Die Digitalisierung erschwert für manche Menschen den Alltag

Im Freibad mit Benjamin

Technologischer und sozialer Fortschritt gehen nicht automatisch miteinander einher. Dass man in Berliner Freibädern mittlerweile fast nur noch mit Online-Tickets baden kann, zeigt das beispielhaft. Ein Grund für Fortschrittsfeindlichkeit ist das aber nicht.

»Der Begriff des Fortschritts ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Aus heutiger Perspektive (und auf den ersten Blick) könnte dieses Zitat von Walter Benjamin auf eine hoffnungsfrohere Periode der Menschheitsgeschichte hindeuten, in der eine dem technologischen nicht weniger als dem sozialen Fortschritt verpflichtete Linke noch der Utopie eines besseren Lebens für alle zustrebte – mit immer neuen wissenschaftlichen Errungenschaften, die Leben und Arbeiten der Menschen kontinuierlich erleichtern, um sie so Schritt für Schritt ins kommunistische Paradies zu geleiten.

Daraus, man weiß es, wurde nichts. Stattdessen erwies sich der Kapitalismus als treibende Kraft eines anderen Fortschritts, der zwar in rasender Geschwindigkeit ständig neue mehr oder weniger praktische (oder zumindest unterhaltsame) Geräte, digitale Tools und Gadgets produziert, den Menschen dabei aber stets nur auf drei Ebenen im Blick hat: als bezahlenden Konsumenten, als auswertbaren Datensatz oder als einzusparende Arbeitskraft.

Es ist wenig verwunderlich, wenn heutige Linke oft gegen einen technologischen Fortschritt wettern, der im täglichen Leben häufig dazu führt, dass Arme, Alte oder Migranten ausgegrenzt werden. 

Wenig verwunderlich also, wenn heutige Linke oft gegen einen technologischen Fortschritt wettern, der im täglichen Leben häufig dazu führt, dass Arme, Alte oder Migranten ausgegrenzt werden. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung der Berliner Bäder-Betriebe, die Tickets für gleich fünf große Berliner Freibäder fast nur noch online zu verkaufen. Wer also keinen Zugang zu digitalen Endgeräten und/oder keine Kreditkarte beziehungsweise Paypal hat, muss früh aufstehen, denn die Kassenhäuschen sind nur noch bis zehn Uhr besetzt und können in dieser Zeit auch nur Restkarten anbieten, die noch nicht online gebucht wurden.

Der Sturm der Entrüstung darüber ist groß in den Berliner Szenebezirken und eine Online-Petition mit dem ­Titel »Freibad einfach für alle« fordert bereits die Rückkehr zum Status quo ante. Als kurzfristige Lösung, um die nunmehr Ausgegrenzten zurück in die Bäder zu bekommen, ist dies sicher alternativlos. Doch, wie so oft in gegenwärtigen Debatten, fehlt die weitere Perspektive, was dazu führt, dass sich ­linke und rechte Proteste trotz unterschiedlicher Motive in ihrer Stoßrichtung immer mehr ähneln.

Missfallen an digitalen Zahlungen

Bei Fragen des digitalisierten Geldverkehrs wird das besonders deutlich. Während viele Linke problematisieren, dass zur lässigen neuen Freiheit des Bezahlens mittels Kreditkarte oder Smartphone nicht alle Zugang haben, wollen Rechte oft schon aus purer Nostalgie nicht aufs Bargeld verzichten. Beiden gemeinsam ist das Missfallen daran, dass digitale Zahlungen nachverfolgt werden können. Ob sich einer verständlicherweise zum kargen Bürgergeld oder Bafög schwarz was dazuverdienen möchte oder ein prosperierender Hand­werksbetrieb seine Kunden routiniert fragt, ob sie denn wirklich eine Rechnung bräuchten – ohne Bargeld wird beides kaum noch funktionieren.

Vom linken Studenten, der unversteuert in seiner Lieblingskneipe jobbt, wird man vielleicht hören, dass er den Staat nur bescheißt, weil er das Schweinesystem ablehnt, in einer wahrhaft freien Gesellschaft aber gerne seinen Teil beitragen würde. Rechte Mittelschichtler hingegen sind heutzutage oft gar nicht mehr gewillt, etwas zur Finanzierung gesellschaftlicher Leistungen beizutragen.

In diesem Milieu nämlich wird das klassisch konservative Staatsverständnis immer mehr von rechtslibertären Ideen verdrängt, denen zufolge es eigentlich nur einen Rumpfstaat bräuchte, um Migranten abzuwehren oder abzuschieben. Alles andere habe jeder gefälligst für sich allein zu regeln. Deswegen kämpft man zwar erbittert für den Erhalt des Bargeldverkehrs, findet Bezahlkarten für Flüchtlinge oder faule Arbeitslose aber trotzdem gut – jedenfalls als Zwischenlösung, bis eine neue Regierung dieser ganzen öden Sozialstaatsidee endlich den Garaus macht.

Segregative Potentiale des digitalen Fortschritts

Sollte das allerdings noch ein bisschen dauern, wird es in diesem Bereich gar nicht mehr viel zu tun geben. Schließlich leistet die derzeitigen Regierungen von Bund und Ländern bereits ganze Arbeit in der Ausschöpfung der segregativen Potentiale des digitalen Fortschritts: Zwar schafft man es nicht, das Land flächendeckend mit Mobilfunkempfang zu versorgen oder Ämter und Behörden so zu digitalisieren, dass es den Menschen monatelanges Warten auf einen Termin erspart, ermöglicht es ihnen dafür aber, die zeitraubende Arbeit des Lauerns auf einen Termin nunmehr ganz progressiv online zu absolvieren.

Ganz ähnlich funktioniert Doctolib, die zentrale Online-Terminvergabe für Arztbesuche in Berlin. Deren Hauptaufgabe scheint es zu sein, die gesetzlichen Krankenkassen zu entlasten, indem sie den Erkrankten deutlich vor Augen führt, dass sie nahezu jede gewünschte Leistung statt erst in drei Monaten noch am selben Tag erhalten könnten, so sie denn Privatpatienten wären. Zugleich sperrt auch diese Plattform naturgemäß all jene aus, für die derlei Online-Angebote weiterhin eine fremde Welt sind und qua Alter oder Deutschkenntnissen auch bleiben werden.

Ohne Kabel in der Erde gibt es kein Youtube, Paypal und keine Online-Tickets. Lehrrohre für Glasfaserkabel auf einem Lagerhof in Düsseldorf

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Bild:
picture alliance / Jochen Tack

Womit man wieder bei den Berliner Bäder-Betrieben wären. Die sehen offenbar in der digitalen Terminierung und Zahlung eine pfiffige Lösung, jene Bevölkerungsschicht künftig draußen zu halten, deren von Armut und Perspektivlosigkeit verrohter Nachwuchs im vorigen Jahr für all die Pressemeldungen über Schlägereien am Beckenrand sorgte: die armen und meist postmigrantischen Bewohner der Großwohnsiedlungen in Kreuzberg, Wedding, Neukölln und dem Berliner Süden.

Ein Zurück zu Kassenhäuschen und gedruckten Tickets oder zu stundenlangem Abtelefonieren der im Telefonbuch verzeichneten Ärzte macht die Welt nicht besser, sondern nur so schlecht, wie sie gestern war.

Für das Ticket braucht man Paypal und für Paypal braucht man ein eigenes Konto – im Zusammenspiel mit der bereits zuvor eingeführten Ausweispflicht und natürlich den Eintrittspreisen ist dieses Verfahren zweifellos geeignet, jugendliche Störenfriede aus dieser Klientel fernzuhalten und neuerliche Skandale zu verhindern. Eine klassische Win-win-Situation – für die Bäder ebenso wie für die Mittelschichtseltern, die kein Problem mit der schönen neuen Online-Welt haben und beim verdienten Chillen auf der Liegewiese nun nicht mit der hässlichen sozialen Realität konfrontiert werden. 

Für Fortschrittsfeindlichkeit sollten Beispiele wie diese dennoch keinen Anlass geben. Sinnvoller wäre es, dafür zu streiten, dass die zahllosen Löcher im bundesweiten Mobilfunknetz endlich gestopft werden und flächendeckend kostenloses W-Lan zur Verfügung gestellt wird. Dass wirklich jeder die Möglichkeit hat, am bargeldlosen Zahlungsverkehr via Internet teilzunehmen – oder am besten gleich, dass überhaupt niemandem durch die Ein­trittspreise der Zugang zum Freibad verwehrt wird. Ein Zurück zu Kassenhäuschen und gedruckten Tickets oder zu stundenlangem Abtelefonieren der im Telefonbuch verzeichneten Ärzte macht die Welt nicht besser, sondern nur so schlecht, wie sie gestern war.

Im Fortschritt jedoch, auch wenn er kapitalistisch ist, verbirgt sich immer ein Stück Utopie. Darauf zielen die eingangs zitierten Sätze von Walter Benjamin, die keineswegs aus einer hoffnungsfroheren Zeit stammen. Als er sie 1937 im Pariser Exil schrieb, hatte sich die stalinistische Sowjetunion längst als grausige Dystopie erwiesen und in Deutschland regierte der Na­tionalsozialismus. Benjamins Blick aber ging trotzdem nach vorn und nicht ­zurück.