Misere in den Lagern
Es sind schwerwiegende Vorwürfe: Grenzschützer Bangladeshs sollen einem von Amnesty International am Freitag voriger Woche veröffentlichten Bericht zufolge Anfang August Anwohner:innen daran gehindert haben, Rohingya-Flüchtlingen zu helfen, deren Boot nahe der Küste gekentert war. Mindestens zwölf seien ertrunken, die Überlebenden am folgenden Tag rechtswidrig nach Myanmar abgeschoben worden, wie bereits 5.000 weitere in diesem Jahr.
Immerhin gibt es Hoffnung auf Verbesserungen. Denn Anfang August musste Bangladeshs Regierung abtreten. Bereits in seiner Antrittsrede, nachdem er am 8. August als Leiter der Interimsregierung in Dhaka vereidigt worden war, war Muhammad Yunus, Friedensnobelpreisträger von 2006, explizit auch auf die rund 1,2 Millionen Rohingya-Flüchtlinge eingegangen, die noch immer im Land leben. Er bekräftigte dabei die Verpflichtung, sich um die Insassen in den riesigen Lagern der Region um die Küstenstadt Cox’s Bazar zu kümmern. Es gehe dabei um »die nachhaltigen Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft für humanitäre Maßnahmen zugunsten der Rohingya und schließlich ihre Rückführung in ihr Heimatland Myanmar – mit Sicherheit, Würde und vollen Rechten«, wie er sagte.
In Bangladesh werden nach dem Sturz der zuletzt autoritär herrschenden Regierung von Sheikh Hasina Wajed durch studentisch angeführte Massenproteste derzeit die politischen Strukturen verändert. Mannigfaltig sind die Herausforderungen, vor denen der 84jährige Yunus und seine Kabinettsmitglieder stehen: Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, Reformen bei Polizei, Verwaltung und Institutionen sowie Vorbereitung freier Wahlen – neben all den täglichen Aufgaben, die eine Regierung ohnehin zu bewältigen hat. Bleiben da noch Kapazitäten für die Rohingya?
15 Prozent der Kinder in den Flüchtlingslagern gelten als unterernährt – die bisher höchste Zahl seit 2017, wie ein Bericht der UN-Niederlassung Bangladesh im Mai hervorhob.
Zumindest ist die Erwartung unter den Flüchtlingen noch immer groß, dass sich für sie nun tatsächlich etwas zum Besseren wendet. Immerhin konnte Yunus bei seiner Reise zur UN-Generalversammlung Ende September einen kleinen Erfolg verbuchen: Der scheidende US-Präsident Joe Biden, den er zu einem persönlichen Gespräch traf, sagte 200 Millionen US-Dollar zusätzlich für die Rohingya-Hilfe zu. Das mag nicht allzu viel erscheinen, ist aber wichtig für die finanzielle Absicherung der von UN-Organisationen koordinierten Betreuung in den Lagern, wo die Versorgungsrationen der Familien zeitweilig wegen Geldmangels schon gekürzt werden mussten.
Als die Regierung Hasinas 2017 in höchster Not die Angehörigen der muslimischen Bevölkerungsgruppe in so großer Zahl aufnahm, war ihr dies zunächst von den Geflüchteten selbst und der »internationalen Gemeinschaft« hoch angerechnet worden. Zwar leben einige hunderttausend Rohingya nach früheren Vertreibungen in Myanmar schon mehr als ein Jahrzehnt in Bangladesh. Fast 750.000 kamen aber binnen weniger Monate hinzu, als die myanmarische Armee (Tatmadaw) Mitte August 2017 eine Offensive begann, zu der Morde, Vergewaltigungen und das Niederbrennen ganzer Dörfer gehörten – auf Betreiben Gambias läuft dazu seit Ende 2019 ein Verfahren wegen Genozids und ethnischer Säuberungen vor dem Internationalen Strafgerichtshof. Schon vor der Fluchtwelle 2017 galten die Rohingya als eine der am schärfsten verfolgten Minderheiten weltweit, seit 1982 wird ihnen in Myanmar auch explizit die Staatsbürgerschaft verweigert.
Nach dem Militärputsch in Myanmar
Später wollte Hasina die Aufgenommen jedoch gern zügig wieder loswerden. Schon vor dem Militärputsch in Myanmar am 1. Februar 2021 war es nicht gelungen, ein tragfähiges Repatriierungsabkommen zu erreichen. Die Bemühungen liefen immer wieder ins Leere, da die Geflüchteten – so unhaltbar die Lage in den Camps war und ist – fast ausnahmslos Sicherheitsgarantien für eine freiwillige Rückkehr voraussetzten. Da nun in Myanmar unter General Min Aung Hlaing, dem Anführer der Junta, seit über dreieinhalb Jahren eben jene Armee auch politisch herrscht, die damals für die Verbrechen verantwortlich war, gibt es praktisch keine Rückkehrbereitschaft mehr.
Immerhin hat sich die Situation im Teilstaat Rakhine, der Herkunftsregion der Rohingya, gewandelt: Elf der dortigen 18 Townships (Bezirke) befinden sich inzwischen unter Kontrolle der Arakan Army (AA) – eine der zahlreichen bewaffneten Organisationen ethnischer Minderheiten (ethnic armed organisations, EAOs), die ebenso wie die Streitkräfte der demokratischen Gegenregierung (National Unity Government, NUG), die People’s Defence Forces (PDF), gegen das Regime kämpfen.
Auch die von der regionalen Titularethnie der mehrheitlich buddhistischen Rakhine gestellte AA gilt zwar gemeinhin nicht als größter Freund der Rohingya, vereinzelt hat es aus ihren Reihen ebenfalls schon Übergriffe gegeben. Die Führung der 40.000 Kämpfer starken Rebellengruppe hat sich aber mehrfach für ein friedliches Miteinander der Bevölkerungsgruppen ausgesprochen. Darauf lasse sich aufbauen, meint Azeem Ibrahim vom New Lines Institute for Strategy and Policy in Washington, D.C.
Genozid an den Rohingya
In einem Gastbeitrag für die saudische Tageszeitung Arab News im September betonte der Experte, der schon 2017 ein Buch über den Genozid an den Rohingya veröffentlicht hatte, es sei Zeit für einen Neubeginn der Verhandlungen. Die Interimsregierung in Dhaka solle deshalb Gesprächskanäle mit Generalmajor Twan Mrat Naing, dem politischen und militärischen Führer der AA, aufbauen und auch auf die NUG zugehen. Anders als der Tatmadaw und die Junta, die weiter darauf bauten, »die Bevölkerungsgruppen gegeneinander auszuspielen«, sei die AA bemüht, sich als gemäßigt in ethnischen Fragen zu profilieren, so Ibrahim. Ihr politischer Flügel, die Arakan National Union (ANU), hat Bereitschaft bekundet, mit der »internationalen Gemeinschaft« zusammenzuarbeiten.
Derweil ist die Lage in den Flüchtlingscamps im Südosten Bangladeshs weiterhin katastrophal. Zwar konnte das Welternährungsprogramm (WFP) seine Mitte 2023 von zwölf auf acht US-Dollar pro Person gekürzten Zahlungen für Essensrationen wieder auf zehn US-Dollar anheben. Jedoch gelten inzwischen 15 Prozent der Kinder als unterernährt – die bisher höchste Zahl seit 2017, wie ein Bericht der UN-Niederlassung Bangladesh im Mai hervorhob. 90 Prozent der Geflüchteten seien nicht in der Lage, sich ausreichend zu ernähren.
Und Ernährung ist nur eines der Probleme: Auch Bildungsangebote und Gesundheitsbetreuung sind in den sieben Jahren nie über den Status von Provisorien – wenngleich mit höchstem Engagement der dort Tätigen – hinausgekommen. Und zu jeder Monsunzeit leben die Rohingya in größter Sorge, dass Erdrutsche ihre armseligen Zeltunterkünfte unter Schlammlawinen begraben. Überdies nehmen laut Medienberichten die Aktivitäten krimineller Banden rapide zu, es gebe immer mehr Fälle von Entführung und Menschenhandel. Die Perspektivlosigkeit ist gerade bei der Jugend in den Lagern allgegenwärtig.
Hunderttausende Binnenflüchtlinge in Myanmar
Beim Blick auf Myanmar, das immer weiter im Bürgerkrieg versinkt, wird das humanitäre Problem der Rohingya aber erneut eher zur Randnotiz. Die intensivierten Kämpfe zwischen der Junta auf der einen und EAOs und PDF auf der anderen Seite haben im Land selbst weitere Hunderttausende zu Binnenflüchtlingen gemacht – gerade vor den Bombardements der Tatmadaw-Luftwaffe sind die Einwohner vieler Städte und umliegender Dörfer zuhauf geflohen. Unter anderem Thailand ist bemüht, über einen angestrebten humanitären Korridor wenigstens in den Gebieten entlang seiner Grenze zu helfen.
Auf ihrem jüngsten Gipfel in Laos Anfang Oktober haben die Asean-Staaten Myanmar in den Mittelpunkt gestellt und einmal mehr auf ihren Fünf-Punkte-Plan von 2021 Bezug genommen, um ein Ende der Kämpfe zu erreichen. Die aus zehn südostasiatischen Staaten bestehende Organisation ist sich aber nicht einig, welche politische Linie gegenüber der Junta verfolgt werden soll, die trotz eines fadenscheinigen Dialogangebots im Vormonat alle Gegner weiterhin pauschal als »Terroristen« bezeichnet. Indonesien ist in Kontakt mit der NUG, auch Malaysia, das 2025 den Asean-Vorsitz übernehmen soll, gilt als besonders juntakritisch. Zumindest bleibt es beim Ausschluss ranghoher Regimevertreter Myanmars von Gipfeltreffen, lediglich ein Abteilungsleiter aus dem Außenministerium war diesmal dabei.
Doch trotz der imposanten militärischen Erfolge der AA und insgesamt des Vorrückens der demokratischen Widerstandskräfte landesweit, die inzwischen sogar größere Städte wie Lashio im Shan-Staat einnehmen konnten und die Tatmadaw-Truppen weiter in die Defensive drängen, ist ein Sturz des Regimes in Myanmar noch nicht absehbar. Die Rohingya haben eindeutig bekundet, dass sie nur dann zur Heimkehr bereit sind, wenn ihre Sicherheit garantiert ist. Während einige in kaum hochseetauglichen Booten auf dem lebensgefährlichen Seeweg von Bangladesh weiter nach Indonesien (Provinz Aceh) und Malaysia fliehen, wo sie längst auch nicht mehr willkommen sind, hoffen andere auf einen Neuanfang anderswo. Eine verstärkte reguläre Übersiedlung in Drittländer, die Yunus bereits vorschlug, scheitert bisher aber daran, dass diese allenfalls kleinere Gruppen aufnehmen wollen.