Mit Luftballons durch Israel
Deutsch-jüdische Literatur hatte es seit 1945 wahrlich nicht leicht in Deutschland. Philosemitisch-exkulpatorische Vereinnahmungen von Autor:innen wie Nelly Sachs und Paul Celan (der gleichwohl 1967 das Nachsehen für eine Übersetzung von Anna Achmatowas »Requiem« hatte, der Verlag Piper wählte stattdessen den ehemaligen HJ-Führer Hans Baumann für die Arbeit aus), das komplizierte und auch von missachtenden Untertönen geprägte Verhältnis der Gruppe 47 zu Peter Weiss oder die Paulskirchen-Rede von Martin Walser 1998 sind nur einige Beispiele dafür, wie ressentimentbehaftet der westdeutsche Literaturbetrieb war.
In den vergangenen Jahren hat sich eine ganze Reihe von jungen, selbstbewussten jüdisch-deutschen Autorinnen etabliert.
1962 bezeichnete Gershom Scholem das »deutsch-jüdische Gespräch« als Mythos, erteilte ihm also eine Absage und konkludierte, dass die Auseinandersetzung der Deutschen mit den Juden immer auf die »Selbstaufgabe der Juden« hinauslaufe.
Es ist vielversprechend, dass sich in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von jungen, selbstbewussten jüdisch-deutschen Autorinnen etabliert hat, die durch das Eingedenken in die Shoah jüdisches Leben in Deutschland neu beschreiben und an eine poetische Gegenwartsanalyse knüpfen.
Familiengeschichte zwischen Deutschland und Israel
So beeindruckte Dana Vowinckels Roman »Gewässer im Ziplock«, der für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert war, dadurch, dass er nach der Zäsur des Pogroms der Hamas vom 7. Oktober umso mehr Zeugnis für ein jüdisches Leben ist, das sich nicht versteckt und die selbstverständliche Tatsache ausdrückt, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Und Dana von Suffrin hat mit ihrem Familienroman »Nochmal von vorne«, der im Frühjahr erschien, einen kraftvollen Gegenentwurf zur wehleidigen deutschen Selbstviktimisierung geschrieben.
Sara Klatts Romandebüt »Das Land, das ich dir zeigen will« gehört ebenfalls in diese Reihe. »Wir alle haben eine Geschichte. Ich bin die Tochter meines Vaters«, stellt die Ich-Erzählerin S. zu Beginn fest und beginnt damit ihre Annäherung an eine Familiengeschichte zwischen Deutschland und Israel und der vielfältigen israelischen Gegenwartsgesellschaft.
Wenn der Vater betont, die Geschichte der NS-Verfolgung dürfe sich nie wiederholen, merkt sich die Tochter beunruhigt, dass dies also möglich wäre.
Weil ihr Großvater, ein Buchenwald-Überlebender namens Fritz Shalom, 1948 nach Israel emigriert, wo er den Namen Moshe Shalom annahm, kennt die Hamburgerin S. auch dieses Land. In den Ferienaufenthalten dort begegnet die Erzählerin noch jener eigentümlichen Kultur der »Jeckes«, der vor der NS-Verfolgung geflohenen deutschen Jüdinnen und Juden, die zu Israelis wurden und doch Deutsche blieben.
Wenn der Vater betont, diese Verfolgungsgeschichte dürfe sich nie wiederholen, merkt sich die Tochter beunruhigt, dass dies also möglich wäre. Die Angst aus Kindertagen, auf deutschen Parkbänken zu sitzen oder alleine in einem Schrank zurückzubleiben, vergeht ihr erst mit dem Erwachsenwerden.
Es sind diese Kindheitserinnerungen, die S. schließlich zu einem längeren Aufenthalt nach Israel führen, der zu einem Roadtrip in einem Land wird, das so klein ist, dass man den Namen auf dem Globus ins Meer schreiben muss. Sie arbeitet in Tel Aviv in einem Fotogeschäft mit langer Tradition, unschwer als Hommage an das Atelier von Rudi und Miriam Weissenstein zu erkennen, die den Ruf als wichtigste Fotografen des Landes genießen. Rudi Weissenstein war der einzige offiziell zugelassene Fotograf, der die Verkündung der Unabhängigkeit durch David Ben-Gurion 1948 dokumentierte.
Fromme, Atheisten und Schwule
Nebenbei jobbt sie in einer Bar in Jerusalem, die sie zumeist trampend erreicht, wobei sie regelmäßig von Israelis aufgelesen wird, die ihr allesamt von dieser aus ihrer Sicht lebensgefährlichen Art zu reisen abraten. Rafi, der Besitzer der Bar, verwaltet derweil jede Nacht aufs Neue das Chaos der israelischen Gesellschaft im Kleinen: Fromme, Atheisten und Schwule, wobei heimlich schwule Fromme auf vermeintlich fromme Atheisten treffen.
Sara Klatt erfasst differenziert und vielschichtig die Ungleichzeitigkeiten der israelischen Gesellschaft, in der es von Absurditäten und Gegensätzen wimmelt. Beispielsweise sorgen arabische Israelis in einem Jerusalemer Technoclub für Sicherheit und werden dafür als Kollaborateure beschimpft. Und die Israelin Debbi, 60 Jahre alt, darf ihre drei Söhne nicht verwechseln, denn der erste hat einen Mann geheiratet, der zweite lebt mit Frau und drei Kindern streng orthodox, während der dritte ledig ist und sein Leben mit einem Hund teilt.
Von Tel Aviv nach Hebron
Mit der Episode über 17 rote Luftballons, die die Erzählerin als Geburtstagsgeschenk von Tel Aviv nach Hebron bringen möchte, gelingt es Klatt, eine Geschichte zu erzählen, die zunächst lustig scheint, allerdings auch die seit Jahrzehnten angespannte Alltagsatmosphäre in Israel einfängt. Winkende Kinder, hupende Trucker, hilfsbereite Israelis und Palästinenser, flirrende Hitze und Geduld begleiten zunächst die fröhliche Ballon-Mission, die in Deutschland mit dem Auto eine halbe Stunde dauern würde, hier aber vier Stunden braucht. Dann platzt einer der Luftballons inmitten eines hochgesicherten israelischen Checkpoints – und löst damit panische Schreie aus. Menschen werfen sich auf den Boden, israelische Soldat:innen halten ihre Maschinenpistolen bereit.
In diesem Land ist der Knall eines aus Versehen platzenden Geburtstagsluftballons eben nicht nur der Knall eines Ballons, sondern klingt auch wie ein Schuss oder das Explodieren einer Bombe. Es ist ein Knall, der die Erinnerungen an den Selbstmordanschlag auf das frühere Lieblingscafé des Großvaters Moshe oder auf den Tel Aviver Technoclub »Dolphinarium« im Juni 2001 mit 21 Toten, darunter viele Teenager, wachruft. Es hat bis 2018 gedauert, bis die Ruine abgerissen wurde – im Roman heißt es, die Bevölkerung von Tel Aviv war zu müde vom Krieg und zu erschöpft, um das Gebäude früher abzutragen.
Klatt hat unfreiwillig auch einen Nachruf auf das Leben in Israel geschrieben, das es so nach dem 7. Oktober nicht mehr gibt.
Klatt hat einen im Wortsinne eindrucksvollen Roman geschrieben. Sie hat aber auch unfreiwillig einen Nachruf auf das Leben in Israel geschrieben, das es so nach dem 7. Oktober nicht mehr gibt. Die Ich-Erzählerin treibt sich in der Elektroszene herum, berichtet belustigt von den Nature-Partys, auf denen nackte Hippies in der Wüste zu Goa-Musik tanzen, so high, dass sie glauben, das Tote Meer wieder zum Leben erwecken zu können. Ihr Freund, der Beduine Abdallah, kann mit Techno nichts anfangen. Doch er ist ein unerschütterlicher Optimist, der verkündet, es gebe genug Land für alle: die Juden, die Palästinenser, die Beduinen und auch für die, die Techno mögen.
Doch die Hamas-Angriffe am 7. Oktober auf das Supernova-Musikfestival und die Kibbuzim, die Vergewaltigungen und die entführten Geiseln, das alles schwingt nun bei der Lektüre von Klatts Buch mit, auch wenn der Roman vor dem 7. Oktober abgeschlossen wurde. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die deutsche Gesellschaft schwertut mit der Anerkennung der existentiellen Bedrohung Israels. Einem vielfältigen Land, von dem Sara Klatts Roman handelt.
Es bleibt die Hoffnung, dass Gershom Scholem nicht recht behält mit dem, was er 1964 schrieb: »Die einzige Gesprächspartnerschaft, welche die Juden als solche ernst genommen hat, war die der Antisemiten, die zwar den Juden etwas erwiderten, aber nichts Förderliches.«
Sara Klatt: Das Land, das ich dir zeigen will. Penguin-Verlag, München 2024, 400 Seiten, 24 Euro