Bei den Verhandlungen zwischen den beiden rivalisierenden libyschen Regierungen gibt es Fortschritte

Einigung mit Hindernissen

In Libyen stellt der Streit über einen Drohnenangriff die jüngst erzielten Fortschritte bei Verhandlungen zwischen den rivalisierenden Regierungen des Landes in Frage.

Ein Bombardement, zwei Interpretationen: Die Drohnenangriffe der vergangenen Woche in der Stadt Zawiya – etwa 50 Kilometer westlich von Tripolis – und dem nahegelegenen Hafen al-Maya seien ein erfolgreicher Schlag gegen Menschen- und Drogenhändler gewesen, hieß es seitens der von Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba geführten Regierung in Tripolis. Das ostlibysche Parlament, das seit 2014 in Tobruk tagte, wegen Unruhen in der Stadt aber nach Bengasi umzog und eine konkurrierende, international nicht anerkannte Regierung stützt, bezeichnete den Angriff hingegen als »Begleichung politischer Rechnungen«, Ziel sei der Abgeordnete Ali Bouzribah gewesen. Dieser gab an, sein Neffe sei verletzt worden. Am Montag voriger Woche blockierten Milizionäre Pipelines nahe der Ölraffinerie in Zawiya.

Der Konflikt stellt die in jüngster Zeit erzielten Fortschritte bei den Verhandlungen zwischen den Regierungen, die zwei rivalisierende Milizenkoalitionen repräsentieren, in Frage. Als Fortschritt galt der Beginn von Gesprächen zwischen jeweils sechs Abgesandten des ostlibyschen Parlaments in Tobruk und des konkurrierenden Hohen Staatsrats in Tripolis über eine gemeinsame Verfassung am 22. Mai in Marokko, die eine Voraussetzung für die Abhaltung von Wahlen ist – diese hätten bereits Ende 2021 stattfinden sollen. Der Zeitplan der Uno sieht nun eine Einigung bis Mitte Juni vor, der UN-Sondergesandte für Libyen, Abdoulaye Bathily, ist optimistisch, dass der Termin eingehalten und bis Ende des Jahres Wahlen stattfinden können.

Den Optimismus stärkte auch ein Führungswechsel in Ostlibyen. Ministerpräsident Fatih Bashagha, der seit über einem Jahr versucht hatte, den in Tripolis regierenden Konkurrenten Dbeiba gewaltsam zu stürzen, wurde überraschend am 16. Mai vom Parlament in Tobruk seines Amtes enthoben. Sein Nachfolger Osama Hamada drohte seither nicht damit, Dbeiba aus Tripolis zu vertreiben; dies wird als Zeichen gewertet, dass der Milizenführer Khalifa Haftar, der als militärischer Schutzherr der ostlibyschen Regierung de facto die Leitlinien der Politik vorgibt, bereit zu einer Teilung der Macht ist.

Die Amtsenthebung des ehemaligen Kampfpiloten Bashagha wurde damit begründet, dass er sich der Korruption schuldig gemacht habe und es ihm nicht gelungen sei, Dbeiba zu entmachten. Analyst:innen wie der Politologe Jalel Harchaoui gehen davon aus, dass Bashagha wegen seines Scheiterns im Kampf um die Macht für Haftar keinen Nutzen mehr gehabt habe und deshalb abgesetzt worden sei. Bis dahin habe er vor allem dazu gedient, der ­Regierung in Tripolis Zugeständnisse abzupressen.

Ob eine Aufteilung der Macht  gelingt, ist fraglich – und sollte es dazu kommen, hätte keines der beiden Lager Interesse an Wahlen, deren Ergebnis ihr Arrangement in Frage stellen könnte.

Als positives Zeichen gilt auch, dass sich Haftars Sohn Saddam häufiger zu Gesprächen mit Ibrahim Dbeiba, dem Neffen des Ministerpräsidenten aus Tripolis, getroffen hat. Die Verständigung wird offenbar von den wichtigsten ausländischen Garantiemächten – Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate für Haftar, die Türkei für Dbeiba – unterstützt. Ob eine Aufteilung von Macht und Ressourcen gelingt, ist jedoch fraglich – und sollte es dazu kommen, hätte keines der beiden Lager Interesse an Wahlen, deren Er­gebnis ihr Arrangement in Frage stellen könnte.

Unklar bleibt zudem die Rolle Russlands. Haftar ist noch immer auf die russischen Söldner der Gruppe Wagner angewiesen. Sie kontrolliert die Luftwaffenbasen in Haftars Machtbereich, auf denen russische Kampf- und Transportflugzeuge stationiert sind. Die Wagner-Söldner agieren relativ autonom und setzen die Interessen ihres Firmeninhabers, Jewgenij Prigoschin, und der russischen Regierung durch. Haftars Verhältnis zu Präsident Wladimir Putin gilt als belastet, da der Milizenführer den Präsidenten mehrfach öffentlich düpiert hat, zum Beispiel als er 2020 Moskau verließ, ohne ein von Russland vermitteltes Friedensabkommen zu unterzeichnen.

Der Ausbruch des Bürgerkriegs im Sudan stellt diese Kooperation vor eine weitere Belastungsprobe. Wagner kooperiert mit einer sudanesischen Bürgerkriegspartei, den Rapid Support Forces (RSF) von Hamdan Dagalo, beim Schmuggel von Gold aus dessen Minen. Haftar drohen Sanktionen der USA, falls er die Kooperation mit Wagner nicht einstellt.

Am 19. April legte das Wall Street Journal zudem Waffenlieferungen von Wagner an die RSF offen. Boden-Luft-Raketen und panzerbrechende Waffen seien über mehrere Luftwaffenbasen in Haftars Machtbereich eingeflogen und vom südlibyschen al-Kufra aus über Land zu Dagalos Anhängern transportiert worden. Die Waffenlieferungen hätten bereits Tage vor dem Ausbruch der Kämpfe am 15. April begonnen, was auf eine Mitverantwortung Russlands an dem Ausbruch des Kriegs im Sudan hindeuten könnte.

Kurz nach Veröffentlichung des ­Artikels hörten die Waffenlieferungen plötzlich auf, ein Sprecher von Haftars »Libyscher Nationaler Armee« stritt die Vorwürfe daraufhin als »billig und ­gewissenlos« ab. Ein möglicher Grund für das Ende der Waffenlieferungen könnte jedoch auch sein, dass Dagalos Widersacher die Grenzregion zu Libyen bald unter ihre Kontrolle bringen und diese Route blockieren konnten.

Haftars Rolle ist keineswegs die eines passiven Beobachters. Ein anderer Sohn Haftars, Sadiq, hatte sich wenige Tage vor dem Ausbruch des Kriegs im Sudan in der Hauptstadt Khartoum mit Dagalo getroffen. Gleichzeitig hatte Khalifa Haftar einen mit Dagalo und der Gruppe Wagner verfeindeten Mi­lizenführer in Libyen verhaften lassen, dessen Männer in den Jahren zuvor als Söldner für Haftar gekämpft hatten. Die Gründe dafür sind allerdings auch in den Konkurrenzkämpfen grenzüberschreitender Schmugglernetzwerke zu suchen.

Die Verbindungen Haftars zu Dagalo dürften vor allem Ägypten verärgert haben, dessen Militärregime der sudanesischen Armee im Kampf gegen die RSF hilft, während Russland und die Vereinigten Arabischen Emirate zumindest zeitweise Dagalo unterstützten. Die unübersichtliche Lage im Sudan ist für Libyen eine weitere Quelle der Instabilität, zumal die Kriegshandlungen jederzeit auf das nördliche Nachbarland übergreifen können.

Auch die humanitäre Krise im Sudan wirkt sich auf Libyen aus. Das Land ist trotz einer verbesserten Versorgungslage und wiederaufgenommener Ölexporte wirtschaftlich von den eigenen bewaffneten Konflikten gezeichnet und wäre auf die Ankunft einer großen Zahl von sudanesischen Geflüchteten kaum vorbereitet. Dies hätte auch Auswirkungen auf Europa, da Libyen ein Haupttransitland auf der Fluchtroute übers Mittelmeer ist. Die meisten Sudanes:innen fliehen allerdings in andere Nachbarländer, nach Ägypten, in den Südsudan oder Tschad, was sicherlich auch an der schwierigen Landreise durch die südlibysche Sahara liegt. Die abschreckenden Berichte über Misshandlungen, Gewalt und Folter in libyschen Haftlagern für Migrant:innen dürften ein weiterer Grund sein.

Zahlreiche EU-Staaten verstärken ihre diplomatische Präsenz in Libyen, ­wegen der verbesserten Sicherheitslage werden immer mehr Konsulate wiedereröffnet und Verträge über Gas- und Öllieferungen abgeschlossen. Doch das Hauptinteresse gilt weiterhin der Abwehr von Geflüchteten. Insbesondere Italiens neue Regierung unter der rechtsextremen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni setzt hier Maßstäbe. Während bisherige italienische Re­gierungen vor allem mit Dbeiba verhandelten, unterhält Meloni auch ­Kontakte zu Haftar.

Sie ließ den in einem Zivilprozess in den USA wegen Kriegsverbrechen verurteilten und von der EU bislang diplomatisch geächteten Kriegsherrn am 4. Mai gar nach Rom einladen und unterhielt sich zwei Stunden lang mit ihm über das Thema Geflüchtete. Kurz darauf ließ Haftar seine Milizen öffentlichkeitswirksam Dutzende Flüchtlinge aus den Fängen angeblicher Menschenhändler »befreien«, die kurz davor gewesen seien, nach Italien aufzubrechen. Diese Show kann jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass auch Haftars Milizen in diese Geschäfte und andere kriminelle Machenschaften ­involviert sind.