Die Polizei ging hart gegen eine angemeldete Demonstration in Leipzig vor

Elf Stunden im Kessel

Trotz des Verbots der angekündigten »Tag X«-Demonstration nach der Urteilsverkündigung im Prozess gegen Lina E. sowie aller weiteren Demonstrationen mit Bezug zum Verfahren gingen am Samstag mehrere Tausend Menschen in Leipzig auf die Straße. Doch auch diese Demonstration endete schnell in einem Polizeikessel.

Für einige Augenblicke schien es am Samstagnachmittag so, als wären die tagelangen Diskussionen über Demoverbote überflüssig gewesen. Bis zu 2.000 Menschen versammelten sich gegen 17 Uhr am Alexis-Schumann-Platz in der Leipziger Südvorstadt, um an einer Demonstration unter dem Motto »Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig« teilzunehmen. Angemeldet hatte ihn der Verein »Say It Loud«.

Es war zwar nicht die ursprünglich geplante »Tag X«-Demonstration, die zwei Tage zuvor verboten worden war, aber Inhalte und Teilnehmer:innen hätten sich wenig voneinander unterschieden. Doch obwohl es sich um eine angemeldete Demo handelte, untersagte die Polizei den Versammelten das Loslaufen vom Alexis-Schumann-Platz. Viele von ihnen fanden sich kurz darauf in einem Polizeikessel wieder.

Schon vor über einem Jahr hatten Antifaschist:innen eine Demonstration in Leipzig für den Fall der Verurteilung von Lina E. angekündigt. »Wenn ein Urteil im Antifa-Ost-Verfahren gesprochen wird – egal, wie es ausfällt –, werden wir am darauffolgenden Samstag in Leipzig auf die Straße gehen und Staat, Justiz und Polizei zeigen, wie wütend wir sein können, wenn unsere Genoss*innen in den Knast gesteckt werden«, hieß es im Juli vergangenen Jahres in einem online veröffentlichten Aufruf.

Doch der sogenannte Tag X ließ auf sich warten. Unter anderem die Aussagen des als »Kronzeuge« oder in der linken Szene auch als »Verräter« bezeichneten Johannes D. zogen den Prozess in die Länge.

Die Polizei richtete für das komplette Wochenende einen sogenannten Kontrollbereich ein, der große Teile Leipzigs umfasste. Dies ermöglichte sogenannte verdachts-
unabhängige Personenkontrollen.

Am Mittwoch vergangener Woche war es schließlich so weit. 631 Tage nach dem Prozessauftakt verurteilte das Oberlandesgericht Dresden Lina E. zu einer Gefängnisstrafe von fünf Jahren und drei Monaten wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, mehrfacher gefährlicher Körperverletzung, Sachbeschädigung, Urkundenfälschung, Diebstahl und Nötigung. Sie war ebenso wie die drei Mitangeklagten nach Auffassung des Gerichts an mehreren Angriffen auf tatsächliche oder vermeintliche Neonazis beteiligt.

Freigesprochen wurde sie jedoch von den Vorwürfen, an Überfällen auf Cedric S. in Wurzen und den ehemaligen NPD-Stadtrat Enrico B. in Leipzig beteiligt gewesen zu sein. Die Mitangeklagten erhielten Freiheitsstrafen von zwei Jahren und fünf Monaten, drei Jahren sowie drei Jahren und zwei Monaten. Lina E. wurde nach zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft zunächst freigelassen und muss den Rest ihrer Strafe antreten, sobald das Urteil rechtskräftig ist.

»In hohem Maße politisch motiviert«
Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats erläuterte über acht Stunden das Urteil und trat dem Vorwurf entgegen, dass Verfahren und Urteil politisch motiviert gewesen seien. Die Verteidigung hatte insbesondere der Bundesanwaltsschaft, aber auch dem Richter Voreingenommenheit vorgeworfen. Schlüter-Staats wollte davon nichts wissen. Wer dem Gericht politische Justiz vorwerfe, dem »empfehle ich einen Besuch in Hohenschönhausen«, wo sich das frühere Stasi-Gefängnis befindet, zitierte ihn die Süddeutsche Zeitung.

Ulrich von Klinggräff, Verteidiger von Lina E., sagte am Abend im ZDF: »Wir bleiben bei unserer Einschätzung, dass das Vorgehen insbesondere der Bundesanwaltschaft in hohem Maße politisch motiviert ist.« Ähnlich äußert sich Einar Aufurth, Verteidiger eines Mitangeklagten, gegenüber der Jungle World: »Ich halte es insgesamt für ein krasses Fehlurteil. Die Beweisführung beruht weitgehend auf vagen Indizien.«

Als Beispiel nennt er die Bewertung von abgehörten Gesprächen. »Diese lassen sich unterschiedlich interpretieren, aber das Gericht ist dabei sehr einseitig vorgegangen und ist immer der Sicht der Bundesanwaltschaft gefolgt.« Mit diesen Einwänden muss sich demnächst der Bundesgerichtshof befassen, denn die Verteidiger:innen haben Revision gegen das Urteil eingelegt.

In einem demokratischen Rechtsstaat dürfe es »keinen Raum für Selbstjustiz« geben, begrüßte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) das Urteil. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb auf Twitter: »Extremismus bekämpft man nicht mit Extremismus.«

»Starke Signalwirkung«
Reaktionen gab es auch aus der sächsischen Landespolitik. Der sächsische Innenminister Armin Schuster (CDU) sprach von einer »starken Signalwirkung« und kündigte an: »Wir werden weiter ermitteln, das Netzwerk weiter aufdecken und sind zuversichtlich, weitere Straftäter vor Gericht bringen zu können.« Seit der Festnahme von Lina E. kommt es in Leipzig vermehrt zu Hausdurchsuchungen bei Linken und Antifaschist:innen.

Ursprünglich war die »Tag X«-Demonstration vor allem als Reaktion auf den Prozess in Dresden gedacht. Allerdings zeichnete sich bereits in den Tagen kurz vor der Urteilsverkündung ab, dass sich der Protest eher gegen die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit richten würde. Die Polizei richtete für das komplette Wochenende einen sogenannten Kontrollbereich ein, der große Teile Leipzigs umfasste. Dies ermöglichte sogenannte verdachtsunabhängige Personenkontrollen. Die Stadt erließ zudem eine »Allgemeinverfügung zur Einschränkung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit im Zusammenhang mit dem sogenannten Antifa-Ost-Prozess/Tag X«, die Versammlungen im Zusammenhang mit dem Antifa-Ost-Verfahren am Wochenende untersagte, sofern sie nicht bis Mittwochnacht angezeigt worden waren.

Die bereits Ende April angemeldete »Tag X«-Demo war demnach zunächst nicht betroffen, doch ihr Verbot folgte am Donnerstag vergangener Woche. Gefahrenprognose der Polizei, Lageeinschätzung des Verfassungsschutzes und »weitere Erkenntnisse der Versammlungsbehörde« hätten zu der Bewertung geführt, dass ein »unfriedlicher Verlauf« zu erwarten sei. Ausschließlich eine Verbotsverfügung könne eine »effektive Gefahrenabwehr« gewährleisten, teilte das Ordnungsamt mit. Bereits im Oktober 2021 hatte die Stadt eine Antifa-Demonstration mit nahezu identischer Begründung verboten.

Lage außer Kontrolle
Nicht verboten wurde die Demons­tration des Vereins »Say It Loud« am Samstagnachmittag, die sich gegen die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit richtete. Teilnehmer forderten mit Sprechchören die Freilassung sämtlicher inhaftierter Antifaschist:innen und die Abschaffung des Paragraphen 129 StGB. Offenbar kamen viele Personen zu der Versammlung, die ansonsten wahrscheinlich an der »Tag X«-Demo teilgenommen hätten.

Stadt und Polizei reagierten auf die große Menschenmenge so, wie sie bereits am Mittwochabend im Leipziger Osten reagiert hatten. Dort war einem von der Antifaschistischen Vernetzung Leipzig (AVL) angemeldeten Aufzug kurzerhand verboten worden, die genehmigte Demonstrationsroute zu laufen, weil viele Personen vermummt gewesen seien und deutlich mehr Personen gekommen waren als zuvor angegeben; es folgten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten.

Angeblich in Absprache mit den Organisator:innen – so die Durchsage der Polizei – wurde die Demonstrationsroute am Samstag eingeschränkt. Dieser Darstellung widersprach ein Vertreter des Vereins an Ort und Stelle gegenüber der Jungle World. Für einige Minuten geriet die Lage außer Kontrolle: Flaschen und Steine flogen auf die Polizei; diese wiederum stürmte von allen Seiten in die Demonstration und zerschlug diese damit.

Kritik an Polizeiverhalten und Demonstrationsverboten äußerten auch Politiker der Grünen und der SPD; ­beide Parteien sind in Sachsen an der Regierung beteiligt.

Hunderte Personen fanden sich in einem Polizeikessel wieder, der erst elf Stunden später am nächsten Morgen vollständig aufgelöst wurde, nachdem wegen des Verdachts des schweren Landfriedensbruchs die Personalien aller Festgehaltenen aufgenommen worden waren. Zunächst sprach die Polizei von 300 bis 400 eingekesselten Personen, am Sonntag korrigierte sie die Zahl auf rund 1.000 nach oben. Insgesamt seien am gesamten Wochenende 50 Personen in Gewahrsam genommen worden, zehn Personen blieben in Untersuchungshaft.

»Say It Loud« kritisierte in einer Presseerklärung am Tag darauf, dass die Polizei nie vorgehabt habe, die Demonstration laufen zu lassen, die Lage durch ihre Umzingelung eskaliert habe, und dass Minderjährige die Nacht über im Kessel festgehalten worden seien. Die Linkspartei beantragte am Montag eine Sondersitzung des Innenausschusses im Landtag.

Kritik an Polizeiverhalten und Demonstrationsverboten äußerten auch Politiker der Grünen und der SPD; ­beide Parteien sind in Sachsen an der Regierung beteiligt. So sprach beispielsweise der SPD-Landtagsabgeordnete Albrecht Pallas, früher selbst ­Polizist, von einer »provozierenden Herangehensweise«, »unnötiger Härte« und einer »eskalierenden Wirkung«. Innenminister Schuster hingegen forderte ein »Konzept gegen Linksextremismus«, wie es das in Sachsen bereits gegen Rechtsextremismus gebe. Schuster sagte, er habe das Thema für die nächste Innenministerkonferenz von Bund und Ländern angemeldet. Bundesinnenministerin Faeser kündigte an, »die gewaltbereite linksextremistische Szene in den kommenden Tagen und Wochen weiterhin ganz genau im Fokus zu behalten«.

Kurzfristig riefen verschiedene Gruppen für Sonntagabend zu einer Demonstration gegen Polizeigewalt und behördliche Willkür auf. Auch diese wurde, kaum war sie angemeldet, unter Berufung auf die noch geltende ­»Allgemeinverfügung« der Stadt Leipzig postwendend verboten.