19.09.2024
Auf der Videoplattform Tiktok inszenieren junge Frauen ihre Konversion zum Islam

Über Tiktok zu Allah

Immer wieder inszenieren junge Frauen auf Tiktok öffentlichkeitswirksam ihre Konversion zum Islam. Manche Konvertitinnen legen die Glaubensvorschriften weniger strikt aus als Salafistenprediger.

Kürzlich bei einem Workshop zum Thema Islamismus an Berliner Schulen: Eine Lehrerin erzählt, dass in ihrer Klasse mehrere Mädchen zum Islam konvertiert seien. Eine andere Lehrerin sagt, dass sie dieses Phänomen ebenfalls kenne. Auf die Frage »Haben auch andere Konversionen an ihren Schulen erlebt?« nicken gleich mehrere im Raum. Eine weitere Pädagogin sagt: »Fast in jeder Klasse, manchmal eine Handvoll.« Es fallen Stichworte wie Sinnsuche und Modetrend, um sich das zu erklären, aber genauere Gründe weiß keiner anzugeben.

Wie kommt es zu dem Phänomen? Steckt dahinter etwa eine Kampagne der in den sozialen Medien sehr umtriebigen Gruppe Generation Islam? Die Gruppe steht dem Verfassungsschutz und Experten zufolge der islamistischen Organisation Hizb ut-Tahrir nahe und strebt ein weltweites Kalifat an. Dabei nutzt sie unter anderem den Gaza-Krieg, um Jugendliche zu agitieren. Doch viele Lehrer in dem Workshop sagen, die Konvertitinnen erschienen ihnen wenig politisch.

Anders als die Salafistenprediger spricht die streng islamisch gekleidete Influencerin Khadija Omar in ihren Videos in freundlichen Ich-Sätzen und sagt, was sich für sie gut anfühlt.

Moden bei Jugendlichen kommt man auf der Kurzvideoplattform Tiktok auf die Spur. Die Sucheingabe »Muslim converts« (muslimische Konvertiten) produziert dort zahlreiche Resultate. Videos auf Tiktok sind meist nur wenige Sekunden lang. Viele Nutzer, auch creators genannt, arbeiten mit Textblöcken, die sie auf die bewegten Bilder setzen, und statt selbst zu sprechen, legen sie mar­kige Schnipsel aus Popsongs auf die Tonspur, die gesungenen Worte formen sie mit den Lippen nach.

Unter den Kacheln, die die Suche nach Konvertierten ergeben hat, erscheinen gleich meh­rere, auf denen die auf Englisch verfasste Zeile »Warum konvertieren so viele Mädchen zum Islam« zu lesen ist. Manchmal ist dies nach Herkunft spezifiziert: britische Mädchen, rumänische, polnische, die deutschen darunter bezeichnen sich als »europäische Mädchen«. Ein Klick, der das jeweilige Video startet, liefert die schlichte Antwort: »We woke up« (Wir sind aufgewacht) skandiert darin eine Stimme zu esoterisch oder religiös angehauchter Musik. Die achtsekündigen Clips enden mit einem langen »Yeah«, das die ­jeweilige Nutzerin euphorisch als Playback nutzt.

Ganz anders als die Salafistenprediger

Auffällig viele Nutzerinnen filmen sich ohne Kopftuch. Einige lassen bis zum Ende des Clips ihre Haare unbedeckt, andere zeigen sich nach einem Filmschnitt mit Kopftuch, manche auch vor einer Moschee. Das ist überraschend, denn Konvertiten stehen im Ruf, ihre neue Religion besonders streng zu praktizieren – und das würde beim Islam nach derzeitiger Mehrheitsmeinung für Frauen bedeuten, Haare, Hals und Brust zu bedecken. Wer besonders streng ist, würde auch keine alten Fotos von sich ohne Kopftuch oder gar im Minirock und bauchfrei zeigen. Aber genau das tun viele dieser konvertierten Nutze­rinnen.
Die Suche nach dem Ursprung des Trend führt zu der antiisraelischen Influencerin Khadija Omar, die unter dem Namen »Earth to Khadija« Videos produziert.

Die 20jährige, die vor knapp zwei Jahren mit den »We woke up«-Videos begonnen hat, lebt in Toronto, hat knapp 740.000 Follower auf Tiktok und kleidet sich streng islamisch mit langem brustbedeckendem Hijab. Auf Instagram wirbt sie unter anderem auch für kurze islamische Pilgerfahrten nach Mekka, die man für 1.000 kanadische Dollar buchen kann. Inzwischen hat Omar 31.000 Nachahmerinnen und Nachahmer gefunden. In ihrem eigenen Clip, den sie zu dem Ausspruch ursprünglich angefertigt hat, zeigt sie auch Fotos aus der Zeit, als sie noch kein Kopftuch trug. Allerdings hat sie diese Bilder technisch bearbeitet und dabei Haare und Hals überkritzelt.

Omars Islam ist streng. Wie in klassischen Predigervideos erklärt sie, wie man richtig lebt, sie zitiert aus dem Koran und den Hadithen, den Erzählungen über das Leben des Propheten Mohammed. Aber ganz anders als die Salafistenprediger spricht sie in freundlichen Ich-Sätzen, sagt, wie sie einen Hadith versteht, was sich für sie gut anfühlt, und betont, dass man sich Zeit nehmen soll auf dem Weg zum wahren Islam.

Neue liberale Tendenz bei Konvertitinnen? 

Unter den Konvertitinnen auf Tiktok gibt es auch welche, die weniger strenge Auslegungen als Omar propagieren. Mal erscheinen sie mit Kopftuch, dann wieder ohne, oder sie bedecken ihre Haare nur mit der Kapuze ihres Pullovers. Eine deutsche Influencerin, die sich Monique nennt, bringt in einem Video zum Ausdruck, wie egal ihr die Kleidung ist. Sie selbst trägt darin Hijab und faltet einen Gebetsteppich.

Ein­geblendet ist der Satz »Wenn ich ein Mädchen im Minirock sehe, die sich aufs Gebet vorbereitet«. Darin mimt sie, wie sie dieses imaginäre Minirock ­tragende Mädchen von oben bis unten mustert, schließlich anlächelt und ihm anerkennend zunickt. Im Hintergrund läuft der Song »That’s My Girl« der US-amerikanischen Girlgroup Fifth Harmony. Monique selbst trägt nur selten Kopftuch auf Tiktok, aber fast alle ihre Videos drehen sich um den Islam: Mal erklärt sie etwas, mal redet sie darüber, wie wunderschön diese Religion sei.

Zeigt sich hier eine neue liberale Tendenz bei Konvertitinnen? Die Islamismusexpertin Claudia Dantschke berät Eltern und Angehörige von sich salafistisch radikalisierenden Menschen. Auf Anfrage der Jungle World bestätigt sie, dass der Tiktok-Trend auch in ihrer Beratungsstelle Thema ist. »Wir haben immer mehr Anfragen, bei denen sich herausstellt, dass zwar die Angehörigen nervös und alarmiert sind, es sich in der Realität aber eher um eine Art Mode handelt«, so Dantschke. Diese Situationen würden sich relativ schnell wieder klären, so dass keine längere Beratung mehr nötig sei, sagt die Expertin.

Auffällig viele Mädchen konvertieren zum Islam 

Allerdings gilt das nicht für alle Fälle: Bei jungen Mädchen im Alter von 15 Jahren könne es »sehr schnell in staatsschutzrelevante Bereiche« hineingehen. »Es ist abhängig davon, ob sich die Mädchen gerade in einer Lebenskrise befinden, auf der Suche sind, bestimmte Bedürfnisse haben und eine emotionale Entfremdung vom sozialen Umfeld empfinden«, sagt Dantschke. In diesen Fällen könnten die Mädchen über diesen Trend »auf den Geschmack kommen und auf die Suche nach einfachen, aber eindeutigen Antworten gehen«.

Auch der Islamwissenschaftler und Religionspädagoge Abdel-Hakim ­Ourghi beobachtet seit einigen Jahren, dass auffällig viele Mädchen zum Islam konvertieren. Im Gespräch mit der Jungle World erzählt er, dass sie zu Beginn ihrer Konversion locker seien, es sei jedoch nur eine Frage der Zeit, bis sie dazu gedrängt würden, strenger zu werden. »Sie wollen angenommen werden und fühlen sich irgendwann gezwungen, ein Kopftuch zu tragen«, sagte Ourghi.

Das passiert möglicherweise bei der Nutzerin Laura just während dieser mehrtägigen Recherche. Die sehr junge Niederländerin bewirbt Bücher – Tiktok-Nutzer nennen das »Booktok« und bezeichnen es als die Pornoecke von Tiktok. Denn in den Videos geht es meist um explizite Liebesschnulzen oder Nachahmungen des BDSM-Bestsellers »Fifty Shades of Gray«. Die Nutzerinnen rezensieren nicht, sondern sprechen Szenen nach. Laura ist vor einem knappen Jahr zum Islam konvertiert. Auch sie hat ein »We woke up«-Video erstellt – zu diesem Zeitpunkt noch ohne Kopftuch.

Schicke Kopftuchstyles

Später zeigt sie neben den Romanzen, die sie bewirbt, auch schicke Kopftuchstyles und Anleitungen zum Binden. Aber meist bleibt sie bei ihren Büchern. Plötzlich aber sind all ihre Videos ohne Kopftuch verschwunden, auch die Werbung für sexuell explizite Romane hat sie gelöscht, nur die harmloseren Liebesschnulzen stehen noch auf ihrer Seite. Auf eine Anfrage der Jungle World antwortet sie nicht.

Doch ob Konvertitinnen wie Laura sich weiter islamisch radikalisieren und irgendwann auch Salafistenpredigern folgen, ist Expertinnen und Experten zufolge offen. »Noch hatten wir keinen Fall, der von dem einen Trend kam und einstieg und sich dann im extremen Trend wiederfand«, sagt Claudia Dantschke.

Auf Tiktok findet sich auch dieses Phänomen, das ebenfalls seit rund zwei Jahren zu beobachten ist: Musliminnen erzählen, warum sie das Kopftuch abgelegt haben. Sie beschreiben, dass es für sie Zwang bedeutet. 

Abdel-Hakim Ourghi beobachtet auch das gegenteilige Phänomen: »Viele Mädchen kehren zurück. Viele Konvertierte legen das Kopftuch nach einer Zeit wieder ab.« Ourghi ist gläubiger Muslim und bekannt für ­seine liberale Islaminterpretation. Aus diesem Grund wendeten sich viele Muslime an ihn, wenn sie mit den strengen Vorschriften hadern, erzählt er im Gespräch. Darunter seien auch viele Konvertiten. »Wenn sie sich genau mit dem Islam beschäftigen, ­beginnen sie kritisch zu werden. Viele schicken mir Mails und fragen mich zum Beispiel, ob das Kopftuch wirklich Pflicht sei«, sagt Ourghi.

Auf Tiktok findet sich auch dieses Phänomen, das ebenfalls seit rund zwei Jahren zu beobachten ist: Musliminnen erzählen, warum sie das Kopftuch abgelegt haben. Sie beschreiben, dass es für sie Zwang bedeutet. Eine Nutzerin, die sich Kaussar nennt und schon im Grundschulalter ein Kopftuch getragen hatte, erzählt von den Diskriminierungen, die sie dadurch erlebt habe. Obwohl das Kopftuch die Mädchen vor sexuellen Übergriffen schützen solle, berichtet sie von sexuellen Belästigungen durch muslimische und nichtmuslimische Männer.

Abdel-Hakim Ourghi hat Hoffnung, dass sich mit der Abkehr vom Kopftuch eine positive Entwicklung zeigt und ein liberaler, individueller Islam entstehen könnte. In Deutschland sieht er allerdings ein Hemmnis: Mit Ausnahme von Köln und Berlin gibt es keine ­liberalen Gemeinden, an die Menschen, die einen freieren Islam wünschen, Anschluss finden könnten.