Guter Jude, schlechter Jude
Der Umstand, dass die Hamas ihrer nachgereichten Kriegserklärung vom 21. Januar den Titel »Our Narrative – Operation Al-Aqsa Flood« gegeben hat, ist bemerkenswert. Nicht nur machte die Auslandsführung der Organisation, die für das Papier verantwortlich zeichnet, mit der Bezeichnung als Narrativ klar, dass sie ihre Propaganda ganz bewusst jenseits von Wahrheit und Lüge verortet, so dass sich die Fleißarbeit der Faktenchecker angesichts des Gespinstes aus Halbwahrheiten, Auslassungen, glatten Lügen und antikolonialer Rhetorik von vornherein als müßig erweist. Sie schließt durch die ungewöhnliche Wortwahl auch an einen Jargon an, der in den von Poststrukturalismus und Dekonstruktion informierten Nach-Geisteswissenschaften seit langem schon hegemonial ist.
Von vorneherein weist Chaouat die Dekonstruktion als seine intellektuelle Heimat aus und zeigt sich nicht nur Derrida, sondern auch seinem Lehrer Lyotard tief verpflichtet.
Bezeugt wird damit ein Bündnis, das sich bereits unmittelbar nach den Massakern vom 7. Oktober zu formieren begann und dann an diversen Universitäten in den USA den antizionistischen Aufstand probte, der vor allem von den Seminaren und Instituten der traditionell linken humanities ausging. Nicht zuletzt aufgrund der offensichtlichen Unfähigkeit der jeweiligen Universitätsleitungen, einen adäquaten Umgang mit den Protesten zu finden, hat sich das Phänomen seither verallgemeinert und die Protestcamps haben sich auch hierzulande etabliert. In der Folge ist eine hitzige Diskussion darüber entbrannt, ob und inwiefern die etablierten Theorien, die heutzutage als links und progressiv gelten, für eine Täter-Opfer-Umkehr verantwortlich gemacht werden müssen, die zumindest stellenweise in einer euphorischen Delegitimierung Israels gipfelte.
Insbesondere die postkoloniale Theoriebildung ist in diesem Zusammenhang schon lange Gegenstand der Kritik, man kann die Sache aber auch weiter fassen und das sogenannte postmoderne Denken, also Poststrukturalismus und Dekonstruktion, oder wie man in den Vereinigten Staaten sagt: French theory und New Criticism insgesamt auf den Prüfstand stellen.
Der akademische Kampf gegen den Zionismus
Das geht naturgemäß auf Kosten der Differenziertheit, gerät leicht zum wohlfeilen Pomo-Bashing und droht, einer geist- und theoriefeindlichen Reaktion in die Hände zu spielen, die das kritische Urteil am liebsten im Rekurs auf den gesunden Menschenverstand und schlichte Fakten begründen möchte und der abgehobenen Theorie mit wohlgehegtem Ressentiment begegnet. Dagegen wäre der Anspruch, die Dinge nicht einfach so, sondern umfassend und in ihrer überschießenden Komplexität auf den Begriff zu bringen, der auch die Dekonstruktion als intellektuelles Projekt einmal getragen hat, jederzeit zu verteidigen. Wer Derrida und die Dekonstruktion kampflos aufgibt, der wird auch Adorno und die Kritische Theorie verlieren, und wer augenscheinliche Wahrheiten und schlichte Fakten umstandslos gegen den Relativismus und die Situiertheit des postmodernen Denkens in Anschlag bringt, der hat vom historischen Materialismus nicht viel verstanden.
Und doch ist nicht von der Hand zu weisen, dass es Denker und Denkerinnen waren und sind, die sich emphatisch auf die Postmoderne und die Dekonstruktion berufen, die den akademischen Kampf gegen den Zionismus schon seit vielen Jahren vorantreiben, sich dabei regelmäßig im Ton vergreifen und heute in vorderster Front gegen Israel stehen. Stimmt also doch grundsätzlich etwas nicht mit der postmodernen Theorie?
Die Dekonstruktion als intellektuelle Heimat
Diesem Verdacht geht Bruno Chaouat in seinem Buch »Ist Theorie gut für die Juden?« nach, das auf Englisch bereits 2016 erschienen ist und nun – ganz zur rechten Zeit und versehen mit einem Vorwort, das Bezug auf die aktuellen Ereignisse nimmt – in einer schönen Übersetzung vorliegt. Ihm sind eine möglichst weite Verbreitung und eine interessierte Leserschaft zu wünschen, denn der Autor ist wohltuend differenziert in seinem Urteil, geht unaufgeregt, skrupulös und um Verständnis bemüht zu Werke, verleiht jedoch gerade dadurch einer tiefen politischen und intellektuellen Enttäuschung Ausdruck, die erschüttert, ohne auf plakative Schockmomente zu setzen.
Das liegt zunächst daran, dass Chaouat, der an der University of Minnesota in Minneapolis französische Literatur unterrichtet und unter anderem am dort ansässigen Center for Jewish Studies forscht, kein Feind des postmodernen Denkens ist. Im Gegenteil: Von vorneherein weist er die Dekonstruktion als seine intellektuelle Heimat aus und zeigt sich nicht nur Jacques Derrida, sondern auch seinem akademischen Lehrer Jean-François Lyotard tief verpflichtet.
Personifizierte Nichtidentität
Das Buch setzt sich aus einer ganzen Reihe von Detailstudien zusammen, von denen jede für sich stehen könnte, die zum Teil auch bereits veröffentlicht waren, nun allerdings zu einem Ganzen verbunden wurden, dessen Zusammenhang eine prekär gewordene Bindung an die Theorie, Frankreich und das Judentum stiftet. Und so beginnt Chaouat seine Argumentation mit einem Rückblick auf die eigene Jugend als französischer Jude, für den die Dekonstruktion Mitte der Achtziger zum Versprechen wurde, sich als »entfesselten Juden« neu erfinden zu können.
Ohne praktizierender Jude zu sein, Hebräisch lernen zu müssen, die Tora oder den Talmud zu studieren, so erinnert sich Chaouat, schien ihm das eigene Judentum als personifizierte Nichtidentität die Kraft zu verleihen, Ordnung, Staatsgebiete, Grenzen und so weiter zu untergraben, und es stattete ihn darüber hinaus mit einem »gehörigen Maß moralischer Überlegenheit« aus. Die Dekonstruktion hieß ihn willkommen. Getragen von einer Faszination für das Diaspora-Judentum, die Chaouat rückblickend als durchaus nicht unproblematischen Philosemitismus kritisiert, die ihm zunächst aber schmeichelte, wurde das damals noch frische Denken der Dekonstruktion zur Verheißung für einen, der Identifikation und Zugehörigkeit jenseits der vorgefundenen Identität suchte – und sie geriet zur Enttäuschung.
In dem Maß nämlich, in dem Deterritorialisiertheit, Marginalität und Heimatlosigkeit des jüdischen Lebens in der Diaspora »den Juden« zum abstrakten Ideal der Dekonstruktion als intellektueller Bewegung hatte werden lassen, zog der Zionismus als Bewegung für ein souveränes Territorium, jüdische Selbstbestimmung und eine beständige Heimat in Israel den Hass vieler ihrer Vertreter und Vertreterinnen auf sich. Gerade die romantische Idealisierung des über die Welt verstreuten Judentums zum privilegierten Sprechort der Dekonstruktion wird so zum Quell einer unversöhnlichen Gegnerschaft zur »politischen Metaphysik« des Zionismus.
Es ist diese eigentümliche Verkehrung, die Chaouat von der wirklichen Bewegung der Dekonstruktion zusehends entfremdete und eine umfassende Spurensuche motiviert, deren Bericht er hier vorlegt. Mit Freud lässt sie sich als ein Ausdruck von Melancholie im Gegensatz zu Trauer fassen. Während es bei Trauerprozessen nämlich um die Verarbeitung des tatsächlichen Verlustes eines Objekts geht, bleibt das melancholische Subjekt dem Objekt verhaftet, weil es ein eigenes Begehren in das Objekt hineinprojiziert hat, von dem es nicht mehr lassen kann. Diese verhängnisvolle Bindung entspringt Freud zufolge einer Objektwahl auf narzisstischer Grundlage, und weil sie nicht gelöst werden kann, entwickelt sie sadistische Züge – die Klage über das scheinbar verlorene Objekt gerät zur Anklage gegen das tatsächliche, Liebe verkehrt sich in Hass.
Chaouat selbst spricht nicht von Melancholie, sondern von Hysterie, aber es sind Momente des Umschlags einer libidinösen Überbesetzung des Diaspora-Judentums in einen anklagenden Antizionismus, die er im weiten Feld der postmoderne Theoriebildung zu Hunderten ausfindig macht, referiert und analysiert. Sie bilden das theoretische Leitmotiv des ganzen Buchs.
Der Philosemitismus
Am Anfang der Analyse steht jedoch der Antisemitismus, der »metaphysische Antisemitismus« Martin Heideggers nämlich, der das Projekt der Dekonstruktion von Anfang an durchwest. Chaouat beschreibt diesen Antisemitismus nicht mit Rückgriff auf notorische Gegner Heideggers wie etwa Emmanuel Faye, sondern stützt seine Darstellung auf einen dezidierten Heidegger-Apologeten, einen einfältigen zumal, nämlich Peter Trawny. Diese ist, so schreibt Chaouat, »belastend genug«. Und es ist elegant, nicht nur weil Chaouat dem Vorwurf der politisch motivierten Rancune so den Boden entzieht, sondern auch weil es zeigt, wie offensichtlich und wenig intrikat Heideggers Antisemitismus eigentlich ist.
Entsprechend wurde dieser auch in der sich entwickelnden Dekonstruktion der siebziger Jahre nicht einfach übersehen, oder, wie in der deutschen Debatte, heruntergespielt, sondern es passierte etwas anderes. In Frankreich verkehrte sich Heideggers Antisemitismus in einen Philosemitismus, der all das, was der Meister mehr oder weniger deutlich mit dem Judentum verbunden und für seine Kritik der »Seinsvergessenheit« in Anschlag gebracht hatte, positiv besetzt und in den Dienst einer subversiv-philosophischen Zersetzungsbewegung stellte, die auf die Dekonstruktion der abendländischen Metaphysik kraft unbedingter Negativität aus war.
Ausführlich geht Chaouat auf Texte von Lyotard, Derrida und anderen Gründungsvätern des postmodernen Denkens ein, um diese Aneignungsbewegung zu rekonstruieren, und er verortet sie in einem Frankreich, dessen intellektuelle Entwicklung noch unter dem Eindruck der Shoah und der Besatzung stand, während sie zugleich mit den dekolonialen Aufständen, und also mit einer spezifisch französischen Kolonialschuld, konfrontiert wird. In dieser Zeit kommt es zu folgenreichen Auseinandersetzungen, teilweise auch Spaltungen innerhalb der intellektuellen Linken in Frankreich, die sich spätestens 1967, mit dem Sieg Israels im Sechstagekrieg, zuspitzen sollten.
Und es kommt zu weiteren Verkehrungen, die Chaouat materialreich analysiert: Im Lichte des Kampfs der Algerier und anderer Nationalbewegungen erscheint Frankreich nun selbst als faschistischer Besatzer-Staat und wird mit all den Begriffen belegt, die im Kampf gegen die nationalsozialistische Besatzung geprägt wurden, während das Subjekt der Dekolonisierung seinerseits mit den Zügen jener unbedingten Negativität ausgestattet wird, die man mit und gegen Heidegger dem »Juden« zugeschrieben hatte, und aus dem gerechten Kampf um nationale Selbstbestimmung wird ein metaphysisch überfrachteter, globaler Befreiungskampf gegen den »Faschismus«, mit dem sich viele Vertreter und Vertreterinnen der French theory weniger solidarisierten als vielmehr identifizierten.
Dekonstruktivistisch verklausulierte Intifada
Damit liegen die Steine auf dem Brett, die Chaouat nun in Bewegung setzt, um variantenreich und stets textnah durchzuspielen, wie sich die mit hohem intellektuellem Anspruch angetretene und um Komplexitätsgewinn und ein Denken jenseits binärer Muster bemühte Dekonstruktion in einem allzu simplen und durchaus binären Weltbild einrichtete, um schließlich den Geist der Negation aufzugeben und sich rückhaltlos dem Kampf gegen den Zionismus zu verschreiben. Dass das nicht für die gesamte Dekonstruktion gilt, belegt Chaouat selbst, der sich, wie gesagt, dem postmodernen Denken verpflichtet zeigt, auch wenn er die eigene Prosa von den Schlacken des postmodernen Jargons weithin bereinigt hat. Aber das Bild, das er zeichnet, fällt doch düster aus.
So wird etwa ein Jacques Derrida gewidmeter Sammelband unter dem Titel »Deconstructing Zionism« referiert, den Gianni Vattimo und Michael Marder 2014 herausgaben und in dem sich mit Slavoj Žižek, Walter Mignolo, Luce Irigaray, Judith Butler und einigen weniger bekannten Namen das damalige A-Team der dekonstruktivistisch verklausulierten Intifada vorstellte. Allein über diesen Band und die von Chaouat geleistete Kritik an ihm ließe sich lange sprechen. Denn frappierend ist nicht nur, wie dünn und philosophisch unbedarft die Staatskritik ausfällt, um die es doch eigentlich gehen soll, sondern auch, wie sehr die Dekonstruktion hier bereits zur hohlen Geste geworden ist, ja wie wenig sich die einzelnen Beiträge überhaupt auf die tatsächliche Dekonstruktion beziehen, um stattdessen mit Heidegger und Carl Schmitt Antisemiten erster Ordnung das Feld im Kampf gegen den jüdischen Staat zu überlassen.
In Frankreich verkehrte sich Heideggers Antisemitismus in einen Philosemitismus, der all das, was der Meister mit dem Judentum verbunden hatte, positiv besetzt und in den Dienst einer subversiv-philosophischen Zersetzungsbewegung stellte.
Natürlich wird auch hier der akademisch notdürftig eingehegte Hass auf Israel stets mit einem melancholischen Lobpreis der Diaspora garniert, und zwar programmatisch: »Deconstruction highlights the diasporic condition of all beings.« Die Juden, deren Heimatlosigkeit und ewige Wanderschaft sie dazu verdammen soll, das postmoderne Spiel mit Identität und Subjektivität in den Seminarräumen der Welt zu inspirieren, werden zu Faschisten, sobald sie sich auf die Zumutungen moderner Staatlichkeit einlassen, während die Palästinenser, denen der Staat (nicht ohne eigenes Zutun) verwehrt bleibt, mit allen Merkmalen infantiler Unschuld und überschießender Freiheitsliebe ausgestattet und zu den konkreten Trägern einer abstrakten »Heimsuchung« stilisiert werden, die zwar konkrete Israelis trifft, recht eigentlich und ganz abstrakt jedoch die »neuzeitliche Metaphysik« meinen soll.
Butler und Enzo Traverso, die dem Antizionismus im Namen einer glorifizierten Diaspora-Gemeinschaft ganze Bücher gewidmet haben – »Parting Ways« von Butler ist unlängst auf Deutsch erschienen, Traversos »Das Ende der jüdischen Moderne« liegt bereits seit 2017 vor – liefern Chaouat viel Material, seine Thesen zu plausibilisieren, wobei insbesondere seine Kritik der grotesk eindimensionalen und in Teilen schlicht unredlichen Aneignung Emmanuel Levinas’ durch Butler aufschlussreich ist.
Beide bieten aber nicht viel Neues, wenn man einmal den Zusammenhang verstanden hat, in dem die libidinöse Bindung an das deterritorialisierte Subjekt zum Hass auf die jüdische Reterritorialisierung steht. Traverso präsentiert ihn im Rahmen einer historisch ausgesprochen schlecht gearbeiteten Erzählung, Butler dekliniert ihn im Rückgriff auf eine ganze Reihe meist jüdischer Philosophen und Philosophinnen durch.
Etwas anders verhält sich die Sache bei Michael Rothberg, dessen Idee einer »multidirektionalen Erinnerung« Chaouat ein ganzes Kapitel seines Buchs widmet. Hier geht er einen anderen Weg, indem er das Konzept beim Wort nimmt und in die Aporie führt. Das tut er vor allem am Beispiel des algerischen Befreiungskampfs, wobei er insbesondere auf die Schicksale französischer Juden in Algerien eingeht, was auch eine versteckte Referenz an Derrida ist.
Es zeigt sich, was man wissen könnte, nämlich dass sich Erinnerungen unterschiedlicher Gruppen nicht ohne weiteres verknoten und überblenden lassen, wie Rothberg vorschlägt, sondern durchaus in einen unversöhnlichen Widerstreit miteinander geraten können, der historisch durchzuarbeiten wäre, von Rothberg jedoch durch selektive Quellenauswahl und generell die Unterordnung des Materials unter das Narrativ verdrängt wird. Diese immanente Kritik, an der sich der Einfluss Lyotards auf Chaouat deutlich zeigt, funktioniert gut, weil sie Rothbergs Arbeit an dem Maßstab misst, den er selbst aufgestellt hat, wobei sie sich nicht nur als schlechte, nämlich tendenziöse Geschichtsschreibung erweist, sondern auch als Ausdruck eines unterkomplexen, nämlich strikt binären Weltbilds.
Im Lichte des binären Weltbilds
Gerade weil Chaouat umsichtig formuliert und um Fairness bemüht ist, erscheinen die technischen und handwerklichen Schwächen der kritisierten Theoretiker und Theoretikerinnen verblüffend – immerhin handelt es sich um herausragende und mit allen akademischen Weihen versehene Vertreter ihrer jeweiligen Fächer. Diese Kritik, vielleicht gar Dekonstruktion, theoretischer Positionen, deren Einfluss auf die gegenwärtigen Debatten beträchtlich ist, ist ausgesprochen verdienstvoll. Die Stärke des Buchs, auch seine literarische, speist sich jedoch vor allem aus seiner durchaus idiosynkratischen Anlage.
Es ist das Zeugnis einer persönlichen Enttäuschung im doppelten Wortsinn, die tiefer greift, als der Bezug auf das mehr oder weniger aktuelle akademische Treiben glauben macht. Exzentrisch, nämlich von Minneapolis aus gesehen, bleibt Chaouat auf Frankreich und die französische Literatur bezogen. Er lässt die dunklen Aufklärer, Juden und Antisemiten, wieder aufleben und bringt so auch die spezifische Verortung der Dekonstruktion in der literarischen Tradition Frankreichs zur Geltung.
Er erinnert aber auch an die vielen Toten, die der neue, islamisch geprägte Antisemitismus in Frankreich bereits gefordert hat. Die Entwicklung eines französischen Denkstils zur globalisierten French theory rückt so in den Zusammenhang konkreter Massaker, Anschläge und Gewaltakte, die im Lichte des binären Weltbilds, das sich heute progressiv dünkt, eilfertig beiseitegeschoben werden müssen, um der Theorie nicht allzu viel Komplexität abzunötigen.
Insgesamt also ein trauriges Buch, das nicht nur den Abschied von der Theorie angesichts des »intellektuellen und moralischen Bankrotts der Dekonstruktion« schweren Herzens zu vollziehen bereit ist, sondern auch die Frage »Adieu, Frankreich?« durchaus nicht auf die leichte Schulter nimmt.
Weder die französische Theorie noch die französische Republik konnten halten, was man sich von ihnen einmal versprechen durfte. Dem Narrativ vom »Kampf der Unterdrückten«, wie es heute an den Universitäten gelehrt wird, hatten sie jedoch etwas Entscheidendes voraus: die Lust an der Ambivalenz, am Widerstreit und an der Individualität.
Bruno Chaouat: Ist Theorie gut für die Juden? Das fatale Erbe französischen Denkens. Aus dem Englischen von Christoph Hesse. Edition Tiamat, Berlin 2024, 440 Seiten, 30 Euro