10.10.2024
Auf den Spuren der Fluchthelferin Lisa Fittko in den Pyrenäen

Chemin de la Liberté: Über die Pyrenäen in die Freiheit

Von September 1940 bis März 1941 boten die Antifaschisten Lisa und Hans Fittko eine Fluchtroute an, die vom französischen Küstenort Banyuls-sur-Mer über die Pyrenäen in das spanische Portbou führte. So half das Paar ungefähr 100 Emigranten und Exilanten bei der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mittlerweile ist dort ein Wanderweg, der in Gedenken an den ersten Flüchtling, den Lisa Fittko über diese Route führte, »Chemin Walter Benjamin« heißt.

»Alles drängte nach Marseille. Die Stadt war vollgepfropft mit Flüchtlingen, dar­unter Scharen von deutschen Emigranten. Der große Hafen – vielleicht war dort ein Ausweg aus der Falle«, erinnert sich Lisa Fittko in ihren Memoiren »Mein Weg über die Pyrenäen«. Sie und ihr Mann Hans erreichten die südfranzösische Stadt im Juli 1940 auf der Flucht vor den deutschen Besatzern.

In Marseille kamen sie, wie viele andere Emigranten und Exilanten, am Bahnhof Saint-Charles an, von dessen Vorplatz aus man einen wunderbaren Blick auf die Stadt, die Kirche Notre-Dame de la Garde, die Calanques, felsige Buchten, und die Hügel im Stadtgebiet hat. Eine prunkvolle Treppe führt über den Boulevard d’Athènes zur einst prächtigen Canebière, die Walter Benjamin für die lauteste Straße der Welt hielt und die damals, als er Haschisch am Hafen rauchte, Marseilles ganzer Stolz war.

Lauteste Straße der Welt, Haschisch am Hafen 

In den vierziger Jahren führte ein Tunnel vom Bahnhof direkt ins gegenüber liegende Hotel Terminus, das noch immer existiert. Ein beliebter Weg für Flüchtlinge, um den Kontrollen der Polizei und der Vichy-Behörden auszuweichen. In der Toilette am Bahnhof schloss sich einstmals der junge Albert Cohen ein, um über die ihm gerade widerfahrene antisemitische Beleidigung nachzudenken.

1943 funktionierte die Wehrmacht das Hotel Terminus zur Truppenküche um. Daneben lag das Hotel Splendide, in dem sich das erste Büro von Varian Fry und dem Emergency Rescue Committee befand, dessen Unterstützung, Geld und Visa vielen Menschen das Leben rettete. Ab November 1942 residierten dort deutsche Offiziere, weswegen die Résistance im Januar 1943 einen Bombenanschlag auf das Gebäude verübte, der wiederum den Besatzern einen Anlass dafür lieferte, wie schon lange geplant gegen das ihnen verhasste Marseiller Hafenviertel Le Panier vorzugehen.

Lisa Fittko hat die Ereignisse in ihren Memoiren »Mein Weg über die Pyrenäen« festgehalten, die 1985 beim Münchner Hansa-Verlag erschienen. Der Bericht stützt sich zu weiten Teilen auf das, woran sie sich 40 Jahre nach den Geschehnissen noch erinnerte, enthält aber auch Auszüge aus ihren Tagebuchaufzeichnungen von damals.

Tausende, vor allem Juden und Jüdinnen, wurden ins nordfranzösische Drancy und von dort in die nationalsozialistischen Konzentrationslager deportiert und ermordet, ganze Straßenzüge und mehrere Hundert Häuser in einträchtiger Zusammenarbeit von Landsern und französischen Gendarmen gesprengt. Gegenüber dem Splendide, im Hotel Normandie, kamen die Manns und Arthur Koestler auf ihrer Flucht unter. Seit einigen Jahren gehört das Gebäude zur gesichtslosen Hotelkette Ibis.

Heute fällt das vor Monaten auf Häuserfassaden gesprühte Graffito der Palästina-Fahne auf, das von der Bahnhofstreppe aus zu sehen ist. Vor dem Bahnhofsgebäude erinnert seit neustem eine Stele an zwei Frauen, die ein Sympathisant des »Islamischen Staats« am 1. Oktober 2017 unter »Allahu Akbar«-Rufen mit einem Messer ermordet hat. Dort liegen frische Blumenkränze.

Nach dem Sieg der Deutschen Wehrmacht über Frankreich dauerte es noch bis zum Frühjahr 1941, bis der 1939 kriegsbedingt eingestellte zivile Schiffsverkehr von Marseille aus wiederaufgenommen wurde. Monatelang verharrten die Flüchtlinge in Marseille und warteten darauf, dass ihren Ausreise­anträgen stattgegeben werde. Unter diesen Bedingungen verwandelte sich der Hafen zum Schauplatz vieler dubioser Geschäfte, in denen es um illegale Fluchtmöglichkeiten ging. Der Schwarzmarkt für Ausweisdokumente, Schiffspassagen, Visa und private Fluchttransporte blühte; die Hilfsorganisationen hatten dort ihre Zentralen eingerichtet und bemühten sich, den Menschen eine Weiterreise zu ermöglichen; vor den Konsulaten waren die Schlangen unübersichtlich lang.

Ab 1939 flohen über eine halbe Million Spanier nach Frankreich

Unter dem Vichy-Regime war eine legale Ausreise aus Frankreich für Ausländer nur unter enormem bürokratischem Aufwand zu erreichen. Man musste tagelang in den langen Schlangen vor Behörden warten, viel Glück, gute Kontakte und eine offizielle Entlassungsbescheinigung aus den französischen Internierungslagern haben, um eine Ausreiseerlaubnis zu erhalten. Ein Schiffsticket und ein Visum für das Zielland benötigte man ebenfalls. Insbesondere diejenigen, die keine französischen Ausreise- und Entlassungspapiere besaßen oder nach denen deutsche Behörden fahndeten, suchten andere Möglichkeiten, als Frankreich über den Hafen zu verlassen.

Die Pyrenäen bilden eine natürliche Grenze zwischen Frankreich und Spanien. Unüberwindbar waren sie freilich nie. Im Mittelalter überquerten Menschen die Grenze, um zu arbeiten, zu schmuggeln oder auszuwandern. Ab 1936 wurden sowohl die Kämpfer für die Zweite Spanische Republik als auch, in deutlich geringerem Ausmaß, die aufständischen Truppen unter General Francisco Franco über diesen Weg mit Waffen versorgt. Zehntausende Menschen aus aller Welt schlossen sich den Internationalen Brigaden an, um gegen die spanischen und italienischen Faschisten und die Legion Condor zu kämpfen, einen Luftwaffenverband des Deutschen Reichs, der wie in Guernica Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung verübte.

Ab 1939 flohen über eine halbe Million Spanier nach Frankreich, wurden unter erbärmlichsten Bedingungen in den Lagern der Zentralpyrenäen, wie Gurs und Le Vernet, oder an den Stränden des Mittelmeers interniert. Nach dem Zusammenbruch der Dritten Französischen Republik 1940 flohen mindestens 35.000 Juden, Résistance-Anhänger, Roma und Gitanos, abgeschossene alliierte Piloten oder Exilanten über die Pässe nach Spanien. Bis zur Ankunft der Deutschen in der Region im November 1942 nahmen sie den Weg über die kleineren Berge an der Küste, später dann in tagelangen Märschen über die Hochpyrenäen. Als die deutsche Besatzungsherrschaft im Sommer 1944 zerfiel, versuchten auch Landser und Kollaborateure, nach Spanien zu gelangen. Ein letzter großer Versuch nach der Befreiung Südfrankreichs, den antifaschistischen Kampf gegen das Franco-Regime neu zu entfachen, scheiterte im Oktober 1944.

Einzige Möglichkeit, Frankreich zu verlassen

Mehrere Tausend Spanier die in der französischen Résistance gekämpft hatten, wagten einen erneuten Durchbruch nach Spanien, um den Kampf gegen Franco wiederaufzunehmen. Frankreich leistete ihnen keinerlei Unterstützung, das Unternehmen scheiterte verlustreich. Kurze Zeit später wurden die überlebenden spanischen Kämpfer von Frankreich entwaffnet und Charles de Gaulle erkannte als Präsident der Provisorischen Regierung das Franco-Regime offiziell an.

Lisa Fittko beschreibt, wie die Emi­granten auf der Suche nach Schlupflöchern im System immer auch Gerüchten folgten. Bei allem, was sie taten, trafen sie auf andere, die das Gleiche oder Ähnliches vorhatten. Das beschreibt auch Anna Seghers in ihrem bekannten Roman »Transit«. Lisa und Hans Fittko entschieden sich dafür, die illegale Flucht über die Pyrenäen zu versuchen, um über Spanien nach Lissabon zu gelangen und dort entweder unterzutauchen oder ein Schiff über den Atlantik zu nehmen.

Die Route über die Pyrenäen und durch Spanien gewann mit dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 an Bedeutung für die Flüchtenden und war Ende 1942 zur einzigen Möglichkeit geworden, Frankreich zu verlassen. Bis November 1942, als die Deutschen Südfrankreich besetzten, konnte sie teilweise auch noch legal passiert werden. Die allermeisten nahmen die Fluchtroute über die Pyrenäen jedoch illegal. Bestechung und Dokumentenfälschung waren gängige Praxis, denn um ein Transitvisum für Spanien zu erhalten, musste ein Transitvisum für Portugal vorliegen, das wiederum nur unter Vorlage eines Visums für ein Zielland jenseits des Atlantiks ausgestellt wurde. Oft liefen die entsprechenden Dokumente ab, bevor darauffolgende besorgt werden konnten. Trotzdem arbeiteten Hilfsorganisationen unermüdlich, um die Flüchtlinge sicher nach Übersee zu bringen. In gewissen Grenzen waren auch die kontrollierenden Beamten in Spanien und Portugal nachsichtig mit den Fliehenden.

Vor den Nazis geflüchtet, aus der KPD ausgeschlossen

»Von Leuten, die inzwischen schon über die Grenze waren, hatten wir gehört: In Banyuls (gemeint ist Banyuls-sur-Mer; Anm. d. Red.), dem letzten Ort vor der Grenze, gab es einen Bürgermeister, Monsieur Azéma. Er sei Sozialist und zudem bereit, den Emigranten zu helfen.« Und so machte Lisa Fittko sich auf, diesen Bürgermeister zu treffen. Es folgte eines aufs andere, und dass ihr Mann Hans ihr kurzerhand Walter Benjamin hinterherschickte mit dem Versprechen, man werde ihn über die Grenze bringen, führte dazu, dass sich die Fluchtpläne der Fittkos ab 1940 unerwartet in Fluchthilfearbeit verwandelten.

Bürgermeister Azéma hatte vorgeschlagen, dass die Emigranten die »route Lister« selbstorganisiert betrieben – so nannte er den Schmugglerpfad nach dem General der spanischen Republikaner, der ihn während des Bürgerkriegs für seine Truppen benutzt hatte. Varian Fry vom Emergency Rescue Committee, der Lisa Fittko in seinen Briefen eigenartigerweise nur als »Frau von Hans Fittko« bezeichnete, trug dem Paar diese Aufgabe an. Lisa zögerte: »Ein unverantwortlicher Leichtsinn, jetzt unsere Ausreisepläne einfach fallen zu lassen. Auf uns wartete die Gestapo schon zu lange.« Die Antifaschistin in ihr sollte jedoch die berechtigten Bedenken hintanstellen. »Wir wollten es nicht riskieren, sollten andere es tun?« fragte sie sich und kam zu dem Schluss: »Sollten wir es drauf ankommen lassen? Noch dieses letzte Mal.« Die Fittkos waren in Berlin bis 1933 in der KPD aktiv gewesen, wurden aber 1937 aus der Partei ausgeschlossen, was ihre Lage noch prekärer machte.

Malerische enge Gässchen führen vom Bahnhof von Banyuls-sur-Mer hinunter an die Promenade vor der kleinen Bucht. Anfang Oktober feiert man hier vier Tage lang ein Fest anlässlich der Weinernte. Banyuls liegt mitten in einem Weinanbaugebiet, aus dessen Trauben wird der gleichnamige Süßwein gewonnen. Ende September sind die Vorbereitungen für das Weinfest schon zu sehen: Reben und Herbstlaub hängen als Girlanden zwischen den Strommasten, Flohmarktstände säumen die Promenade. »Hier in Banyuls-sur-Mer sind wir in einem unglaublichen Haus untergebracht«, schrieb Lisa Fittko am 12. Oktober 1940 in ihr Tagebuch. »Das Meer ist so nah vorm Fenster, dass man die Hand danach ausstrecken kann.«

Villa mit Meerblick

Vincent Azéma, der ab 1935 Bürgermeister von Banyuls war, unterstützte Lisa Fittko bei dem Betrieb der Fluchtroute tatkräftig, bis die Deutschen ihn des Amts enthoben und durch einen Kollaborateur (Lisa Fittko nennt ihn »collabo-Beamten«) ersetzten. Azéma war es auch, der ihr und Hans zunächst eine Villa mit Meerblick zur Verfügung stellte, in der sie und ihre Schützlinge unterkommen konnten. Der französische Arzt, dem sie gehörte, war seit Ausbruch des Kriegs nicht mehr gesichtet worden. »Bürgermeister Azéma hat es kurzerhand im Namen der Gemeinde beschlagnahmt und zum Centre d’hébergement de Banyuls pour les réfugiés gemacht.« Das Haus »hat drei Stockwerke mit unendlich vielen Zimmern, mit herrlicher Holzvertäfelung, eingebauten Schränken und prächtigen Kaminen«, schrieb Lisa Fittko.

Läuft man heutzutage die Küstenpromenade ab, kommt man an ein paar schmucken, wenn auch in die Jahre gekommenen mehrstöckigen Villen vorbei. Die Villa der Flüchtlinge lag wohl am etwas außerhalb des Stadtzentrums gelegenen Strand von Les Elmes, wo mittlerweile Touristen in einem Spa-Hotel mit Privatstrand residieren. Als die Fittkos Banyuls-sur-Mer verließen und mit dem Zug an Les Elmes vorbeifuhren, soll Hans zu Lisa gesagt haben: »Wenn das alles vorüber ist und wir sind einmal alt und wollen endlich Ruhe haben, dann können wir zurückkommen und dort wohnen.«

Am Sonntagmittag spielen einige Herren Pétanque, das okzitanische Boule für ältere Semester mit rheumatischen Beschwerden. Das war schon zu Zeiten der Fittkos ähnlich: »Die Sonne scheint. Auf dem Dorfplatz sind wie immer die boulomanes, die manischen Boule-Spieler, vertieft in den Lauf der kleinen Metallkugeln«, notierte Lisa Fittko am 28. November 1940 in ihr Tagebuch. »Sie regen sich auf, sie lachen und beschimpfen sich auf Katalanisch.«

Die Region um Banyuls-sur-Mer gehörte früher einmal unter dem Namen Rosselló zum katalanischen Fürstentum. Seit den Dreißigern bezeichnen katalanische Nationalisten dieses Gebiet daher als Nordkatalonien oder auch Pays catalan. Im 17. Jahrhundert war hier eine ganz eigene separatistische Bewegung entstanden: Rosselló ersuchte beim spanischen König um Unabhängigkeit vom katalanischen Fürstentum und wollte sich selbst verwalten. Der Sache dieser Separatisten war jedoch kein Erfolg beschieden und die Region blieb katalanisch.

Noch immer kann man, wie einst Lisa Fittko, die katalanische Sprache auf der Straße hören. »Mit uns reden sie Französisch, wie mit allen étrangers. Wie gut, dass jeder, der nicht hierher gehört, ein étranger ist, egal ob man ein Franzose aus einer anderen Gegend ist oder ein apatride

»Der Rucksack ist das sprichwörtliche Kennzeichen der Deutschen.«

Am 15. Oktober 1940 notierte Lisa Fittko in ihr Tagebuch: »Ich habe Hans den Weg gezeigt, den ich mit Walter Benjamin gegangen bin und den wir für die Flüchtlinge benutzen werden. Unser Pfad ist tatsächlich durch den Gebirgsüberhang verdeckt und kann vom Kamm, wo die Zöllner patrouillieren, nicht gesehen werden.« Das Emergency Rescue Committee benannte die »route Lister« nach den Fittkos in »F-Route« um. Heutzutage heißt der Wanderweg »Chemin Walter Benjamin«, in Gedenken an den berühmten ersten Flüchtling, den Lisa Fittko nach Spanien brachte.

Die Ausschilderung der Route beginnt am alten Rathaus in der Avenue Général de Gaulle. In der Apotheke kann man sich noch mit Blasenpflastern und im Supermarkt mit Wegproviant eindecken. Dann geht es in Richtung des alten römischen Oppidum Puig del Mas. »Et surtout pas de rucksack!« – Und vor allem kein Rucksack, hieß es hingegen für Lisa Fittko und ihre Begleiter, denn heute wie damals gilt: »Der Rucksack ist das sprichwörtliche Kennzeichen der Deutschen.«

»Am Ortsausgang von Banyuls, nachdem man den silbernen kleinen Fluss überquert hat, führt der Weg durch Puig del Mas, eine Gruppe von Häusern zwischen hohen Bäumen«, beschrieb Lisa Fittko. »Das war das ursprüngliche Dorf, aus dem das jetzige Banyuls entstanden ist. An dieser Stelle passen die Zöllner am meisten auf, hat Azéma uns gewarnt. Wir haben uns im Dunkeln unter die Leute gemischt, die in die Weinberge hinaufziehen. Die Weinbauern haben Spaten, an denen ein Korb für die Erde hängt; Hans wird sich zur Tarnung einen solchen cabec anschaffen, wie man das hier nennt.«

Bergab ins spanische Tal

Der Weg von Puig del Mas bis zum Gebirgspass ist leicht zu finden und gut zu laufen. Mitten im Gewirr der Weinterrassen steht ein kleines Steinhäuschen mit der Aufschrift »Independència paisos catalans«, die schon aus einiger Entfernung lesbar ist. Das ist sozusagen die katalanische Maximalforderung, die auch die französischen Gebiete in das separatistische Vorhaben einschließt. Nach ungefähr drei Stunden Wanderung ist der Grenzpunkt erreicht.

»Ich habe Hans vorher nichts von der Bergspitze gesagt, von der man zu beiden Seiten der Felswand die zwei Küsten übersieht, weil ich ihn überraschen wollte«, schrieb Lisa Fittko. »Als wir dort ankamen, hat er mir die Hand gereicht, um mir hinaufzuhelfen. Dann schaute er nach vorne, und es muss ihn wohl gepackt haben, jedenfalls ließ er meine Hand los und ich rutschte zurück. Glücklicherweise war da ein Stück Felsen, an dem ich mich festhalten konnte. Wir haben uns eine Weile hingesetzt und nur geschaut. Das Bild wird mir immer bleiben.«

Der Weg bergab ins spanische Tal gestaltet sich etwas schwieriger. Kleine, steile und verschlungene Pfade führen hinab und man kann leicht vom Weg abkommen. Festes Schuhwerk ist bei dem teilweise durch lose Steinplatten und kleines Geröll rutschigen Untergrund wichtig. Die Flüchtlinge sollten Espadrilles tragen, um sich an die Weinbauern anzupassen. Dass die hier genügend Halt geboten haben, ist schwer vorstellbar.

Die Informationstafeln, die den »Chemin Walter Benjamin« ausweisen, sind ausgebleicht, die Schrift ist nicht mehr zu entziffern. Die Aufkleber von Antifa-Gruppen aus Berlin hingegen sind nicht zu übersehen. Unmittelbar unter der Grenze, irgendwo abseits der offiziellen Wanderroute, fragen zwei junge Männer in Fußballtrikots auf Italienisch nach dem Weg. Sie wirken nicht wie italienische Touristen, ja eigentlich gar nicht wie Italiener. Wie Walter Benjamin tragen sie einen unpraktischen Koffer in die Berge und wollen wissen, ob wir Polizei gesehen haben.

»In Banyuls, dem letzten Ort vor der Grenze, gab es einen Bürgermeister, Monsieur Azéma. Er sei Sozialist und zudem bereit, den Emigranten zu helfen.« Lisa Fittko

Der spanische Küstenort Portbou sieht von oben nicht ansatzweise so malerisch aus wie sein französisches Pendant, alles wirkt etwas schroffer. Unten angelangt lockt dafür ein Strandbistro mit Ausblick auf das Meer. Noch am frühen Abend schwimmen die Einheimischen im glasklaren Wasser der Bucht. Im Hafenbecken sind rote Seesterne und kleine blaue Fische zu sehen, man hört Eisvögel piepsen, die nah über dem Wasser fliegen. Auf dem Platz vor der Casa David, wo es phantastische Tapas zu günstigen Preisen gibt, sitzen charmante alte Damen, unterhalten sich und fluchen – auch hier auf Katalanisch. Ob man schon auf dem Friedhof gewesen sei, fragt die Bedienung, da gingen viele, vor allem Deutsche hin, die sich für Philosophie interessieren, wegen des Grabs des berühmten Philosophen.

Am Morgen darauf strahlt das Meer himmelblau und ein Horizont zwischen Wasser und Luft kaum auszumachen. Auf einem Felsplateau über der Stadt thront der Friedhof mit einem malerischen Blick über Küste und die Stadt. »Es ist einer der fantastischsten und schönsten Orte, die ich je gesehen habe«, schrieb Hannah Arendt, die im Oktober 1940 das Grab ihres Freundes Walter Benjamin besuchte. Segelboote ziehen Linien auf dem Meer. Statt einzelner Grabstätten mit Grabsteinen sind die Gräber in einer Art Regalformation aus weißem Kalkstein in langen Reihen und übereinander angeordnet. Die Grabplatten zieren schöne Gravuren, goldgerahmte Porträtfotos, Kerzen und Plastikblumen.

Blumengestecke für Benjamin in katalanischen Nationalfarben

Dass man Walter Benjamin, der sich am 26. September 1940 in Portbou das Leben nahm, trotz des Suizids in katholischer Tradition auf dem örtlichen Friedhof beerdigte, war einem Missverständnis geschuldet. Der Arzt Dr. Vila stellte seinen Totenschein in Unkenntnis darüber, wessen Tod er bescheinigte, auf den Namen Benjamin Walter aus. So fand der Philosoph seine vorläufige Ruhestätte im Grab mit der Nummer 563. Als die Grabgebühren von 5 Jahren, die Henny Gurland gezahlt hatte, die mit ihm gemeinsam die Pyrenäen überquert hatte, ausliefen, wurden Benjamins Überreste in ein anonymes Grab auf dem Friedhof überführt. Heute erinnert ein Ehrengrabmal an ihn. Davor liegen 84 Jahre später anlässlich seines Todestags am 25. September frische Blumenkränze. In katalanischen Nationalfarben ehren die Regional- und die Stadtverwaltung mit jeweils eigenen Blumengestecken den großen Philosophen.

An der Ehrengrabstätte trifft man auf ein paar Deutsche, oder vielmehr vermutlich Antideutsche. Eine Israelin möchte das Zitat »Es ist niemals ein Zeugnis der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein« ins Englische übersetzt haben. Schon Walter Benjamin, sagt sie, habe den Zionismus abgelehnt, sie selbst habe derzeit ein großes Problem mit Israel.

Taugt Walter Benjamin als Kronzeuge gegen Israel? Wohl eher nicht. Versuche, einige Zitate zu rekapitulieren, scheitern auf Anhieb. Man wird wohl nochmal den Briefwechsel Benjamins mit Gershom Scholem genauer lesen müssen.