31.10.2024
Das neue Album von Gewalt ist mit Anspielungen an George Orwell gespickt

Wut im Bauch

»Wir sind kaputt, die Götter verrückt«: Zu diesem Fazit kommen Gewalt auf ihrem zweiten Album »Doppeldenk«, dessen Titel und Themen immer wieder auf George Orwells »1984« anspielen und für das sie ihren Noise-Rock-Sound um tanzbare Synthesizerklänge erweitert haben.

»Wir waren sehr euphorisiert, vor ­allem im Ausland ist mit uns viel passiert. Aus der internationalen Tour sind wir als eine andere Band hervorgegangen. Davor haben wir das vielleicht nicht so ernst genommen«, erzählt Patrick Wagner, Sänger, Texter und Gitarrist von Gewalt, der Jungle World. In der ersten Jahreshälfte 2023 spielte die Gruppe in Europa und in den USA. Ihre Texte handeln etwa von Armut, Welt- und Selbstekel. Doch die Zu­schauer:innen begeisterte vor allem der energetische Sound. »Die haben uns ganz anders wahrgenommen: Viele sagten uns, dass wir wie eine neue Version der Talking Heads klingen würden. Das haben wir mehrfach in verschiedenen Ländern ­gehört.«

Nach der Tour entstand auch wieder neue Musik. Während auf dem Debütalbum »Paradies« von 2021 noch brachialer Noise-Rock mit Industrial-Elementen dominierte, ist die Klangästhetik des zweiten, jüngst erschienenen Albums »Doppeldenk« facettenreicher. Im melancholischen Song »Ein Sonnensturm tobt über uns« wird der »German-Wut-Wave« von Patrick Wagner, Helen Henfling und Jasmin Rilke sogar von einem Saxophon begleitet. Man denkt an Fehlfarben und Abwärts, sowieso oft an die Achtziger. Die Gitarristin Helen Henfling kam nämlich auch auf den Geschmack eines analogen Synthesizers: Der für die Acid-House-Kultur prägende Roland TB-303 sorgt auf der Platte für eine ravige Note. »Es gab nur eine Regel: Man soll dazu tanzen können!«

Thematisch wirkt das referenzreiche Album fast überfrachtet. Es geht um kollektive Therapie­bedürftigkeit, sozialen Abstieg, aber auch um Kriegsdrohnen.

Der Albumtitel verweist auf George Orwells 1949 erschienenen Roman »1984« über einen totalitären Überwachungsstaat. Der Brite Orwell war Schriftsteller, Sozialist und entschiedener Gegner von Stalin. »Double­think«, in frühen Fassungen noch als »Zwiedenken« übersetzt, bezeichnet in dem dystopischen Buch »sorgfältig konstruierte Lügen« der herrschenden Partei: Widersprüchliche Sätze werden für gültig erklärt, die Logik wird »gegen die Logik« ins Feld geführt, Freiheit wird Sklaverei genannt und Geschichte nach Belieben umgeschrieben. 2017 wurde »1984« in den USA erneut ein Bestseller, nachdem Kellyanne Conway, seinerzeit Beraterin des US-Präsidenten Donald Trump, in Doppeldenk-Manier von »alternativen Fakten« sprach. 

Der Roman diente Gewalt als loses Konzept für das Album, das sich an der Gegenwart abarbeitet. »Es geht um die Einsicht, dass heute auch sehr viel Doppeldenk-mäßig kommuniziert wird«, sagt Henfling. »Das Buch ist zudem interessant, weil politische Systeme teilweise wirklich genauso umgesetzt werden.« Sie dachte bei Folter- und Zensurszenen an Entwicklungen in der Slowakei und Russland.

Eigentumsverhältnisse in Bertolt-Brecht-Manier erklärt

Das stilistisch an DAF erinnernde Stück »Jemand« dreht sich um Wladimir Putin, der seine eigene Wahrheit erschafft und dessen Regime brutal gegen Oppositionelle sowie Homosexuelle und Trans-Menschen vorgeht, aber wohl auch um Trump. Auf Klarnamen und Parolen wird verzichtet, etwas kryptisch heißt es: »Jemand hält die Welt in Atem, weil er kann / Jemand hält die Welt in Atem, weil man ihn lässt«. 

Andere Texte werden konkreter. In »Felicita« werden die Eigentumsverhältnisse in Bertolt-Brecht-Manier erklärt: »Die Menschen leben im Zelt«, während es »Häuser für Autos / Häuser für Gott / Häuser für Daten und Häuser für Tische« gibt. Anderswo geht es um den Verlust eigener Gewissheiten: Während Rio Reiser mit Ton Steine Scherben noch »Halt dich an deiner Liebe fest« sang, ändert Wagner diese hoffnungsvolle Zeile ab und brüllt mantrahaft gegen harte Gitarren-Riffs an: »Halt dich an deiner Lüge fest.«

Thematisch wirkt das referenz­reiche Album fast überfrachtet. Es geht um kollektive Therapiebedürftigkeit, sozialen Abstieg, aber auch um Kriegsdrohnen. Wagner berichtet aus einer Kontrollgesellschaft, in der Menschen ihre Schritte zählen und beim Einkauf Punkte sammeln.

Doppeldenk-Momente in sich selbst

Manchmal vermisst man den roten Faden, doch die Texte zeichnet gerade jene Doppelperspektive aus: Einerseits widmet sich Wagner der Außenwelt und prangert gesellschaftliche Zustände an, andererseits ist der Frust in klassischer Post-Punk-Tradition nach innen gerichtet. Das haben Gewalt mit Bands wie Die Nerven gemein. Da ist Wut im Bauch, aber das Bauchgefühl ist oft diffus. Wagner führt aus: »Inzwischen findet man Doppeldenk-Momente ja auch in sich selbst. Das ist vielleicht das Entscheidende: Man vertraut sich mittlerweile fast selbst nicht mehr. Man vertraut eigenen Aussagen nicht mehr, man vertraut auch eigenen Gefühlen nicht mehr.«

Ende September spielte das Trio im Wiener Volkstheater bei einer Veranstaltung, bei der man sich auch mit der rechtsextremen FPÖ beschäftigte. In einem Stück ist der zeitgenössische Kulturbetrieb Thema, den die Band insgesamt als zu angepasst empfindet. »Wir sind eher schockiert, dass Leute unsere Musik krass nennen. Es ist doch Disco, man kann dazu tanzen. Was läuft denn falsch bei denen?« sagt Wagner, und Henfling ergänzt: »Die Einstürzenden Neubauten sind klangtechnisch zum Beispiel viel krasser. Dagegen sind wir fast Mainstream. Ich glaube, in den letzten 20 Jahren ist Musik immer weichgespülter geworden.« 

Solidaritätsadresse an Trans-Menschen

Gewalt setzen stattdessen auf Konfrontation: »Trans«, eine laute Melange aus Electro und Post-Punk, ist eine Solidaritätsadresse an Trans-Menschen. Der Song gehört zum Soundtrack des österreichischen Dokumentarfilms »Der Soldat Monika« über Monika Donner. Die österreichische Autorin setzt sich für Rechte von Trans-Menschen ein, verbreitet aber auch zahlreiche Verschwörungstheorien und erfreut sich bei Rechten großer Beliebtheit.

Im Song geht es jedoch um Bedrohungen im Alltag von Trans-Menschen, etwa wenn sie in Fußgängerzonen angegafft werden. Am Musikvideo wirkten Trans-Menschen, Queers und Musi­ker:innen wie Thorsten Nagelschmidt oder Frank Spilker mit. »Es war sehr viel Kommunikationsarbeit, die Leute für das Video zu überzeugen. Sie alle singen: ›Ich bin Trans.‹ Ich fand das einfach wichtig«, erzählt Wagner. 

Wie »1984« hat auch »Doppeldenk« kein Happy End: Das Finale »Ne ne, alles gut« ist eine musikalische und für das Album auffallend ruhige Hommage an den Theater­regisseur und Volksbühnen-Intendanten René Pollesch, der im Februar gestorben ist. Dessen letzte Theaterarbeit hieß »Ja nichts ist ok«.

Trotz solcher Töne wäre es aber falsch, »Doppeldenk« als pessimistisch zu bezeichnen. Gewalt überraschen hier nämlich nicht nur mit clubbigen Sounds, sondern auch mit Solidaritätsgesten und hoffnungsvollen Passagen. Der Opener »Schwarz Schwarz« malt die Welt eben nicht schwarz. Auch hier liegt eine Anspielung auf Orwells Roman nahe, in dem die Menschen die Farbe Schwarz Weiß nennen, »wenn es die Parteidisziplin erfordert«.

Doch das lyrische Ich im Song lässt sich nicht täuschen und sagt zu Schwarz weiter Schwarz. »Ich denk wie mit acht / Und fühl wie mit zwölf«, lautet eine Zeile. Das wirkt verletzlich und betont gleichzeitig die Klarheit des kindlichen Blicks auf die Welt. »In dem ­Alter war man selbstbewusst, man war sich seiner Gefühle sehr sicher«, erinnert sich Wagner.


Albumcover Doppeldenk

Gewalt: Doppeldenk (Clouds Hill)