Kriegsgefangene vor Gericht
Seinen 47. Geburtstag verbrachte Maksym Butkewytsch in der vergangenen Woche in einer etwa in der Mitte zwischen Luhansk und Donezk gelegenen Strafkolonie. Dort muss der aus Kiew stammende Journalist und Menschenrechtler eine 13jährige Haftstrafe absitzen. Gleich nach Beginn der vollumfänglichen Invasion der russischen Armee in der Ukraine im Februar 2022 hatte er sich entgegen seiner pazifistischen Grundeinstellung zum Fronteinsatz gemeldet. Mitte Juni wurde er mit seiner Einheit ins Kampfgebiet versetzt, er geriet bereits nach wenigen Tagen in russische Gefangenschaft.
Für den Propagandaapparat der russischen Regierung stellte die Gefangennahme von Butkewytsch ein gefundenes Fressen dar. Ein »Propagandist« sei er, »Nazi« und »Anführer einer Strafeinheit«, hieß es in russischen Staatsmedien. Tatsächlich steht Butkewytsch dem Anarchismus nahe und hatte sich über viele Jahre gegen Rassismus und für die Belange von Geflüchteten in der Ukraine eingesetzt – sehr zum Missfallen der ukrainischen Behörden.
Anstatt ihn so zu behandeln, wie es bei Kriegsgefangenen üblich sein sollte, initiierten die russischen Behörden gegen ihn einen Strafprozess. Die zugrunde gelegte Fabel lautete, Butkewytsch habe am 4. Juni 2022 in der Stadt Sjewjerodonezk Schüsse aus einem Granatwerfer auf Zivilisten abgefeuert. Das Motiv formulierte die Anklage verklausuliert und linkisch, ohne dass es irgendeinen Sinn ergab. Dennoch verurteilte ihn ein Gericht in Luhansk im März 2023 zu 13 Jahren Haft unter verschärften Bedingungen.
In Russland erwartet ukrainische Soldaten schlimmstenfalls eine außergerichtliche Hinrichtung. Mindestens 15 solcher Fälle bestätigt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.
Nun nahm Butkewytsch selbst Stellung: »Mit anderen Worten, der Zweck des versuchten vorsätzlichen Mordes bestand im vorsätzlichen Mord der Opfer, die ich auf diese Weise versucht habe einzuschüchtern.«Dieser lakonische Satz stammt aus Butkewytschs nun anlässlich seines Geburtstags von ukrainischen Medien veröffentlichter Rede beim Revisionsverfahren vor dem Obersten Gericht in Moskau im August vorigen Jahres, zu dem er per Video zugeschaltet war. Darin zählte er eine ganze Reihe von Unstimmigkeiten und Fehlern in den Gerichtsakten auf. Selbst das Datum seiner Eingliederung in die ukrainischen Streitkräfte ist falsch angegeben, die Umstände seiner Rekrutierung werden variierend dargestellt. Aber das Allerwichtigste ist: Butkewytsch hielt sich an besagtem Tag in Kiew auf. Das lässt sich belegen, die Behauptungen der Anklage nicht. Nur seine Unterschrift unter einem Geständnis liegt vor, was nach russischen Strafrecht eigentlich nicht für eine Verurteilung ausreicht.
Warum er seine Schuld eingestanden habe, wollte der Vorsitzende Richter bei der Revisionsverhandlung wissen. Weil ihm zugesagt worden sei, so Butkewytsch, sogleich gegen einen in der Ukraine verurteilten russischen Kriegsgefangenen ausgetauscht zu werden. Andernfalls wäre er trotzdem verurteilt worden, ohne Aussicht auf einen Austausch, dafür mit der Drohung, psychologischen und physischen Druck auf ihn auszuüben. »Einige Beispiele für einen solchen Druck wurden mir bereits demonstriert«, schloss er seine Rede ab.
Weitere Urteile sind zu erwarten
Butkewytsch war der erste in der Luhansker »Volksrepublik« verurteilte ukrainische Kriegsgefangene. Am Tag der Urteilsverkündung, dem 10. März 2023, fielen in Donezk weitere Urteile gegen zwei Angehörige des Regiments Asow. Im Januar 2024 sprach Aleksandr Bastrykin, Leiter des russischen Ermittlungskomitees, von über 200 ukrainischen Armeeangehörigen, gegen die russische Gerichte seit Februar 2022 Urteile verhängt hätten. Meist handelte es sich um hohe Haftstrafen.
Die von Lausanne aus tätige unabhängige Organisation Justice Info kommt nach der Auswertung offen zugänglicher Materialien zu dem Schluss, dass bis Februar 2024, also zwei Jahre nach Beginn der Militärinvasion, 268 derartige Urteile fielen. Allein 222 davon verhängten Gerichte in der Donezker »Volksrepublik«, darunter 28 Mal lebenslänglich. In den meisten Fällen handelt es sich um Armeeangehörige, die bereits im Frühjahr 2022 in Gefangenschaft geraten waren.
Weitere Urteile sind zu erwarten. So nannte das ukrainische Nachrichtenportal UNN nach dem Stand vom 30. Juni die Zahl von 620 Strafverfahren gegen von Russland gefangen genommene ukrainische Staatsangehörige, sowohl auf russischem Staatsgebiet als auch in den annektierten »Volksrepubliken«. Das Portal verweist auf Informationen aus der Pressestelle des für Kriegsgefangene zuständigen ukrainischen Koordinationsstabs.
400 ukrainische Frauen nach wie vor in russischer Gefangenschaft
Anfang Juni bezifferte der russische Präsident Wladimir Putin die Gesamtanzahl ukrainischer Kriegsgefangener auf 6.465, umgekehrt befänden sich in der Ukraine 1.348 russische Soldaten und Offiziere in Gefangenschaft. Die Angaben sind nicht überprüfbar, die tatsächlichen Zahlen liegen vermutlich höher. Seither kamen neue ukrainische Gefangene hinzu, darunter unweit von Donezk erstmals eine Gruppe zur Armee rekrutierter amnestierter Straftäter.
Andere wurden freigelassen. Erst in der vergangenen Woche konnten im Verlauf eines Austauschs jeweils 95 Gefangene in ihr Heimatland zurückkehren, die Vereinigten Arabischen Emirate hatten die Vereinbarung vermittelt. Die Menschenrechtsbeauftragte der russischen Regierung, Tatjana Moskalkowa, hatte im Mai eine Liste mit 500 ukrainischen Namen überreicht, mokierte sich allerdings darüber, dass die Verhandlungen aufgrund immer neuer Forderungen der ukrainischen Seite zäh verlaufen und immer wieder ins Stocken geraten würden.
Ihr ukrainischer Amtskollege Dmytro Lubinez betonte kürzlich, dass sich in russischer Gefangenschaft nach wie vor rund 400 ukrainische Frauen befänden, für die er sich einen gesonderten Austausch wünsche. Uneinigkeit scheint es insbesondere auch hinsichtlich der von Russland verurteilten ukrainischen Kriegsgefangenen zu geben. Nach Angaben des ukrainischen Koordinationsstabs habe man Kenntnis von lediglich 29 im Rahmen eines Austauschs Freigekommenen, die von Russland verurteilt worden waren. Einzelheiten sind nicht bekannt. Nicht zu vergessen sind außerdem zahlreiche Zivilpersonen, die ebenfalls in russische Gefangenschaft geraten sind.
Wachsende Kampfmüdigkeit
Immer wieder ist von russischer Seite der Vorwurf zu hören, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sei nur am Austausch von Kämpfern der Elitetruppe Asow interessiert und blockiere die Rückführung anderer Gefangener. Der Direktor des Zentrums für Militärforschung am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen, Aleksej Podberjoskin, hält zwei Erklärungen parat. Erstens habe die Ukraine weniger Menschen im Tausch anzubieten, zweitens sei es ein Warnsignal an jene ukrainischen Armeeangehörigen, die mit dem Gedanken spielten, sich in russische Gefangenschaft zu begeben.
Damit spricht der russische Experte einen wunden Punkt an, den die russische Propaganda für sich zu nutzen weiß – wachsende Kampfmüdigkeit und der Unmut, um nicht zu sagen die Verzweiflung jener, die sich mit allen Mitteln einer Rekrutierung zu entziehen versuchen. Für Aufregung in der Ukraine sorgte der Fall von vier ukrainischen Soldaten, die Mitte Juli ihre Trainingseinheit im Gebiet Odessa verlassen haben und mit dem Taxi in Richtung der Republik Moldau gefahren sind.
Rund 30 Kilometer von der Grenze zur von prorussischen Kräfte kontrollierten moldauischen Region Transnistrien entfernt wurden sie festgenommen. Einer der vier soll einen Grenzschützer angegriffen haben, der daraufhin seine Dienstwaffe zog und einen tödlichen Schuss abgab. Es handelt sich keineswegs um den ersten Todesfall beim Versuch, die Grenze zur überqueren. Immer wieder finden in diesem Zusammenhang Informationen über männliche Leichen mit Schusswunden Verbreitung, verlässliche Daten sind jedoch rar.
Bereits im Juni soll ein Gericht in Belarus den deutschen Staatsbürger Rico Krieger zum Tode verurteilt haben.
In Russland erwartet ukrainische Soldaten schlimmstenfalls eine außergerichtliche Hinrichtung. Mindestens 15 solcher Fälle bestätigt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Zudem dienen offenbar nicht nur Kriegsgefangene als Tauschobjekt, auch Strafprozesse wie der gegen den US-amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich legen die Vermutung nahe, dass Menschen quasi als Staatsgeiseln genommen werden, um sie gegen Russen auszutauschen. 16 Jahre Haft wegen Spionage lautete das am Freitag voriger Woche verkündete Urteil gegen Gershkovich. Vermutungen über einen Austausch machen die Runde.
Belarus greift nun womöglich zur gleichen Taktik. Bereits im Juni habe ein dortiges Gericht den deutschen Staatsbürger Rico Krieger zum Tode verurteilt, teilte die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna mit. Er sei nicht in Berufung gegangen. Die Anklage umfasste gleich mehrere Tatbestände, von Söldnertum bis hin zu einem Terroranschlag.
Der 30jährige wird beschuldigt, in Verbindung mit dem auf Seiten der Ukraine kämpfenden Kastus-Kalinouski-Regiment belarussischer Freiwilliger zu stehen. Krieger war zuvor beim Deutschen Roten Kreuz als Rettungssanitäter beschäftigt. Das Auswärtige Amt bestätigte bislang nur, dass der Fall bekannt sei und Krieger konsularisch betreut werde.