Unwillkürliche Erinnerung
In seinem Dokumentarfilm »Imbiß Spezial« von 1990 zeigt Thomas Heise die Gäste und Angestellten eines Berliner Schnellbuffets im Bahnhof Lichterfelde, nur wenige Wochen vor den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR am 7. Oktober 1989. Würstchenkonserven werden geöffnet und in große Kochtöpfe entleert, es herrscht weder Hektik noch konzentrierte Ruhe, sondern ein fragiles, angespanntes Warten. Meist hält sich die Kamera unbewegt im Hintergrund, auch wenn sie immer wieder skeptisch beäugt wird; manchmal zeigt sie auf die Kasse, als stünde sie in der Schlange. Zwischen Stimmengewirr klappert Geschirr, zwei Paar Würstchen kosten eine Mark neunzig, es gibt Pizza.
Auf der Tonspur zeugen Radio- und Fernsehfragmente von den letzten Impulsen der Selbstberuhigung der DDR kurz vor ihrem Ende. Die meisten Freunde von Spange, einem der Angestellten, sind bereits in den Westen geflohen. Er möchte trotzdem bleiben, erzählt er aus dem Off: »Erstens isses dermaßen spannend, was hier passiert in den nächsten Jahren, und zweitens bin ick hier in der DDR Spange, drüben im Westen wär ick n’ Osttürke, keen Bock drauf … «
Von denen, die nur wenige Monate später, im Frühling 1990, als sie es konnten und nicht nur wollten, die Reisefreiheit in Anspruch nahmen, berichtet wiederum »Himmel wie Seide. Voller Orangen« von Betina Kuntzsch. Die ausschließlich aus privaten Fotografien, Postkarten und Prospekten gestaltete und intensiv kolorierte Collage, die den Unterschied zwischen Dokumentar- und Animationsfilm souverän unterläuft, erzählt von den ersten Reisen von Ostdeutschen nach Mallorca.
Das Festival ist international, man trifft sich wieder, es wird Englisch gesprochen. »Are you coming to Berlin soon?« Spannend findet man hier auch, was gerade passiert. »The world is crazy right now … «
Im TUI-Reisebüro kostete der Urlaub für eine Woche 1.350 Mark Ost und 220 Mark West. Beim ersten »Interflug« aus Berlin waren 95 DDR-Bürger an Bord, dazu elf Journalisten aus dem Osten und 39 aus dem Westen. Auf Mallorca angekommen, so erinnert sich die Erzählerin, war das Frühstücksbuffet im Hotel Pionero so groß, dass sich die neuen Touristen aus dem Osten kaum herantrauten. Und die Orangen konnte man überall einfach pflücken, »wie im Paradies«.
Beim Empfang des Senders Arte am zweiten Tag des Internationalen Leipziger Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm, kurz Dok, das dem in diesem Jahr verstorbenen Thomas Heise eine Retrospektive widmete und bei dem Kuntzschs Film Weltpremiere feierte, gab es keine Orangen, dafür aber auch kein Zögern beim Zugreifen am Buffet.
Die Quiche und der Kichererbsensalat fallen von den zu kleinen Gabeln, nah über die Teller gebeugt gruppiert sich »die Branche« an den Stehtischen und macht auf der kleine Bühne Fotos vor dem Aufsteller des Dok, als stünde man auf dem roten Teppich. Das Awareness-Team hat Zeit, etwas zu essen. Das Festival ist international, man trifft sich wieder, es wird Englisch gesprochen. »Are you coming to Berlin soon?« Spannend findet man hier auch, was gerade passiert, aber nicht so wie Spange 1989. »The world is crazy right now … «
Erleichterung über Phrasen
Insgesamt 209 Dokumentar- und Animationsfilme sowie Virtual-Reality-Arbeiten zeigte das Festival in diesem Jahr. Die Welt, mit der in diesen Filmen ästhetisch umgegangen wird, ist nicht immer »crazy«, sondern manchmal auch von zarter und zuweilen trauriger Alltäglichkeit, wie in Jan Saskas leichtfüßigem, noir-inspiriertem Animationsfilm »Hurikán«, der damit anhebt, dass einem Prager Stehimbiss das Bier ausgegangen ist. Oder in André Siegers’ behutsam-intimen Film »Die Stimme des Ingenieurs«, in dem ein Mann versucht, mit einem Sprachprogramm seine Stimme zu bewahren.
Zur verrückten Welt aber möchte sich auch das Dok verhalten und tut es eher widerwillig im Stile einer Pflichtübung in drei Absätzen. Im knappen Vorwort des Programmhefts findet man ein Sampling der öffentlichen Rede über das, was »crazy« ist: der Terrorangriff der Hamas, die »neue Eskalationsstufe«, die »maßlose israelische Militäroffensive«, der Krieg Russlands gegen die Ukraine und der Bürgerkrieg im Sudan, von dem richtig festgestellt wird, dass er kaum wahrgenommen wird.
»Selbstverständlich« – das Wort wird in einem Absatz vier Mal wiederholt – distanziere man sich von Rassismus und Antisemitismus, stelle sich gegen »Kriegstreiber« und schließe sich der Forderung nach einem Waffenstillstand an, man wolle »Frieden und Verständigung«, kein »Einfordern von Bekenntnissen« und keinen »gegenseitigen Boykott«.
Es spricht nicht für die Gegenwart, wenn man fast ein wenig erleichtert ist, wenigstens nur Phrasen zum politischen Programm des Festivals zu lesen. Vielleicht wirkt unter den Sprachschablonen tatsächlich der Impuls, die Filme am liebsten für sich stehen zu lassen, ohne sie vorab mit einer Mission auszustatten.
Keine Produktionen aus Israel
Vielleicht hätte man sich auch gern noch stärker gegen Israel ausgesprochen, fürchtete aber den Skandal. Vielleicht hat man aber auch nicht vergessen, wie es den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen unter der Leitung von Lars Henrik Gass in diesem Jahr erging, als Gass sich mit Bezug auf den 7. Oktober israelsolidarisch äußerte.
Produktionen aus Israel findet man im Programm des Dok jedenfalls nicht. Filme, die sich direkt mit der derzeitigen Situation in Nahost beschäftigen, so Festivaldirektor Christoph Terhechte, seien nicht aufgenommen worden, weil sie mit zu heißer Nadel gestrickt gewesen seien. Freilich ist der Konflikt trotzdem präsent, wenn auch über dezidiert »persönliche« Zugänge, wie in der kanadisch-französischen Dokumentation »I Shall Not Hate« der in Jerusalem geboren und aufgewachsenen Filmemacherin Tal Barda.
Wenn es in der Programmatik des Dok eine gewisse Skepsis gegen eine zu starke politische Vereinnahmung gibt, so könnte dies mit seiner Geschichte zu tun haben. Die erste Ausgabe des Leipziger Festivals fand 1955 statt, ideologische Zugriffe auf die Kunst sind ihm nicht fremd. Die eigene Aufführungsgeschichte wie die der DDR allgemein – auch in deren Auslassungen – thematisiert regelmäßig die Retrospektive. In diesem Jahr steht sie unter dem Titel »Dritte Wege in der zweigeteilten Welt – Utopien und Unterwanderungen«.
Utopien und Unterwanderungen
Filme, die von der Romantisierung Kubas zeugen (unter anderem von Agnès Varda und Victor Pahlen, der einen gealterten Errol Flynn auftreten lässt), stehen neben Arbeiten, die von dem Leipziger Festival zu DDR-Zeiten ignoriert wurden, wie John Smiths »Associations« (1975) und der Lehrfilm »Eine Sache, die sich versteht (15x)« von Harun Farocki und Hartmut Bitomsky aus dem Jahr 1971.
Neben der insbesondere durch Animationsfilme hervorgetretenen Künstlerin Isabel Herguera ehrt das Festival auch die 1957 in Algerien geborene und in Frankreich aufgewachsene Regisseurin Dominique Cabrera mit einer Hommage. Im internationalen Wettbewerb läuft ihr faszinierender Beitrag »La Jetée, the Fifth Shot«, der in Leipzig seine Weltpremiere feierte.
Der Film hebt mit einem Moment puren Zufalls an, dessen Anlass Chris Markers berühmter, bis auf eine Ausnahme nur aus Standbildern bestehender »Photoroman« »La Jetée« ist. Dieser Science-Fiction-Film, der die Vorlage für Terry Gilliams »12 Monkeys« bildete, entstand 1962, im selben Jahr, als am 8. Februar in Paris neun Menschen bei Demonstrationen gegen den Algerien-Krieg getötet wurden, bevor im März mit den Verträgen von Évian die Unabhängigkeit Algeriens ratifiziert wurde. In der fünften Einstellung von »La Jetée« ist eine Familie mit dem Rücken zur Kamera an einem Geländer mit Blick auf das Rollfeld des Flughafens Orly zu sehen, eine Frau, ein Mann und ein kleiner Junge.
Madeleines unter dem Mikroskop
Cabreras Cousin, der den Film in einer kleinen Pariser Cinémathèque gesehen hat, glaubt, sich und seine Eltern auf dem Bild wiederzuerkennen. Mit diesem Zufall beginnt für Cabrera eine detektivische Suche, die sich zart und beharrlich wie eine Spirale durch die Geschichte ihrer Familie und das Werk Chris Markers bewegt und dabei nicht zuletzt ein dichtes Zeitdokument Frankreichs Anfang der sechziger Jahre entstehen lässt.
Dass am Anfang eine unwillkürliche Erinnerung steht, die in die Kindheit führt, bringt Cabrera nicht zufällig mit Marcel Prousts berühmter Kindheitserinnerung an das Feingebäck Madeleine in Verbindung (immer wieder werden im Film Madeleines unter einem Mikroskop betrachtet). Schon »La Jetée« beginnt damit, dass ein Mann sich erinnert, am Flughafen Orly als Kind eine Frau gesehen zu haben. Nun glaubt Cabreras Cousin, sich als Kind in dem Film Chris Markers wiederzuerkennen. Schritt für Schritt folgt Cabrera den Spuren, spricht mit Familienmitgliedern und früheren Wegbegleitern Markers und legt eine historische Schicht nach der anderen frei.
Jedes Bild führt bei Cabrera zu einem anderen, jedes Bild ist imprägniert mit Geschichte, die es im Moment des Zufalls, der sich in der Wirklichkeit nicht erzwingen, aber ästhetisch inszenieren lässt, freisetzen kann, wie die Madeleines Marcel Prousts.
Cabrera entstammt einer Familie von »pieds-noirs«, wie die seit der französischen Eroberung Algeriens dort ansässigen Europäer, aber auch schon länger im Maghreb lebende Juden genannt wurden; 1962 mussten Cabrera und ihre Familie wie viele andere »pieds-noirs« Algerien verlassen. Zuvor hatten sie in Sig gelebt, wie sich herausstellte in unmittelbarer, vielleicht sogar intimer Nähe zu Davos Hanich, der in »La Jetée« den namenlosen Protagonisten spielt. Als er 1922 in Sig geboren wurde, hieß er David Bou Hanich. Den jüdischen Namen legte er wie viele andere bei seiner Ankunft in Frankreich ab.
Jedes Bild führt bei Cabrera zu einem anderen, jedes Bild ist imprägniert mit Geschichte, die es im Moment des Zufalls, der sich in der Wirklichkeit nicht erzwingen, aber ästhetisch inszenieren lässt, freisetzen kann, wie die Madeleines Marcel Prousts. Solche Eigenwilligkeit, die sich statt von Programmatik von den Bildern leiten lässt und erst von dort aus zu dem findet, was man politisch nennen kann, zählte zu den Glücksmomenten des Festivals.