Als Balzac das Balzen ließ
Die überwältigende Produktivität Honoré de Balzacs erweckt bei seinen Lesern und Nichtlesern mitunter den falschen Eindruck, er wäre mindestens im goetheschen Alter gestorben. In Wahrheit ist der realistische Schriftsteller Balzac mit den meisten Angehörigen der jüngeren Schriftstellergeneration der Symbolisten und Naturalisten dadurch verbunden, dass er nicht alt geworden ist.
Gerade 51 Jahre war er, als er im August 1850 in seiner Pariser Wohnung starb, nur wenige Monate nach der Heirat mit der Kiewer Gräfin Hańska im damals zum Russischen Reich gehörenden Berditschew (heute Berdytschiw in der Ukraine). Die Todesursache würde man heutzutage wahrscheinlich mit Burn-out umschreiben.
Balzac beschreibt sich selbst gegenüber Carraud immer wieder mit Bildern, die ihn metaphorisch verweiblichen und der Adressatin eine dankbare Passivität, Defensivität und Weichheit signalisieren.
Seit Mitte der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts war Balzac nicht nur wegen politischer und amouröser Verstrickungen beinahe ununterbrochen auf Reisen. Zeitweise kandidierte er als Legitimist für die Deputiertenkammer und hatte neben der Liebesbeziehung zur Gräfin Hańska mehrere Affären. Außerdem hatte er sich seit dem Publikumserfolg seines Romans »Les Chouans« (»Die Chouans oder Die Königstreuen«) einen verschwenderischen Lebensstil zugelegt, den er fortan durch sehr viel literarische Arbeit finanzieren musste. So wechselten sich in seinem Alltag Monate manischer Schreibtätigkeit, in denen er binnen Wochen ganze Romane fertigstellte, mit Zeiten luxuriösen Konsums und exzessiven Speisen- und Alkoholgenusses ab.
Balzacs Ansprüche an die eigene Arbeit waren jedoch strenger als die vergleichbarer Kolportagedichter wie Edgar Wallace oder Jules Verne. Sprachliche Detailarbeit, Geschliffenheit des Stils und der Verzicht auf Ausschmückungen und Digressionen hatten für die Prosa seines 1830 begonnenen Romanzyklus »Comédie humaine« große Bedeutung, worin er Aspekte der Ästhetik Gustave Flauberts vorwegnahm. Wie produktiv und zugleich desaströs sich die literaturgeschichtlich singuläre Allianz von Massenproduktion und ästhetischem Absolutismus, Journalismus und Journaillefeindlichkeit auf Balzacs Leben auswirkte, hat Wolfgang Pohrt in seiner 1984 erschienenen Balzac-Studie »Der Geheimagent der Unzufriedenheit« gezeigt.
Als Schlüsseltext für eine sozialgeschichtliche Deutung von Balzacs Schreiben lässt sich der Briefwechsel Balzacs mit der Kinderbuchautorin und Lehrerin Zulma Carraud lesen, der kürzlich unter dem Titel »Denn Ihnen sage ich alles!« erschienen ist. Ulrich Esser-Simon hat die Korrespondenz erstmals vollständig übersetzt und mit historischen Anmerkungen sowie einem Vorwort versehen.
Die Edition ist auch deshalb verdienstvoll, weil sie nicht dem zweifelhaften Bedürfnis entgegenkommt, sämtliche mit bedeutenden Schriftstellern befreundete Frauen unabhängig von deren tatsächlicher lebensgeschichtlicher und poetographischer Bedeutung zu Inspiratorinnen oder gar Mitarbeiterinnen von deren Werken zu stilisieren. Vielmehr bestand, wie Esser-Simon in seinem Vorwort zeigt, Carrauds besondere Beziehung zu Balzac darin, dass hier – durchaus vergleichbar mit Flauberts Freundinnen und Briefpartnerinnen Louise Colet und George Sand – eine von Eifersucht und unausgetragener erotischer Ambivalenz ungetrübte Ebenbürtigkeit aufleuchtet, die der frauenemanzipatorisch nicht gerade vorbildliche Balzac ansonsten fast nirgends an den Tag legte.
Balzac beschreibt sich selbst gegenüber Carraud immer wieder mit Bildern, die ihn metaphorisch verweiblichen und der Adressatin eine dankbare Passivität, Defensivität und Weichheit signalisieren: »Ich suche Ermutigung bei Ihnen, wenn mich irgendein Stachel verletzt; wie eine Taube, die zu Ihrem Schlag zurückfindet. Ich empfinde für Sie eine Zuneigung, der keine andere gleichkommt, die keinerlei Rivalität kennt und die unvergleichlich ist. (…) Ja, vergessen Sie nicht, dass es in diesem so vulkanischen Paris einen Menschen gibt, der oft an Sie, (…) an alles denkt, was Ihnen lieb und teuer ist, (…) dessen immer noch junges Herz von alter Freundschaft zu Ihnen erfüllt ist.«
Stadt und Land, Jugend und Alter
Der Gegensatz zwischen dem »vulkanischen Paris« und der ländlichen Zurückgezogenheit, in der Carraud die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte, ist für den Briefwechsel ebenso charakteristisch wie die Entgegensetzung von Jugend und Alter. Carraud, die Balzac wohl über seine Schwester Laure kennengelernt hatte, lebte als Ehefrau und zweifache Mutter in dem kleinen Ort Nohant-en-Graçay in Mittelfrankreich.
Ereignisse der Politik, des sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Bedeutung der Massenpresse umstürzend wandelnden Literaturbetriebs und der glamourösen Hauptstadt, die im zentralistischen Frankreich in der Provinz omnipräsent, aber geographisch weit weg war, erreichten Carraud vorwiegend durch Balzacs regelmäßige Briefe. Zudem war Nohant als Erholungsort Balzacs, Flauberts, Frédéric Chopins sowie als Wohnort von George Sand symbolisch und erfahrungsgeschichtlich an die Metropole angeschlossen.
Carraud erscheint im Briefverkehr mit Balzac als die Ortsansässige, Sesshafte und Garantin emotionaler wie geistiger Stabilität, Balzac als der teils aus beruflichen Zwängen, teils aus Vergnügungslust heraus Schweifende, der ihr von wechselnden Orten aus in ihr immer gleiches Zuhause schreibt. Zugleich deutet Balzac mit der Formulierung, sein »immer noch junges Herz« sei »von alter Freundschaft« zu ihr erfüllt, an, dass Carraud nicht einfach als Ruhepunkt des eigenen unruhigen Lebens Bedeutung hatte, sondern als erfahrene, ernsthafte und in Balzacs Selbsteinschätzung erwachsenere Autorität.
Verhältnis eines Schülers zu seiner Lieblingslehrerin
Seine literarischen Werke begutachtet sie mitunter wie Arbeitsproben ihrer Schüler, etwa wenn sie am 17. September 1833 über seinen Roman »Le Médecin de campagne« (»Der Landarzt«) schreibt: »Obwohl ich nicht mit allen Gedanken, die Sie formulieren, einverstanden bin, und dabei sogar einige entdeckt habe, die widersprüchlich sind, erachte ich dieses Werk nichtsdestoweniger als absolut großartig und sehr schön und hinsichtlich des psychologischen Aspekts überragt es zweifellos alles, was Sie bisher gemacht haben. Bravo, weiter so!«
Wie sich die von treuer Zuneigung durchdrungene Hochachtung Carrauds für Balzacs Werk immer wieder mit dem Duktus der Schullehrerin gegenüber einem Zögling mischt, und wie kindlich geschmeichelt Balzac angesichts solch lehrerinnenhaften Lobes ist – eben wie eine Taube, die dafür belohnt wird, zu ihrem Schlag zurückgefunden zu haben –, trägt zum besonderen Reiz des Briefwechsels bei.
Dass Carraud zu einem Ruhepol in Balzacs unruhigem Leben wurde, hat wohl auch damit zu tun, dass die Freundschaft zu ihr nie den Charakter einer Liebes-, aber auch nie den einer mütterlichen Verbindung angenommen hat. Vielmehr erinnert sie an das von Hochachtung, aber auch von Disziplin geprägte Verhältnis eines Schülers zu seiner Lieblingslehrerin, die, obgleich sie älter ist, immer für jenen da zu sein scheint. Dazu passt, dass Carraud, die nur drei Jahre älter als Balzac war, erst fast 40 Jahre nach ihm, am 17. April 1889, in Paris gestorben ist.
Esser-Simon zitiert aus einer Postkarte, die sie kurz vor ihrem Tod an Émile Aucante, den Sekretär von George Sand, geschrieben hat: »Ich bin immer noch da, werter Monsieur, trotz des unweigerlichen Verfalls. Was sagen Sie zu dieser unglaublichen Beharrlichkeit? (…) Trotz der Baufälligkeit der Maschine gibt es darin immer noch genug Lebenskraft, um das Schöne und Gute zu schätzen!« Dass auch die Maschine, als die die französischen Aufklärer den menschlichen Organismus beschrieben, irgendwann unweigerlich den Geist aufgibt, weshalb die Erfülltheit individuellen Lebens davon abhängt, woran dessen Impulse, Affektationen, Arbeit und Liebe sich verschwendet haben, darin waren sich Carraud und Balzac einig. Dass es Balzac ein so großes Glück bereitete, sie als Freundin zu haben, hat nicht nur ihm gutgetan, sondern erfreut auch den Leser.
Honoré de Balzac: Denn Ihnen sage ich alles! Briefwechsel mit Zulma Carraud. Herausgegeben, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Vorwort von Ulrich Esser-Simon. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 504 Seiten, 44 Euro