Die Welten des Mauricio Rosencof
Das Vorwort des Verlegers der deutschsprachigen Ausgabe
Von Theo Bruns
Eine Szene aus der Zeit der Militärdiktatur in Uruguay. Ein Vater auf der Zugfahrt ins Landesinnere, zur Militärkaserne in Paso de los Toros. Der Sohn ist dort inhaftiert, Gefangener der Militärdiktatur. Besuchszeit: zehn Minuten. Anreise: sechs Stunden. Während der langen Fahrt verwandelt sich das Fenster des Eisenbahnwaggons zur Leinwand. Das Schtetl in Polen zieht vorbei. Die Schneiderwerkstatt in Lublin. Die Liebeserklärung an Rosa unter dem Pflaumenbaum. Die Soldatenzeit im Krieg. Die Auswanderung in das ferne Land in Südamerika. Und die Erinnerungen an die zurückgebliebenen Angehörigen, die Verschollenen, die Toten.
Bei dem Vater handelt es sich um Isaac Rosencof. 1930 war er vor dem Antisemitismus, den Pogromen und dem Hunger der Nachkriegszeit in Polen nach Südamerika emigriert. Von dem Geld, das er mit seiner Arbeit als Maßschneider in der Kleinstadt Florida nördlich von Montevideo anspart, holt er seine Frau Rosa und den Sohn Léon nach. 1933 wird als zweites Kind Mauricio geboren. Mit den Angehörigen in Polen bleiben die Eltern in Briefkontakt, bis irgendwann nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keine Briefe mehr ankommen. »Nichts für Sie dabei, Don Isaac.«
Und immer wieder die Erinnerung, die Anrufung der Angehörigen, die in Polen Opfer des Holocaust wurden. Rosencofs Schreiben ist der beständige Versuch, ihre vollständige Auslöschung nicht hinzunehmen, den Plan der Nazis zu vereiteln.
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