigentümern, die Immobilieneigentum in Ostdeutschland oder als Verfolgte im Nationalsozialismus verloren hatten, nach dem Grundsatz »Rückgabe vor Entschädigung« zu regeln, was mehr als eine halbe Million Altbauwohnungen und eine Million Eigenheim- und Wochenendgrundstücke betraf. Eine große Anzahl Ostdeutscher verlor so die von ihnen bewohnten Immobilien und teils die in diese getätigten Investitionen.
Diese Entscheidungen wirken sich nicht nur bis heute in der unterschiedlichen Vermögensverteilung zwischen West- und Ostdeutschland aus. Sie führen vor allem dazu, dass die soziale Situation in Ostdeutschland von vielen der dort lebenden Menschen vorwiegend als Resultat von Fremdbestimmung durch Westdeutsche interpretiert wird. Dementsprechend soll ein »neues ostdeutsches Selbstbewusstsein«, wie es kürzlich der Ministerpräsident von Brandenburg, Dietmar Woidke (SPD), forderte, die Lage bessern, oder die Förderung von Ostdeutschen in politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Führungspositionen.

In solchen Überlegungen wird aber der Stand der kapitalistischen Entwicklung ignoriert. Dass nach 1990 westdeutsche Konzerne in Ostdeutschland nicht in großer Zahl hochproduktive Betriebe mit großer Beschäftigtenzahl hochgezogen haben, ist eben nicht Resultat der westdeutscher Boshaftigkeit, sondern des Umstands, dass derartige Investitionen keine gelingende Kapitalverwertung versprachen, die sich in der globalen Konkurrenz bewähren würde. Es ist kein Zufall, dass zwar dieses Jahr in Ostdeutschland ein höheres Wirtschaftswachstum erwartet wird als im Westen, aber die einzige Industrieansiedlung im Osten, die tatsächlich zu einem Wirtschaftswachstum führt, der Bau der Tesla-Fabrik in Grünheide bei Berlin ist, also die Investition eines ausländischen Autokonzerns, der die deutsche Automobilindustrie auf ihrem heimischen Markt herausfordert. Ohne Tesla würde das industrielle Wachstum in West- und Ostdeutschland stagnieren.

Niedriglohnregime dauerhaft abgesichert
Vielen Ostdeutschen erging es nach 1990 ähnlich wie der Bevölkerung in den von der (west)deutschen Industrie niederkonkurrierten west-, süd- und osteuropäischen Volkswirtschaften. Ihre Arbeitskraft war bzw. ist da interessant, wo sie entweder gut qualifiziert Lücken in der bestehenden westdeutschen Industrie füllt oder den Niedriglohnsektor am Laufen hält. Zwar sicherte die Ausweitung des bundesdeutschen Sozialstaates ebenso wie staatlich gelenkte Investitionen in die neuen Bundesländer ein Wohlstands­niveau weit oberhalb anderer ehemals realsozialistischer Länder, doch mit den Hartz-Reformen haben SPD und Grüne 2005 ein Niedriglohnregime dauerhaft administrativ abgesichert.

Die gegenwärtige Debatte über die sogenannte Ostidentität wird maßgeblich von der Klage bestimmt, dass ­diese Situation dem Versprechen von nationaler Einheit als Garantie des Zugangs zu Wohlstand, wie von Kohl formuliert, widerspricht. Die Förderung von Ostdeutschen in Führungspositionen würde am bestehenden Wohlstandsgefälle nichts ändern. Eventuell interessanter sind da Auseinandersetzungen wie der Streik bei der Thüringer Waldquell Mineralbrunnen GmbH in Schmalkalden am 16. Mai. Das Unternehmen, das zum hessischen Konzern Hassia Mineralquellen gehört, produziert heutzutage die nostalgisch verklärte Vita-Cola, in den 1950ern in der DDR als Coca-Cola-Ersatz entwickelt. Nach wie vor verdienen die Beschäftigten in Schmalkalden weniger als ihre Kollegen im Westen: Bei einer um zwei Stunden längeren wöchentlichen Arbeitszeit sind es derzeit monatlich 195 Euro weniger. Der Warnstreik bei Waldquell ist nach 34 Jahren der erste Versuch, daran etwas durch einen direkten Arbeitskampf zu ändern – und der erste Streik in dem Betrieb seit der Wiedervereinigung.