In gefährlichem Gelände
Tel Aviv. »Die Situation im Libanon stellt für unsere Soldaten eine ganz andere Herausforderung dar als die flache, dicht besiedelte Stadtumgebung in Gaza«, sagt Idan Russo, ehemaliger Offizier beim Militärgeheimdienst der israelische Streitkräfte (IDF), im Gespräch mit der Jungle World: »Das Gelände ist größer als der Küstenstreifen und die Topographie herausfordernd, was der Hizbollah entgegenkommt. Vertraut mit dem Terrain, bietet es ihren Kämpfern Möglichkeiten, Panzerabwehrraketen und Sprengfallen gegen eine konventionelle Armee einzusetzen.«
Russo war 1978 an der Operation Litani – als Israel sich zum ersten Mal gezwungen sah, in den Libanon vorzustoßen – und am ersten Libanon-Krieg 1982 beteiligt. Der Spionageexperte erinnert sich: »Es gibt Felsbrocken, die man als Versteck nutzen kann, und Bereiche, wo auch viele Fahrzeuge kaum weiterkommen. Manche Pfade sind selbst zu Fuß schwer zu bewältigen.«
Bereits vor den jüngsten Entwicklungen war die Gegend um die libanesisch-israelische Grenze Kriegsgebiet. Die Hizbollah und die IDF lieferten sich seit dem 8. Oktober 2023 Feuergefechte, was zu zahlreichen Toten auf beiden Seiten führte und Zehntausende Zivilisten ins Innere beider Länder vertrieb; zudem beschoss die Hizbollah auch weiter entfernte rein zivile Ziele in Israel mit Drohnen und Raketen. Im September ging Israel mit einer Reihe von Militär- und Geheimdienstoperationen in die Offensive: Es sprengte elektronische Geräte der Hizbollah, tötete mit Luftangriffen ihren langjährigen Generalsekretär Hassan Nasrallah sowie viele weitere hochrangige Mitglieder der Militärführung – und schickte zum ersten Mal seit 18 Jahren Truppen in den Libanon.
Die israelischen Soldaten stoßen im Südlibanon auf unterirdische Bunker und Tunnelschächte: eine ausgedehnte Ausgangsbasis, um in den Norden Israels vorzudringen.
Während der Operation Litani, als man gegen die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) kämpfte, besetzten die IDF das Gebiet südlich des Flusses Litani, zogen sich aber nach eine Woche wieder zurück, nachdem der UN-Sicherheitsrat die Entsendung der United Nations Interim Force in Lebanon (Unifil) beschlossen hatte. Im ersten Libanon-Krieg war erneut die PLO der Gegner. Als diese vertrieben worden war und damit deren Terrorkampagne vom Libanon aus endete, richtete Israel eine Sicherheitszone im Südlibanon ein. Diese Besatzung trug zur vom Iran unterstützten Gründung der Hizbollah bei, die das erklärte Ziel hatte, die IDF zu vertreiben. Erst im Jahr 2000 zog sich Israel wieder zurück. Danach kam es zu einer Reihe gewalttätiger Zwischenfälle an der Grenze, die 2006 in einem weiteren Krieg gipfelten.
»Die Israelis sind gegen eine Bodenoffensive im Libanon«, sagt Sarit Zehavi, Gründerin des Alma Research and Education Center, einer Stiftung, die sich auf die Analyse der Sicherheitslage in Nordisrael konzentriert, im Gespräch mit der Jungle World. »Nicht nur wegen des Kriegs 2006, sondern wegen all der Jahre, die wir seit 1982 dort verbracht haben. Viele Soldaten starben in der Pufferzone, die angeblich unser Land schützte. Jetzt aber gibt es keine andere Möglichkeit, die vertriebene Bevölkerung wieder zurückzubringen.«
Die Libanon-Expertin erklärt, dass die Hizbollah ihre Lehren aus dem Krieg 2006 gezogen habe. Dabei profitierte sie jahrelang nachweislich von Waffenlieferungen aus dem Iran und soll mittlerweile ein Arsenal von über 150.000 Raketen besitzen, darunter auch solche, die Ziele im gesamten israelischen Staatsgebiet treffen können. Auch seien ihre Kader im Iran militärisch ausgebildet worden und besäßen Kampferfahrung, die sie im syrischen Bürgerkrieg auf der Seite des Regimes von Präsident Bashar al-Assad erworben hätten.
Verbesserung israelischer Geheimdienstoperationen
Doch auch die IDF haben in den vergangenen 18 Jahren ihre Militärdoktrin weiterentwickelt. Sie verbesserten ihre Geheimdienstoperationen und bauten eine Datenbank mit Tausenden von Zielen auf, auf die in jedem Krieg zurückgegriffen werden kann. Allein Anfang Oktober haben ihre Kampfflugzeuge in nur 36 Stunden 1.500 Ziele getroffen, mehr als in den 34 Tagen des Kriegs von 2006.
Im Gaza-Streifen ist es aufgrund von Geheimdienstinformationen ebenfalls gelungen, die Hamas zu schwächen, wenngleich der Tod ihres Anführers Yahya Sinwar offenbar das Ergebnis einer Routineoperation war. »Auch im Gaza-Krieg sieht man, dass die IDF ihre Lehren gezogen haben«, hält Zehavi fest. »Die Lektionen des Guerillakampfs in den urbanen Gebieten und in Tunneln könnten auch auf den libanesischen Raum angewendet werden«, so Zehavi, »selbst wenn die Hamas-Offensive am 7. Oktober Israel überraschte. Die Hizbollah drohte seit Jahren, Gemeinden in Galiläa anzugreifen und einzunehmen.« Bereits in ihrem Gründungsmanifest von 1985 nennt die Hizbollah die Zerstörung Israels als Ziel. »Da die IDF einen Angriff der Schiitenmiliz in Galiläa auf mehreren Ebenen erwarteten, haben sie dort Kampfübungen durchgeführt«, berichtet Zehavi. »Wir waren im letzten Krieg nicht ausreichend vorbereitet. Heute sind wir es.«
Während der Libanon im Chaos versinkt, wollen die IDF ihre Angriffe weiter fortsetzen, bis die Hizbollah aus dem Süden zurückgedrängt ist, um die vertriebenen Bürger in den Norden Israels zurückbringen zu können. Experten glauben, dass dem jüdischen Staat ohne Einsatz von Bodentruppen ein jahrelanger Zermürbungskrieg drohen würde.
Gelegentlich gerät die IDF in Hinterhalte
Die IDF-Offensive begann in der Gegend von Metula, Israels nördlichster Stadt, die auf drei Seiten vom Libanon umgeben ist und im vergangenen Jahr am stärksten unter den Angriffen der Hizbollah litt. Von dort weiteten die IDF ihren Feldzug nach Westen aus und entsandten zur Fortführung ihrer Offensive eine neue Division, um das Gebiet zu übernehmen. Unweit der Grenze durchqueren ihre Soldaten bewaldete Hügel und verlassene Dörfer, liefern sich Nahkämpfe mit der Hizbollah und geraten gelegentlich in Hinterhalte. Am Donnerstag voriger Woche gaben die IDF den Tod von fünf Soldaten bekannt.
Das Ziel ist es, Bunker und andere militärische Infrastruktur zu finden und zu zerstören, die die Terroristen über viele Jahre hinweg aufgebaut haben. Um den Hizbollah-Kämpfern die Deckung zu nehmen, wurden Bäume und Büsche entwurzelt. Israelische Soldaten zerstören mit Bulldozern und kontrollierten Sprengungen Gebäude, unter denen sie auf unterirdische Bunker und Tunnelschächte stoßen, die zu den Befestigungsanlagen der Schiitenmiliz gehören: eine ausgedehnte Ausgangsbasis, um in den Norden Israels auf ähnliche Weise vorzudringen, wie es der Hamas im Süden gelungen war.
»Seit über einem Jahr erleben wir einen neuen Nahost-Krieg«, sagt Ruth Wasserman Lande, ehemalige Knesset-Abgeordnete für Blau-Weiß, ein Parteienbündnis der politischen Mitte. »Es ist nicht einfach ein Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, sondern vielmehr Teil eines umfassenderen schiitisch-sunnitischen Kriegs, der über 1.000 Jahre alt ist. Der schiitische Iran und das sunnitische Katar sowie die Türkei sind in einen Kampf um die Weltherrschaft verwickelt, um allen Menschen das islamische Recht aufzuzwingen. Dieser Kampf wird durch Versuche, international einflussreiche Kreise wie Denkfabriken und Universitätscampus zu infiltrieren, sowie durch verdeckte Online-Kampagnen um die öffentliche Meinung geführt.«
Abraham-Abkommen als Quelle der Hoffnung?
Die 48jährige forscht mittlerweile am Misgav Institute for National Security and Zionist Strategy in Jerusalem und sagt, dass selbst die Zweistaatenlösung dieses Problem nicht beseitigen würde. Bildung sei die langfristige Lösung im Kampf gegen radikalislamische Indoktrination und Propaganda, so Wasserman Lande. »Im Fall von Gaza müssten nach dem Ende der Kämpfe internationale Streitkräfte aus Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) eingesetzt werden, um für Umerziehung zu sorgen.« Sie verweist auf die Abraham-Abkommen als Quelle der Hoffnung für die Region. In den vier Jahren, seit Bahrain, die VAE, Marokko und der Sudan ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, hätten die Länder eine sinnvolle wirtschaftliche und persönliche Zusammenarbeit aufgebaut. »Jede Nation sollte beim Friedensschluss mit dem jüdischen Staat auch ihr antiisraelisches Bildungssystem ändern«, fordert Wasserman Lande.
Zunächst aber geht es um den Sieg über die islamistischen Terrorgruppen. Israel will die Hizbollah aus dem Grenzgebiet vertreiben, deren Rückzug aus dem Gebiet südlich des Litani die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats von 2006 ebenso vorsah wie ihre Entwaffnung. Die Unifil aber trat der Hizbollah nie entgegen und duldete deren kontinuierliche Kriegsvorbereitung, sogar in unmittelbarer Nähe ihrer eigenen Stellungen. In der Zwischenzeit fanden die IDF einen Tunneleingang nur 60 Meter neben einem Wachtturm der Unifil; so war es nur eine Frage der Zeit, bis die UN-Truppe ins Kreuzfeuer geriet.
»Wir haben es mit radikalen religiösen Fanatikern zu tun, die man ähnlich wie die Nazis vor 80 Jahren nicht mit Demonstrationen und Sitzblockaden vertreiben wird.« Idan Russo, ehemaliger Offizier beim Militärgeheimdienst
»Bei einem Feldzug weiß man, wo er beginnt, aber nicht, wo er endet«, sagt Idan Russo. »Um die Region zu befrieden, wird man das iranische Netzwerk zerstören müssen. Wir haben es mit radikalen religiösen Fanatikern zu tun, die man ähnlich wie die Nazis vor 80 Jahren nicht mit Demonstrationen und Sitzblockaden vertreiben wird.«
Er hofft auf eine diplomatische Lösung, doch bräuchten UN-Truppen ein viel robusteres Mandat, um Terrororganisationen wie die Hamas oder die Hizbollah in Schach zu halten. Für den Spionageexperten ist der derzeitige Stellvertreterkrieg zwischen Israel und dem Iran die erste Schlacht eines neuen Weltkriegs, eines Konflikts zwischen der modernen Welt und dem radikalen Islam. »Dem Westen droht ein ähnliches Schicksal wie Israel«, glaubt Russo. »Es ist eine neue Art von Waffengang, der nicht mit Armeen, Panzern, Flugzeugen und Infanterie geführt wird. Es ist ein Krieg gegen Feinde, die die freie Welt von innen heraus zerstören wollen.«