Reden mit dem Onkel
Völlig unerwartet hat Devlet Bahçeli, der Vorsitzende der rechtsextremen türkischen Partei MHP, die mit der AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan koaliert, Anfang voriger Woche Abgeordneten der verfemten prokurdischen Partei für die Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM) die Hand geschüttelt und vorgeschlagen, einen Friedensprozess einzuleiten. Dazu solle der inhaftierte PKK-Anführer Abdullah Öcalan vor dem türkischen Parlament sprechen. Auch von einer Änderung der Verfassung ist die Rede.
Es handelt sich dabei um denselben Devlet Bahçeli, der vor Jahren bei Wahlkampfveranstaltungen mit einer Drahtschlinge auftrat, an der er Öcalan aufhängen wollte. Und nun soll der sonst als »Kindermörder« Titulierte vor dem Parlament sprechen?
Die erste Reaktion der PKK kam von ihrem Feldkommandanten Murat Karayılan. Dieser bezeichnete den Vorschlag, Öcalan vor dem Parlament sprechen zu lassen, als »unvernünftig« und äußerte die dunkle Drohung, wer die Kraft der PKK unterschätze, werde schon morgen sehen können, dass er sich geirrt habe.
Dass der »Lösungsprozess« wieder allein über Abdullah Öcalan, den Anführer der PKK, laufen soll, heißt auch, die kurdische Frage zu entpolitisieren, sie weiter als reines Terrorproblem zu behandeln.
Am nächsten Tag überfielen eine junge Frau und ein junger Mann den Sitz der Firma Tusaş in Ankara, die unter anderem Drohnen herstellt, die auch gegen die PKK eingesetzt werden. Bei dem Kampf und Explosionen im bewachten Eingangsbereich starben außer den Angreifern fünf Menschen, darunter der Taxifahrer, der die beiden zu der Firma gebracht hatte. 22 Menschen wurden verletzt. Es war der erste Anschlag der PKK in der Türkei nach jahrelangem Stillhalten.
Das türkische Militär reagierte sofort. Kurdischen Quellen zufolge gab es in der Nacht und am Tag danach über 40 Angriffe mit Flugzeugen, Drohnen und Artillerie auf kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien und in der kurdisch-yezidischen Region Şingal (arabisch: Sinjar) im Irak. Getroffen wurden Dörfer und Ölanlagen. Mindestens zwölf Menschen sollen gestorben und 27 verletzt worden sein.
Erdoğan war beim Brics-Gipfel in Kasan
Politisch hatte der Anschlag von Ankara praktisch keine Folgen, und zwar auf beiden Seiten. Die PKK verkündete, die Aktion sei schon länger geplant gewesen und habe keine Beziehung zu gegenwärtigen politischen Entwicklungen. Das »kurdische Volk« werde »mit allen seinen Strukturen und Komponenten den Prozess, den der Anführer Apo entwickeln wird, zur Grundlage nehmen«.
Apo (Onkel), wie Öcalan von der PKK genannt wird, hatte bereits am Tag des Anschlags von der Gefängnisinsel İmralı aus seine Bereitschaft erklärt, am Friedensprozess mitzuwirken. Die PKK hält Bahçelis Initiative also plötzlich nicht mehr für »unvernünftig«, sondern unterstützt sie, wobei ihre Erklärung allerdings alles Konkrete sorgsam umschifft.
Erdoğan nahm Anfang voriger Woche am Brics-Gipfel in Kasan teil. Zurückgekommen, erwähnte er Bahçelis Initiative nur nebenher, machte aber deutlich, dass er sie unterstütze, ebenso wie seine Partei, die AKP. Es besteht kein Zweifel daran, dass Bahçeli von Erdoğan nur vorgeschickt wurde. Bahçeli hat nicht die politische Kraft zu einer eigenen Initiative und schon gar nicht die Macht, Öcalan ins türkische Parlament einzuladen. Initiator kann nur Erdoğan gewesen sein, der es aber vorzieht, nicht als solcher in Erscheinung zu treten.
Der türkische Staat greift ständig an
Während viele oppositionelle Beobachter:innen eine gewisse Skepsis erkennen lassen, schwärmen andere bereits vom Frieden. Man kann sich aber fragen: Friede nach welchem Krieg? Hätte es nicht diesen einen Anschlag in Ankara gegeben, man hätte sagen können, dass in der Türkei ja schon seit Jahren Frieden mit der PKK herrsche.
Es ist der türkische Staat, der kurdisch dominierte Gebiete in Syrien und im Irak ständig angreift. Würde die Türkei ihre Angriffe einstellen, herrschte Frieden. Die Existenz des kurdisch verwalteten Rojava in Syrien wäre die Garantie, denn auf Angriffe der PKK in der Türkei könnte diese mit einer Offensive auch mit Bodentruppen gegen Rojava antworten; das wäre das Ende des kurdischen Experimentes in Syrien.
Wie schon bei dem gescheiterten Friedensprozess von 2012 bis 2015 soll wieder alles über Öcalan laufen. Dabei gibt es genug gewählte kurdische Politiker:innen in der Türkei. Warum nicht mit denen über eine politische Lösung der kurdischen Frage sprechen? Man könnte ja auch damit beginnen, ein paar inhaftierte kurdische Politiker:innen freizulassen.
Selahattin Demirtaş freilassen
Da wäre zum Beispiel Selahattin Demirtaş. Er holte 2014 bei der Präsidentschaftswahl 9,8 Prozent der Stimmen, was für einen kurdischen Politiker damals sensationell war. 2016 wurde Demirtaş wegen »Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation« inhaftiert und sitzt noch immer im Gefängnis, obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon zweimal seine sofortige Freilassung angeordnet hat – was die Türkei mit juristischen Tricks umgangen hat.
Öcalan ist für Erdoğan ein bequemer »Verhandlungspartner«. Die Anführungszeichen schon deshalb, weil es bisher gar keine Verhandlungen gibt und die Öffentlichkeit völlig im Unklaren darüber gelassen wird, wie es weitergehen soll. Man kann auch Zweifel daran haben, dass der Vorschlag ernst gemeint ist, Öcalan vor dem Parlament reden zu lassen. Der sitzt weiter auf İmralı und kann sich nur öffentlich äußern, wenn man ihn lässt. Man könnte ihn jederzeit auch wieder ganz zum Schweigen bringen, was umso leichter wäre, als ihn in der Türkei außer seinen kurdischen Anhänger:innen kaum jemand vermissen würde.
Juristisch hat Öcalan keine Hoffnung, je freigelassen zu werden, es sei denn, jemand gewährte ihm eine Begnadigung. Das kann nach Lage der Dinge derzeit nur Erdoğan sein. Vor diesem Hintergrund war wohl auch ein offener Brief Öcalans zu verstehen, in dem er Kurd:innen dazu aufrief, bei der Bürgermeisterwahl 2019 in Istanbul nicht den Oppositionskandidaten Ekrem İmamoğlu zu unterstützen. İmamoğlu wurde trotzdem gewählt und Erdoğan verlor die größte Stadt der Türkei, die auch eine Art Schatzkammer für seine Partei war. Man kann also Zweifel daran haben, dass Öcalan ein unabhängiger »Verhandlungspartner« für Erdoğan wäre.
Repressionswelle hält bis heute an
Dass der »Lösungsprozess« oder die »Öffnung«, wie es nun heißt, wie beim vorigen gescheiterten Versuch wieder allein über den Anführer der PKK laufen soll, heißt auch, die kurdische Frage zu entpolitisieren, sie weiter als reines Terrorproblem zu behandeln und nicht als notwendigen politische Verhandlung mit den Vertreter:innen einer großen Zahl türkischer Bürger:innen. Dass in der Öffentlichkeit nicht einmal von der Möglichkeit gesprochen wird, auch solche kurdischen Politiker:innen, die nie anders als mit Worten gekämpft haben, aus dem Gefängnis zu entlassen, spricht Bände über die Ernsthaftigkeit dieses Prozesses.
Es erinnert an 2015. Die PKK hatte sich damals bereit erklärt, die Waffen endgültig niederzulegen. Am 28. Februar unterschrieb der stellvertretende Ministerpräsident zusammen mit einer Delegation, die vorher Öcalan auf İmralı hatte besuchen dürfen, im Istanbuler Dolmabahçe-Palast ein Programm zur Lösung der kurdischen Frage. Doch am 15. März sagte Erdoğan plötzlich, eine kurdische Frage gebe es gar nicht. Nachdem die AKP bei den Wahlen im Juni Verluste erlitten hatte, begann eine Repressionswelle gegen kurdische Politiker:innen auf allen Ebenen. Allein zwischen dem 24. Juni 2015 und dem 1. Februar 2017 zählte die prokurdische HDP mehr als 15.000 Festnahmen und 3.647 Inhaftierungen. Das ist nur ein Teil der Repressionswelle, die in der Türkei bis heute anhält.
Das Friedensangebot muss als politisches Manöver betrachtet werden, bei dem es gar nicht um die PKK oder die kurdische Frage geht.
Berkant Gültekin schreibt in der linken Zeitung Birgün, man solle sich nichts vormachen lassen: das einzige Ziel des Regimes sei es, »mit allen reaktionären und repressiven Elementen so lange wie möglich auf den Beinen zu bleiben«. Dafür würde der Machtapparat versuchen. Das Friedensangebot muss wohl als politisches Manöver betrachtet werden, bei dem es gar nicht um die PKK oder die kurdische Frage geht.
Die Inflation, die selbst nach offiziellen Angaben im September noch immer 49 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat betrug, nagt allmählich an Erdoğans Popularität. Der völlig unklare Lösungsprozess gibt ihm zunächst politischen Spielraum, ohne ihn zu irgendetwas zu verpflichten. Zumindest kann er einen wichtigen Teil der Opposition neutralisieren. Und die kurdische Bewegung tappt wieder brav in die Falle des eigenen Personenkults um ihren Apo.