Hunderttausende demonstrieren gegen ein neues Gesetz in Polen, das die Opposition schwächen soll

Massenproteste gegen die Lex Tusk

In Warschau protestierten am Wochenende Hunderttausende gegen die polnische Regierung. Kritiker werfen der Regierung vor, den aus­sichtsreichsten Oppositionskandidaten für die Wahlen im Herbst ausschalten zu wollen. Hintergrund ist die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung der russischen Einflussnahme in Polen.

­Am Wochenende gab es in Polen die größten Proteste seit langem. In Warschau zog eine Demonstration von bis zu einer halben Million Menschen durch die Stadt, auf der abschließenden Kundgebung sprachen der ehemalige Ministerpräsident und jetzige Oppositionsführer Donald Tusk und Lech Wałęsa, ehemaliger Anführer der siegreichen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Der 4. Juni, der Tag der Demonstration, hat in Polen große symbolische Bedeutung, denn an diesem Tag jährt sich die 1989 abgehaltene erste einigermaßen freie Wahl nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Vorwurf, den die Opposition gegen die von der nationalkonservativen Partei Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit, PiS) dominierte Re­gie­rung erhebt, wiegt schwer: Sie wolle unter dem fadenscheinigen Vorwand, Polen vor dem Einfluss der russischen Autokratie zu schützen, den Oppositionsführer Tusk diskreditieren und womöglich gänzlich aus dem politischen Leben verbannen.

Hintergrund ist ein Gesetz, das die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung russischer Einflussnahme auf die polnische Politik vorsieht. Am 29. Mai hatte Polens Präsident Andrzej Duda das Gesetz unterschrieben – nachdem er zuvor hatte verlauten lassen, es nicht zu tun. Am Freitag verkündete Duda, er habe dem Parlament Änderungsvorschläge zu dem von ihm unterzeichneten Gesetz vorgelegt, über welche dieses nun entscheiden werde.

Das Gesetz in seiner ursprünglichen Fassung war am 26. Mai im Sejm, dem polnischen Parlament, nach einer hitzig geführten Debatte mit 234 zu 219 Stimmen verabschiedet worden. Damit war der polnische Präsident der Einzige, der das Gesetz noch mit einem Veto hätte stoppen können. Dass Duda sich gegen die Regierungspartei PiS stellen würde, in der er mehrere Jahre Karriere gemacht hatte – auch wenn er nach seiner Wahl zum Präsidenten auf seine Mitgliedschaft verzichtete, um Überparteilichkeit zu suggerieren –, galt als unwahrscheinlich. Jarosław Kaczyński, PiS-Parteivorsitzender sowie de facto-Machthaber in Polen, hatte Duda 2015 für das Präsidentenamt vorgeschlagen.

Angebliches Ziel des Gesetzes ist es, den Einfluss Russlands auf die innere Sicherheit Polens in den Jahren 2007 bis 2022 zu untersuchen. Ab 2007 führte die Platforma Obywatelska (PO) die Regierung, zunächst unter Tusk, von 2014 bis 2015 unter seiner Nachfolgerin Ewa Kopacz. Dann kam PiS an die Macht. Die EU und die USA äußerten sich »besorgt« über das von der Opposition als »Lex Tusk« bezeichnete Gesetz.

Viele Rechtsexperten, darunter Mirosław Wyrzykowski, Professor an der Universität Warschau und ehemaliger polnischer Verfassungsrichter, halten das Gesetz für eindeutig verfassungswidrig.

Tusk selbst verfolgte die Abstimmung von der Sejm-Zuschauertribüne aus und sagte anschließend der Presse: »Sie haben heute die Feiglinge gesehen, die für eine Kommission gestimmt haben, die ihren gefährlichsten Gegner ausschalten soll.« Die Regierung hingegen behauptet, die Kommission sei notwendig, um unter anderem Gasverträge mit Russland zu untersuchen, die Polen zur Zeit der Regierung Tusk abgeschlossen hatte und die Russland ­Vorteile verschafft haben sollen.

Zu diesem Zweck wird eine neunköpfige Kommission vom Parlament ernannt – in dem die PiS die Mehrheit stellt. Der Gesetzgeber definiert »russische Einflussnahme« als jede Handlung, »die darauf abzielt, die Handlungen von Unternehmen oder Behörden der Republik Polen zu beeinflussen«. Die Kommission kann eigenständig entscheiden, gegen wen sie ermittelt. Zu diesem Zweck sieht das Gesetz ausdrücklich vor, dass nahezu alle Organe des polnischen Staats, vom Geheimdienst über die Verwaltung bis hin zu den Gerichten, der Kommission alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel und Dokumente zur Verfügung stellen müssen.

In seiner derzeitigen Fassung sieht das Gesetz vor, dass die Kommission, wenn sie ein Fehlverhalten feststellt, Amtsträger für bis zu zehn Jahre von der Ausübung ihres Amtes ausschließen kann, wenn dieses Amt die Kontrolle öffentlicher Gelder umfasst. Damit wird die Sonderkommission zu einer Art Staatsanwaltschaft und Gericht zugleich, ihre Mitglieder sind von jeder strafrechtlichen Verantwortung befreit und müssen das Zustandekommen ihrer Urteile nicht öffentlich begründen.

Der Gesetzgeber definiert »russische Einflussnahme« als jede Handlung, »die darauf abzielt, die Handlungen von Unternehmen oder Behörden der Republik Polen zu beeinflussen«.

Die Regierung gab sich nach der Verabschiedung demonstrativ selbstbewusst. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki (PiS) betont, er halte das Gesetz nicht für verfassungswidrig, und wenn doch, dann könne dies das Verfassungsgericht feststellen. Das ist allerdings mit regierungsloyalen Richtern besetzt. Duda wiederum sagte, er werde Morawiecki vorschlagen, einen ähnlichen Entwurf auf EU-Ebene einzubringen. Beide Aussagen sollen das Gesetz vor allem in den Augen der polnischen Bevölkerung als verfassungskonform und akzeptabel erscheinen lassen. Viele Rechtsexperten, darunter Mirosław Wyrzykowski, Professor an der Universität Warschau und ehemaliger polnischer Verfassungsrichter, halten das Gesetz für eindeutig verfassungswidrig.

Am Freitag voriger Woche wies Duda dann darauf hin, dass die von ihm vorgeschlagenen Änderungen darauf zielten, Parlamentsmitgliedern zu verbieten, Mitglied der Kommission zu werden, und Berufungen gegen Urteile der Kommission vor ordentlichen Gerichten und nicht nur vor Verwaltungsgerichten zuzulassen. Bestimmungen, die den Ausschluss von Verurteilten aus öffentlichen Ämtern ermöglichten, würden ebenfalls gestrichen, so Duda. Stattdessen schlage er vor, diese Sank­tion »durch eine Erklärung der Kommission zu ersetzen, dass eine Person, die nachweislich unter russischem Einfluss gehandelt hat, keine Garantie dafür bietet, dass sie ihre Tätigkeit im öffentlichen Interesse ordnungsgemäß ausüben wird«, so der polnische Präsident in einer Erklärung.

Die Opposition hält dies für Augenwischerei. Sollten Tusk und andere Oppositionspolitiker als so etwas wie russische Agenten öffentlich gebrandmarkt werden, habe das immer noch einen stark wettbewerbsverzerrenden Einfluss auf die kommenden Wahlen – auch wenn Tusk nunmehr nicht mehr davon ausgeschlossen werden könnte.
Die bevorstehenden Wahlen in Polen gelten als richtungsweisend. Seit der Machtübernahme von Jarosław Kaczyńs­ki und seiner PiS im Oktober 2015 wurden kontinuierlich Maßnahmen zum Abbau der polnischen Demokratie ergriffen, wie die Reform des Verfassungsgerichts, die zunehmende staatliche Kontrolle der öffentlichen Medien und restriktive Wahlgesetze. Sollte die PiS auch die kommenden Wahlen gewinnen, befürchten Beobachter eine weitere Regierungsperiode, die künftige Macht­wechsel noch unwahrscheinlicher werden lassen dürfte.