Angeschlagen alles geben
Die Botschaft ist bei Friedhelm Julius Beucher angekommen. »Die Fälle waren Zeichen, dass das mit Corona noch nicht vorbei ist. Für uns als Verband ist das eine besondere Herausforderung«, sagte der Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS) kurz vor Beginn der Paralympics in Paris. Besondere Schutzvorkehrungen sind allerdings auch bei dieser Veranstaltung nicht vorgesehen. Dabei hatte es schon bei den Olympischen Spielen im Juli etliche Covid-19-Fälle unter Sportler:innen gegeben, trotz der zögerlichen Implementierung von Maßnahmen wie Testen und Masketragen.
Immerhin war es dadurch vielen Medien nicht mehr so leicht gefallen, die beachtliche Covid-19-Welle als »Sommergrippewelle« zu verharmlosen. Vereinzelt kam es in versteckten Winkeln französischer Social-Media-Seiten zu Empörung darüber, dass die Wettkämpfer:innen offenbar Zugang zu Tests, Masken und antiviralen Medikamenten haben, während beispielsweise vulnerablen Personen in den Krankenhäusern keinerlei Schutz mehr zuteilwird.
Heutzutage noch in den Genuss eines grundlegenden Schutzes vor Infektionskrankheiten zu kommen, braucht es schon irgendeine Form der Protektion. Für Aufregung sorgt aber auch diese Privatisierung von Schutzmaßnahmen nicht. Vielleicht, weil sie leicht erklärbar ist. Das Spektakel Olympia, diese Wettbewerbssimulation, die für die Lohnabhängigen den indirekten Zweck hat, sich den täglichen echten Wettbewerb da draußen schönreden zu können, sollte reibungslos vonstatten gehen.
Nach den Maßgaben kapitalistischer Rationalität scheint es die bessere Option zu sein, die meisten Menschen lernen zu lassen, der fehlende Schutz erfülle ihren Wunsch nach Freiheit.
Das gelang im Großen und Ganzen, und die besorgniserregenden Bilder von akut an Covid-19 erkrankten, aber im Wettbewerb antretenden Athlet:innen werden bloß Vorbildwirkung haben für all die Lehrkräfte, Dachdecker:innen oder Pfleger:innen, die sich doch nicht so haben sollen. Das Internetportal Sport1 zitiert den deutschen Trainer Ulrich Knapp: »In einer Gesellschaft, wo sich jeder mit Nasenbluten einen Krankenschein nimmt und eine Woche zu Hause bleibt«, habe Deutschlands Weitsprung-Star Malaika Mihambo, die nach ihrer Covid-19-Infektion noch nicht ganz erholt war, »angeschlagen alles gegeben«.
Der echte Wettbewerb funktioniert einstweilen ohnehin noch dann für die kapitalistische Verwertung, wenn die ihr Unterworfenen dabei nach und nach zerrieben werden. Nach den Maßgaben kapitalistischer Rationalität ist es noch nicht rentabel, das Arbeitskräftereservoir vor weiterer Versehrung zu schützen. Auf kurze Sicht scheint es die bessere Option zu sein, die meisten Menschen den fehlenden Schutz als ihren Wunsch nach Freiheit akzeptieren lernen zu lassen, damit sie umso bereitwilliger die Hand füttern, die sie beißt.
Pandemierevisionismus, der in Echtzeit die Gegenwart umzuschreiben vermag
Der gängige Modus, die anhaltende Gefahr durch Sars-CoV-2 zu leugnen, hat dennoch ein wenig an Akzeptanz verloren. Über die Auswirkungen der Langzeitschäden auf die Wirtschaftsleistung wird öfter geschrieben, auch Expert:innen, die Covid-19 nicht zur bloßen Erkältung erklären, kommen in Zeitungen und Fernsehen wieder vermehrt vor, und die schwerstmögliche Form von Long Covid, ME/CFS – eine Erkrankung, die für Hunderttausende in Europa schon vor der Pandemie eine schwere bis unerträgliche Bürde war –, findet medial vermehrt Beachtung. Doch all das ist eingebettet in einen Pandemierevisionismus, der nicht mehr allein auf die Vergangenheit bezogene Ideologie ist, sondern in Echtzeit die Gegenwart umzuschreiben vermag.
Der Kern dieses Phänomens ist, dass in dem Maße über die noch bestehenden Gefahren aufgeklärt werden darf, in dem den Menschen die Möglichkeit genommen wird, sich dieser Aufklärung entsprechend zu verhalten. Das betrifft die intellektuelle und die ethische Ebene, aber auch die des Alltags.
Masketragen bedeutet ein Stigma, wahrscheinlich noch mehr als vor der Pandemie, allen WHO-Empfehlungen zum Trotz. Die unselige Immunschuldthese hat dazu beigetragen, die Stigmatisierung mit vermeintlich wissenschaftlichen Argumenten zu rechtfertigen. Solange Menschen, die einen auf die Maske ansprechen oder – ja, das kommt vor – deswegen bedrohen, nicht aufgeklärt werden, kann man sich diesem Stigma nur durch zeitweiligen Verzicht auf diese Schutzmöglichkeit entziehen, auch als vulnerable Person.
Furcht vor dem Vorwurf der Angstmacherei
Auf die Wissenschaft kann man sich allerdings als betroffene Person schlecht berufen. Nicht weil die Lehrmeinung uneindeutig wäre, sondern weil sie, durch etliche mediale Filter geschickt, in der Debatte verzerrt erscheint. Immer wieder ist so etwas oder Ähnliches zu hören: »Es ist nun wieder ratsam, als vulnerable Person in Innenräumen mit vielen Menschen, wo Abstandhalten oder gutes Lüften nicht möglich ist, Maske zu tragen.« Die Lebensrealität von Menschen, die auch bei niedriger Inzidenz in nicht überfüllten Räumen Masken tragen (müssen), kommt also selbst in den Aussagen vorsichtigerer Expert:innen nicht vor, denen man oft genug die Furcht anmerkt, sich dem Vorwurf der Angstmacherei auszusetzen. Zu befürchten ist, dass das dezent Irrationale und Inkohärente an solchen Aussagen auch den Skeptiker:innen auffällt.
An konkreten Beispielen lässt sich illustrieren, wie ernsthaft betriebene Aufklärung unter der Bedingung, über die Sinnhaftigkeit der Aufhebung sämtlicher Maßnahmen nicht mehr zu diskutieren, als Bestätigung für den lange eingeschlagenen Weg der Verharmlosung fungieren kann. In einem österreichischen Radiosender wurde im Juli eine Studie präsentiert, die bestätigt, dass Covid-19-Erkrankungen das Immunsystem dauerhaft schädigen können. Das könne erklären, warum die Krankenstandzahlen immer noch höher sind als vor der Pandemie, hieß es im Beitrag, doch einstweilen laute die Arbeitshypothese noch, dass die Schutzmaßnahmen der vergangenen Jahre für die hohe Krankheitslast verantwortlich seien. Hörer:innen werden daraus die Empfehlung ableiten, nur ja keine Maske zu tragen, um nicht noch häufiger krank zu werden.
Ein antiableistischer, antieugenischer Konsens in Bezug auf das pandemische Geschehen besteht in der Linken nicht mehr – so es ihn denn je gegeben hat. Wenn es ohnehin weder ideelle noch materielle Grundlagen für einen konsequenten Schutz zumindest der Vulnerablen gibt, lässt sich für dessen Notwendigkeit immer schwerer argumentieren. Selbst die Behauptung, es gebe Situationen, in denen konkret eine Ansteckung dieser und jener Person verhindert werden muss – so wie auch Arbeitsunfällen vorgebeugt werden muss oder ein Flüchtling nicht an der türkisch-iranischen Grenze erschossen werden sollte –, erscheint als privater Spleen, als Hindernis auf dem Weg zurück zur Normalität, auf die auch ein Großteil der Linken angewiesen zu sein scheint.
In einer etwas anderen gesellschaftlichen Situation wäre es möglicherweise normal, dass sich Linke weiterhin in praktischer Solidarität mit Vorerkrankten über die Zuverlässigkeit von Tests, über Inzidenzen, CO2-Messungen in Innenräumen und Covid-sichere Veranstaltungen unterhalten; so wie eben nichtweiße Menschen vor No-go-Areas gewarnt werden oder es im Idealfall auch Solidarität gegen Antisemitismus gibt. Es kommt hinzu, dass auch gegen den Revisionismus gerichtete Beiträge tendenziell das Leugnen und Verharmlosen unter aufklärerischen Vorzeichen weitertreiben. In Christian Drostens Aufarbeitungsbuch »Alles überstanden?« kommt Long Covid nur wenige Mal kurz vor; außerdem findet sich der Satz: »Wichtig für mich war der Zeitpunkt, an dem man sagen konnte, dass es jetzt diese Solidarität mit den Schwachen nicht mehr braucht.«
Der US-Immunologe Anthony Fauci, eine andere Koryphäe der »vernünftigen« Pandemiepolitik, konstatierte bereits vor einem Jahr trocken: »Die Vulnerablen werden auf der Strecke bleiben.« Nachdem Epidemiolog:innen und Virolog:innen stets betont haben, in den Gebieten Ökonomie und Soziologie Laien zu sein, wird die Solidaritätsaufkündigung wohl als virologische Fachmeinung aufgefasst werden. Drosten sagte in einem Interview zum Buch auch: »Die Wissenschaft war arrogant.« Arrogant war sie aber insofern, als sie durch ihre Verstrickung in kapitalistische Sachzwänge weit davon entfernt war, Rücksicht auf die Leben der Menschen als oberstes Gebot auszugeben.
Zum realen Echtzeitrevisionismus gehört auch, über die Rekorde bei den Krankenstandzahlen zu berichten, dies aber de facto mit Hetze gegen die hinter diesen Zahlen stehenden Menschen zu verbinden. So hieß es im öffentlich-rechtlichen ORF: »Seit der Pandemie sei das Bewusstsein dafür, erkrankt nicht in die Arbeit zu gehen, gestiegen, sagte Rolf Gleißner, Abteilungsleiter für Sozial- und Gesundheitspolitik in der Wirtschaftskammer. Das sei wiederum für die Betriebe eine große Belastung.« Weswegen die Wirtschaftskammer Salzburg nun unter anderem fordert, für den ersten Krankheitstag die Bezahlung zu streichen. Nicht die gesellschaftliche Krankheitslast soll gelindert werden, sondern die Krankenlast.
Revisionismus in der Praxis
Richtig effektiv aber wird der Revisionismus erst in der Praxis. Dazu gehört schon seit langem fehlender Infektionsschutz in den Krankenhäusern und Pflegeheimen; die Verschlechterung der Überwachung, so dass immer weniger Daten zu Inzidenzen und Hospitalisierung vorliegen; der immer schlechtere Zugang zu Tests; aber auch Absurditäten wie die Entsorgung von Dutzenden funktionierenden Luftfiltern, die in Münsteraner Schulen ihren Dienst geleistet hatten und nun für nicht mehr notwendig befunden werden, oder ein Maskenverbot zum Beispiel im Bezirk Nassau County des US-Bundesstaats New York.
Am gravierendsten aber ist wohl, dass die Versorgung für Long-Covid-Patient:innen so mangelhaft ist, als gäbe es gar kein Problem mit dieser Erkrankung. Sogar die FAZ berichtete unlängst über eine entsprechende Erhebung der Techniker-Krankenkasse und der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit, aus der hervorgeht, dass kompetente Ärzt:innen fehlten, Langzeitfolgen von Covid-19 oft nicht oder falsch behandelt würden und es sogar »Hinweise auf eine systematische Stigmatisierung und Diskriminierung Betroffener« gebe.
Die Wartezeiten auf Termine in Long-Covid-Ambulanzen betragen oft Monate und Versprechen, Versorgungsstrukturen auszubauen, werden nicht eingehalten. Doch auch wenn Betroffene einen Termin ergattert haben: Zu verbreitet ist nach wie vor die allzu schnelle Psychopathologisierung dieses komplexen Krankheitsbilds, die oft gefährliche Aktivierungstherapien nach sich zieht.
Auch in Österreich ist die Versorgung mangelhaft, berichtet der ORF. In einer Sendung Anfang August machen die Österreichische Gesellschaft für ME/CFS und die Stiftung We & Me auf Probleme bei der sozialen Absicherung von Post-Covid- und ME/CFS-Patient:innen aufmerksam. Fehlerhafte Gutachten führen demzufolge zu sozialrechtlichen und gesundheitlichen Folgen.
Einer der »größten Skandale der Medizin«
»Wir müssen davon ausgehen, dass Long-Covid-Erkrankten Leistungen vorenthalten werden, weil man ihnen ihre Beschwerden nicht glaubt«, zitiert die FAZ den Stigma-Forscher und Direktor der Leipziger Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Georg Schomerus. Insofern ist die Befürchtung des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linkspartei), dass auch Long-Covid-Patient:innen Opfer von Bürgergeldsanktionen werden könnten, sehr triftig.
All das knüpft an den jahrzehntelang eingeübten Umgang mit an ME/CFS Erkrankten an. Dieser ist dem New Yorker Professor für Rehabilitation David Putrino zufolge einer der »größten Skandale der Medizin«; der Guardian-Journalist George Monbiot spricht für Großbritannien ebenfalls von einem nationalen Skandal. Für die USA stellt die trotzkistische World Socialist Website fest, dass die Behindertenrechte von Long-Covid-Patient:innen routinemäßig mit Füßen getreten werden. Wie mit Menschen umgegangen wird, die entsprechende Sozialleistungen beantragen, sei es vom Staat oder von privaten Versicherungen, erläutert die Behindertenrechtsanwältin Nancy Cavey: »Ich sage meinen Klienten: ›Rechnen Sie damit, dass Ihr Antrag abgelehnt wird.‹ So läuft es leider nun einmal.«
Ständig gibt es neue Erkenntnisse zu den möglichen Folgen einer Sars-CoV-2-Infektion und Long Covid. Die renommierten Forscher:innen Ziyad Al-Aly, Eric J. Topol und Akiko Iwasaki haben im Verbund mit weiteren Spezialist:innen im August einen ausführlichen Review-Artikel in Nature Medicine mit dem Titel »Long COVID science, research and policy« veröffentlicht. Darin fassen sie noch einmal zusammen, dass Long Covid eine komplexe, multisystemische Störung ist, die nahezu jedes Organsystem betreffen kann, sei es das kardiovaskuläre System, das Nerven-, Endokrin-, Immun-, Fortpflanzungs- oder das Magen-Darm-System. Und: »Kumulativ bergen zwei Infektionen ein höheres Risiko für Long Covid als eine Infektion und drei Infektionen bergen ein höheres Risiko als zwei Infektionen.«
»Bedeutende Krise der öffentlichen Gesundheit«
Zudem führen sie die Sorge an, dass sich weitere, bislang unbekannte Folgen erst Jahre nach der akuten Infektion zeigen könnten. Über die pathophysiologischen Mechanismen von Long Covid wird weiter geforscht; zu den möglichen Mechanismen gehören Viruspersistenz, Immundysregulation, mitochondriale Dysfunktion, Störungen des Komplementsystems, prothrombotische Entzündung und Dysbiose. Eine Sars-CoV-2-Infektion kann die Fusion zwischen Neuronen und zwischen Neuronen und Gliazellen induzieren, signifikante Veränderungen der weißen Hirnsubstanz auslösen und die Funktion der Blut-Hirn-Schranke beeinträchtigen.
Auch auf nicht direkt medizinische Punkte weisen die Autor:innen hin. Die globale Inzidenz von Long Covid dürfte derzeit etwa 400 Millionen betragen. Die Einschätzung von Long Covid als einer »bedeutenden Krise der öffentlichen Gesundheit« ist also wohl kaum als übertrieben zu bezeichnen. Politisch erstaunlich deutlich heißt es auch, dass diese Krise eine Hürde im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten darstelle. Eine vorsichtige Schätzung der jährlichen globalen wirtschaftlichen Kosten von Long Covid beläuft sich auf eine Billion US-Dollar.
Zu weiteren Veröffentlichungen der vergangenen Monate gehört eine Studie eines Forschungsteams der Medizinischen Universität Wien im Fachjournal Allergy, die zeigt, dass Covid-19 auch bei mildem Verlauf zu beträchtlichen Langzeitveränderungen des Immunsystems führen kann. US-Forscher:innen konnten herausfinden, wie in einer Studie im Journal Cell Stem Cell dargelegt, dass Sars-CoV-2 auch Dopamin produzierende Nervenzellen infizieren kann; diese Infektion kann zu einer Seneszenz führen, also zur Unfähigkeit, zu wachsen und sich zu teilen, sowie dazu, dass die infizierten Neuronen die Produktion von Dopamin einstellen.
Angst vor rechten Wahlerfolgen
Mit einem anderen wichtigen Aspekt der Pandemie beschäftigt sich der kanadische Psychiater und Suizidexperte Tyler Black. Seine Untersuchungen zeigen, dass in den USA Schulschließungen nicht zu vermehrten Suiziden von jungen Menschen führten; tatsächlich lässt sich im Gegenteil eine Korrelation von längeren Schulschließungen mit sinkenden Suizidzahlen feststellen.
Die Realität ist widersprüchlich: Das Leugnen der anhaltenden Gefahr wird etwas zurückgedrängt, gleichzeitig schwinden die Möglichkeiten, sich der Gefahr entsprechend zu verhalten. Außerdem scheint die große Zeit der medialen und politischen Aufarbeitung der Pandemiepolitik gekommen zu sein. Dominierte bis 2021/2022 in Österreich und Deutschland noch patriotischer Stolz, so gut durch die Pandemie gekommen zu sein – ein Stolz auf die ausgeklügelte Balance zwischen Gesundheits- und Wirtschaftsinteressen also –, ist derzeit die im politischen Tagesbetrieb seltene Selbstkritik en vogue. Manchmal werden im Rahmen solcher Aufarbeitung tatsächliche Versäumnisse angesprochen. Oft geschieht das mit einer kühl-technischen Leichtigkeit, so als ginge es nur um eine Evaluierung der Organisation der Fußballeuropameisterschaft.
Das ist noch der beste Fall. Während neue Studien zeigen, dass zum Beispiel in den USA strengere Maßnahmen 250.000 Menschenleben hätten retten können, meinen Journalist:innen sowie konservative und sozialdemokratische Politiker:innen mit »Aufarbeitung« meistens nur Kritik an vermeintlich übermotivierter Eindämmung des Infektionsgeschehens. Steckt hinter diesem Phänomen etwas anderes als Angst vor rechten Wahlerfolgen – in Österreich geißelt die FPÖ die »Coronadiktatur«, in Deutschland sieht die AfD die »Regierung im Coronawahn«?
Die Versorgung für Long-Covid-Patient:innen ist so mangelhaft, als gäbe es gar kein Problem mit dieser Erkrankung. Zu verbreitet ist nach wie vor die Psychopathologisierung dieses komplexen Krankheitsbilds.
Eine materialistische Herleitung der offensichtlichen Notwendigkeit des Pandemierevisionismus steht noch aus. Die zwei hier vorsichtig vorgeschlagenen Gesichtspunkte könnten mögliche Richtungen für die Analyse aufzeigen. Erstens: Beim US-amerikanischen Evolutionsbiologen und marxistischen Epidemiologen Rob Wallace oder bei der deutschen Virologin Isabella Eckerle ist nachzulesen, was getan werden müsste, um weitere Pandemien zu verhindern. Ob man nun Wallaces Zugang favorisiert, einen radikalen und nachhaltigen Umbau der industrialisierten kapitalistischen Landwirtschaft anzustreben, oder Eckerles eher sozialdemokratische Ideen, die Zoonosen-Hotspots Wildtier-, Fell-, Fleisch- und Milchindustrien einer strengeren Kontrolle zu unterwerfen – beides ist unter den gegebenen Bedingungen kaum umsetzbar.
Da also tatsächliche Sicherheitsvorkehrungen unter gegebenen Bedingungen nicht praktikabel sind, ist es rational, zumindest ideologische Sicherheitsvorkehrungen zu ergreifen: Wenn der Bevölkerung durch den Pandemierevisionismus eine Bagatellisierung und Normalisierung des Massensterbens nahegelegt wird, rückblickend ebenso wie vorausschauend, verschafft das verantwortlichen Politiker:innen größere Sicherheit, bei der nächsten Pandemie nicht davongejagt zu werden.
Erweiterter Spielraum, brutalere Wege einzuschlagen
Zweitens: Beim Blättern in westlichen Tageszeitungen ist den Meldungen über Krisen des Gesundheitssystems, überfüllte Stationen und mangelnde Versorgung kaum zu entkommen. Wenn die Gesundheitssysteme vor der Pandemie in der Krise waren – wie soll ihr Zustand dann heute genannt werden? Die rechte wie auch die linke Freiheitsrhetorik auf dem Höhepunkt der Pandemie hat bewirkt, dass die zumindest implizite Identifikation von höherer eigener Krankheitslast mit mehr Freiheit sowie von Gesundheitsschutz mit Übergriff keine absolute Ausnahme ist.
Diese Verkehrung segnen nun auch noch politische Autoritäten ab, die stets betonen, ihre Entscheidungen seien wissenschaftlich fundiert. Das erweitert den Spielraum, bei der Lösung der Gesundheitskrise nicht nur auf bessere Bezahlung für Gesundheitsbedienstete, Aufstockung des Personals, Krankheitsprävention et cetera angewiesen zu sein – oder gar auf Bekämpfung eines ökonomischen Systems, in dem Gesundheit nur als Variable der Profitabilitätsrechnung zählt –, sondern auch brutalere Wege einschlagen zu können. Wege, die den sich selbst immer feindlicher werdenden Menschen bald durchaus menschenfreundlich vorkommen könnten.