24.10.2024
Kamil Majchrzak, Initiator der Berliner Mahnwachen gegen Antisemitismus, im Gespräch über seine Erfahrungen seit dem 7. Oktober

»Wir werden regelmäßig beleidigt«

Seit Oktober 2023 organisiert eine Gruppe in Berlin an jedem 7. Tag eines Monats Mahnwachen gegen Antisemitismus. Sie erinnern an das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und fordern die Freilassung der Geiseln. Die »Jungle World« sprach mit dem Initiator der Mahnwachen, Kamil Majchrzak, polnisch-deutscher Jurist und Mitglied beim Vorstand des Polnischen Verbands ehemaliger politischer ­Häftlinge der NS-Gefängnisse und Konzentrationslager.

Wie sind die Mahnwachen gegen Antisemitismus entstanden?
Auf die Gemeinde Kahal Adass Jisroel in der Brunnenstraße wurde in der Nacht vom 17. zum 18. Oktober 2023 ein Brandanschlag verübt. Am 18. Oktober meldeten wir an der Synagoge unsere erste Mahnwache an. Zunächst stand ich dort allein mit einem Schild. Mit der Zeit wurden wir immer mehr.

Wer beteiligt sich an den Mahnwachen?
Wir sind eine parteiunabhängige Initiative von freiwillig Engagierten, ein breites Bündnis, das sich für die Vielfalt und den Schutz jüdischen Lebens einsetzt. Wir wollen einen öffentlichen Ort des Austausches und der Bildung gegen Antisemitismus, Terrorverharmlosung, Holocaust-Leugnung und Desinformation schaffen. Unterstützt werden wir von unterschiedlichen Initiativen wie den Lesben gegen rechts, Omas gegen rechts, feministischen Gruppen, dem Netzwerk für NS-Verfolgte in der Ukraine sowie Berufsgruppen wie Sozialarbeiter und Ärztinnen gegen Antisemitismus. Gemeinsam kämpfen wir gegen die beständige Normalisierung des Antisemitismus und gegen Angriffe auf unsere Erinnerungskultur. Egal ob diese aus der Mitte der Gesellschaft kommen oder von linken, rechten oder jihadistischen Demokratiefeinden. Wir sind auf der Straße, weil hier der Antisemitismus besonders sichtbar wird.

»Der 7. Oktober hat offengelegt, dass der Antisemitismus weitverbreitet ist. Er macht weder halt vor dem Kulturbetrieb noch vor Akademikern.«

Was bewirken die Mahnwachen?
Wir zeigen unseren jüdischen Nachbarinnen und Nachbarn, dass wir an ihrer Seite stehen. Wir haben das Schweigen und unsere Ohnmacht nach dem Schock der antisemitischen Massaker durchbrochen. Trotz der Trauer und des Schmerzes aufgrund des Terrors bildeten sich Freundschaften und Allianzen ganz unterschiedlicher Menschen. Ich bin sehr dankbar für die Offenheit, aufeinander zuzugehen, zu sprechen und zusammenzuarbeiten, aber auch den Mut der Menschen. Wir demonstrieren konsequent Solidarität mit Israel.

Bei den Mahnwachen sind oft emotionale Redebeiträge zu hören, in denen Menschen von ihren persönlichen Erfahrungen berichten. Welcher Moment ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Der berührendste Moment für uns war, an dem Umzug der neuen Torarolle vom Bebelplatz zur Synagoge teilzunehmen. Wo einst Bücher verbrannt wurden, wurde ein neues geschrieben. Eine Wiedergeburt jüdischen Lebens.

Gab es auch negative Zwischenfälle?
Wir werden regelmäßig beleidigt. Bei einer Kundgebung in Kreuzberg gegen eine sogenannte propalästinensische Demonstration wurden Teilnehmer durch Stein- und Flaschenwürfe und eine Art Blendgranate verletzt.

Welchen persönlichen Bezug haben Sie zu dem Thema?
Meine Großeltern haben Auschwitz, Buchenwald, Zwangsarbeit und mordende ukrainische Nationalisten überlebt und dann bei der Berliner Operation 1945 in der polnischen Armee gegen die Nazi-Diktatur gekämpft (beim Zangenangriff der Roten Armee auf Berlin waren die 1944 organisierten Streitkräfte der Republik Polen an vorderster Front beteiligt; Anm. d. Red.). Wir wurden mit Hitler fertig – wir werden gemeinsam auch den islamistischen Terror und die Demokratiefeinde besiegen. Wegen der jüdischen Bürgerinnen und Bürger, aber auch um unserer Demokratie selbst willen.

Wie lange wollen Sie die Mahnwachen noch machen?
Mindestens bis alle von den Islamisten aus Israel entführten Menschen frei sind. Der 7. Oktober hat offengelegt, dass der Antisemitismus weitverbreitet ist. Er macht weder halt vor dem Kulturbetrieb noch vor Akademikern. Es darf keine neuen Judenreferate (Bezeichnung der Dienststelle Adolf Eichmanns, die ab 1941 die Shoah koordinierte; Anm. d. Red.) geben, die das Existenzrecht Israels leugnen und jüdisches Leben auslöschen wollen. Nirgendwo.