»Paris, Texas« von Wim Wenders kommt nach 40 Jahren wieder in die Kinos

Überhöhung des Ursprünglichen

»Paris, Texas«, der 1984 angelaufene Film von Wim Wenders, kommt zum 40. Jubiläum wieder in die Kinos. Er spielt vor allem in der texanischen Wüste – und offenbart den deutschen Blick des Regisseurs auf die USA.

In den vergangenen Jahren machte der deutsche Filmregisseur Wim Wenders etwa mit dem Kurzfilm »Two or Three Things I Know About Edward Hopper« (2020) und dem Spielfilm »Perfect Days« (2023) von sich reden. In Ersterem sucht Wenders nach cineastischen Äquivalenten zu den Gemälden des großen US-amerikanischen Malers der Einsamkeit, spielt mit Farbe und Licht.

Das ist durchaus schön anzusehen und man merkt den Bildkompositionen an, dass Wenders eigentlich einmal Maler werden wollte. Über weite Strecken vermittelt der Film gekonnt die zwar gedrückte, aber doch seltsam klare, zarte Atmosphäre der Kunstwerke Hoppers. Doch während diese von der Andeutung leben, von den Rätseln in den nachdenklichen Gesichtern ihrer Protagonisten, entscheidet sich Wenders schließlich, das Verborgene auszuerzählen, inszeniert einen großen Streit anstelle der schmerzvollen Zigarette danach. Eine Sache, die Wenders nicht über Hopper weiß? Oder eine, die er besser zu wissen glaubt? Jedenfalls eine erzählerische Fehlentscheidung.

In »Perfect Days« porträtiert er einen Angestellten, der in Tokio öffentliche Toiletten reinigt. Auch hier gelingt es Wenders, tief einzutauchen in den Alltag des zurückgezogenen, genügsamen Mannes. Der Zuschauer vollzieht mit ihm gemeinsam seine Rituale und Beobachtungen und kann in diesen kleinen Details eine große Schönheit finden. Gleichwohl leidet der Film an einer Idealisierung des Prekären, die die einfachen Lebensumstände des Protagonisten zum eigentlichen, unmittelbar gelebten Leben verklären. Spätestens als dem eine als gestresst, seelen- und verständnislos dargestellte erfolgreiche Schwester gegenübergestellt wird, kippt der Film ins Schematische und scheint mehr am Weltbild des Re­gisseurs interessiert zu sein als am Eigenleben seiner Protagonisten.

Wie viele Filme von Wenders ist »Paris, Texas« vor allem ein Film über das Reisen und Unterwegssein.

In »Paris, Texas«, der nun nach 40 Jahren in restaurierter Fassung erneut in die deutschen Kinos kommt, erzählt Wenders von Travis (Harry Dean Stanton), der stumm und orientierungslos irgendwo in der texanischen Wüste aufgefunden wird. Er kann schließlich identifiziert werden, sein Bruder Walt (Dean Stockwell), ein Arzt aus Los Angeles, wird benachrichtigt und macht sich auf den Weg, um den Verschollenen einzusammeln. Der Zuschauer erfährt, dass Travis vor vier Jahren plötzlich verschwand. Seinen Sohn Hunter (Hunter Carson) nahmen Walt und dessen französische Ehefrau Anne (Aurore Clément) bei sich auf. Im Stil eines Roadmovies zeigt »Paris, Texas« nun die gemeinsame Heimfahrt der Brüder, denn Travis verweigert nicht nur die Auskunft über seinen Verbleib in den vergangenen Jahren, sondern auch das Besteigen eines Flugzeugs.

Auf dieser Heimfahrt inszeniert Wenders ikonische Bilder der Weiten Amerikas, vereinzelt finden sich in den steinigen Landschaften Tankstellen und Diners, die Bildkompositionen lassen auch hier an Edward Hopper denken. Die räumliche Weite und die erzählerische Langsamkeit werden noch verstärkt durch die atmosphärische, an Westernfilme erinnernde Gitarrenmusik von Ry Cooder. Das alles soll wohl einen großen ­Erfahrungsraum öffnen, zwingt den Zuschauer allerdings bisweilen mit einer gewissen Bemühtheit in jenen tranceartigen Zustand des Reisens, den Wenders mit seinem Film grell ausleuchtet, anstatt ihn mit Vorsicht und Leichtigkeit anklingen zu lassen.

Verhältnis zum Sohn wiederaufbauen

Bei der Familie seines Bruders angekommen, findet Travis langsam seine Sprache wieder und bemüht sich, das Verhältnis zu seinem Sohn wiederaufzubauen. Hunter reagiert zunächst ausweichend, lässt sich aber schließlich doch wieder auf seinen Vater ein. Für diese vorsichtige Annäherung findet »Paris, Texas« ein eindrückliches Bild, wenn Vater und Sohn auf den gegenüberliegenden Straßenseiten herumalbernd von der Schule nach Hause laufen. Die Beziehung ist bald so weit wiederhergestellt, dass Hunter kurzerhand und ohne Absprache mit seinen Pflegeeltern entscheidet, Travis bei der Suche nach seiner Ehefrau Jane (wunderbar gespielt von Nastassja Kinski) zu begleiten.

Es folgt also der nächste Roadtrip, wieder Aufnahmen von Diners, Tankstellen, endlosen Highways. Wie viele Filme von Wenders ist »Paris, Texas« vor allem ein Film über das Reisen und Unterwegssein. Es macht Spaß, mit den beiden Protagonisten durch die Weiten des Südwestens der USA zu gleiten, und doch drängt sich auch hier wieder der Eindruck auf, dass das Reisen gerade nicht in seiner Leichtigkeit, seinem Enthobensein gezeigt, sondern mit einiger Schwere zur Essenz eigentlichen Erlebens hypostasiert wird.

Ikonische Aufnahmen von Nastassja Kinski im roten Strickpullover 

Zumal damit die Überhöhung des Ideals der biologischen Familie einhergeht – es ist schon erstaunlich, mit welcher Nonchalance die besorgten Pflegeeltern zurückgelassen werden, um Hunter wieder mit seiner leiblichen Mutter zu vereinigen. Wenders idealisiert hier die Abkehr von der vermittelten Normalität zugunsten einer Sinnsuche im Unmittelbaren, Ursprünglichen. Das verdeutlicht sich auch in der Bedeutung des Filmtitels. Als Travis in der Wüste aufgefunden wird, hat er die Fotografie eines Grundstücks in dem kleinen texanischen Ort Paris bei sich, das er erworben hat, weil er vermutet, dass seine Eltern ihn in eben jenem Örtchen gezeugt haben. Blut ist für Wenders wohl dicker als Wasser.

Gleichwohl zeigt »Paris, Texas« das Wiedersehen zwischen Travis und Jane auf originelle Weise. Die Überweisungen von Unterhaltszahlungen für Hunter legen eine Spur nach Houston, wo Travis sie in einem zwielichtigen Peepshow-Etablissement auffindet. Hinter einer einseitig verspiegelten Glasscheibe erfüllt sie den Kunden, mit denen sie über eine Telefonleitung verbunden ist, deren Wünsche, ohne sie dabei zu sehen.

Ikonische Nastassja Kinski im roten Pullover. Werbeplakat für »Paris, Texas« von 1984

Ikonische Nastassja Kinski im roten Pullover. Werbeplakat für »Paris, Texas« von 1984

Bild:
picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Travis gibt sich zunächst nicht zu erkennen, und die langsame Konversation, bei der Jane erst allmählich dämmert, dass sich hinter dem Spiegel kein gewöhnlicher Kunde, sondern ein verlorener Geliebter verbirgt, vermittelt eine eindrückliche cineastische Intensität – die Aufnahmen von Kinski im roten Strickpullover in der kleinen Kabine sind ikonisch geworden.

Wenders’ Blick auf die USA ist auf eine Weise deutsch geblieben, der das Vermittelte, Abstrakte tendenziell suspekt zu sein scheint.

Der Film steht damit exemplarisch für das Werk Wenders’, das von sphärischer Schönheit und stilprägenden Bildkompositionen durchzogen ist, dabei aber oft an der Grenze zum Kitsch unmittelbarer Eigentlichkeit balanciert – ob in einer Idealisierung des Prekären wie in »Perfect Days«, der Überhöhung des Ursprünglichen wie in »Paris, Texas« oder der Romantisierung der Sterblichkeit durch die an ihrer reinen Geistigkeit leidenden Engel im (trotzdem wunderschönen) Film »Der Himmel über Berlin« (1987). Wenders’ Blick auf die USA ist dementsprechend trotz langjähriger Aufenthalte und der intensiven Beschäftigung mit den Perspektiven Hoppers auf eine Weise deutsch geblieben, der das Vermittelte, Abstrakte tendenziell suspekt zu sein scheint.

Wenn er beispielsweise in »Paris, Texas« Travis nach dem abgebrochenen Flugversuch darauf bestehen lässt, erneut exakt desselben Wagen zu mieten, dann möchte man Wenders die Lektüre Christopher Isherwoods nahelegen, der den Protagonisten seines Romans »Der Einzelgänger« (1964) das US-amerikanische Verhältnis von Geist, Materie und Symbolischem wie folgt charakterisieren lässt: »Wir haben die Dinge der materiellen Ebene auf bloße sym­bolische Annehmlichkeiten reduziert. Und warum? Denn das ist der wesentliche erste Schritt. Solange die materielle Ebene nicht definiert und an ihren richtigen Platz verbannt wurde, kann der Geist niemals wirklich frei sein. Man würde meinen, das sei offensichtlich. Der dümmste Amerikaner scheint es intuitiv zu verstehen. Aber die Europäer nennen uns unmenschlich, weil wir uns über ihre Welt der individuellen Unterschiede und der romantischen Ineffizienz und der Objekte um der Ob­jekte willen hinweggesetzt haben.«

Paris, Texas (BRD/F 1984). Buch: Sam Shepard. Regie: Wim Wenders. Darsteller: Harry Dean Stanton, Nastassja Kinski, Dean Stockwell, Aurore Clément, Hunter Carson