On Fire für die Emanzipation
Als analysierender Essayist, vor allem aber als Autor von Romanen, die die gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer Brutalität schonungslos zur Schau stellen, gehört James Baldwin spätestens seit den sechziger Jahren zu den einflussreichsten schwarzen Schriftstellern der US-amerikanischen Gesellschaft.
Am 2. August 1924 in Harlem in New York City geboren, teilte der junge Baldwin mit unzähligen anderen afroamerikanischen Teenagern die Erfahrung von Armut, Entbehrung und Rassismus. Er habe, wie der Autor rückblickend in einem an seinen Neffen gerichteten »Brief« schreibt, »eigentlich im Ghetto zugrunde« gehen sollen; »daran zugrunde gehen, dass man Dir verwehrt, etwas anderes zu sein, als der weiße Mann Dir zugedacht hat, daran, dass man Dir Deinen eigenen Namen verwehrt«.
Als James Baldwin die Texte verfasste, waren die sogenannten Jim-Crow-Gesetze in den USA noch immer gültig, sie unterwarfen die schwarze Bevölkerung der rassistischen Segregation.
Die Zeilen erschienen in dem 1963 veröffentlichten Essayband »The Fire Next Time«, der in der Form zweier autobiographischer »Briefe« anlässlich des 100. Jahrestags der Sklavenbefreiung verfasst ist und auf Deutsch in einer 2019 erschienen Neuübersetzung unter dem Titel »Nach der Flut das Feuer« erhältlich ist.
Der erste und kürzere Aufsatz, »My Dungeon Shook« mit dem Untertitel »Letter to My Nephew on the One Hundredth Anniversary of the Emancipation«, war 1962 zuerst in dem Magazin The Progressive erschienen, der zweite längere Essay »Down at the Cross: Letter from a Region of My Mind« ebenfalls 1962 zuerst im New Yorker. Wegen der großen Resonanz wurden die Texte als Buch gedruckt. Es wurde ein Bestseller, Baldwin hatte der aufkommenden Bürgerrechtsbewegung eine Stimme verliehen.
Als er die Texte verfasste, waren die sogenannten Jim-Crow-Gesetze in den USA noch immer gültig, sie unterwarfen die schwarze Bevölkerung der rassistischen Segregation. Die ständige Angst, Opfer exzessiver Polizeigewalt oder, wie in den Südstaaten damals noch üblich, eines Lynchmobs zu werden, gehörte zur Lebensrealität der afroamerikanischen Minderheit.
Der Hass der Unterdrückten auf die Unterdrücker
Der Essay »My Dungeon Shook« (Mein Kerker bebte) reflektiert diese Erfahrung eines in den USA der sechziger Jahre aufgewachsenen Jugendlichen. Auch 100 Jahre nachdem US-Präsident Abraham Lincoln die Sklavenbefreiung proklamierte, seien Hass und Wut die verständliche Reaktionen auf eine Gesellschaft, die weiterhin von brutalem Rassismus und Segregation geprägt sei, argumentiert Baldwin an seinen 15jährigen Neffen gewandt.
Diese verständliche Wut, der Hass der Unterdrückten auf die Unterdrücker, dürfe aber – und dieses Argument steht auch im Zentrum des zweiten Essays – keinesfalls die Grundlage des politischen Aktivismus werden: »Du weißt es, und ich weiß es: Dieses Land feiert hundert Jahre Freiheit hundert Jahre zu früh. Wir können erst frei sein, wenn sie frei sind.« Mit »sie« meint Baldwin die Weißen, die sich von dem Erbe des Rassenhasses frei machen müssten. Befreiung, dies scheint Baldwin seinem Neffen mit auf den Weg geben zu wollen, lässt sich nicht mittels bloßer Gewalt und der Vernichtung der anderen erringen, nicht zuletzt weil damit die komplexe Logik von Unterdrückung missverstanden wird.
Der zweite Essay »Down at the Cross« (Vor dem Kreuz) reflektiert zunächst das zwiespältige Verhältnis des jugendlichen Baldwin zum Christentum. Auch wenn ihm die Religion zunächst Geborgenheit und Schutz bedeutet, erkennt Baldwin zusehends, dass auch sie von Rassismus geprägt ist. »Worin liegt der Sinn meiner Erlösung«, so fragt er, »wenn sie mir nicht gestattete, anderen mit Liebe zu begegnen, unabhängig davon, wie sie mir begegneten?«
Religion eines weißen Gottes
Das Christentum als Religion eines weißen Gottes verhindere eine Befreiung, die vielmehr nur durch Widerstand zu erlangen sei. Dass dieser Kampf aber nur dann emanzipatorisch sei, wenn er auf wechselseitiger Anerkennung des anderen beruhe, klingt schon im ersten Essay an und zieht sich als roter Faden auch durch den zweiten. Viele von Baldwins Mitstreitern und Mitstreiterinnen teilten diesen Gedanken jedoch nicht. Stattdessen forderten die radikalsten unter ihnen eine strikte Abkehr von der US-amerikanischen Gesellschaft. Hervor sticht vor allem die 1930 gegründete separatistische Gruppierung Nation of Islam.
Das Bekenntnis zum Islam wurde für viele Afroamerikaner und Afroamerikanerinnen zur Chiffre einer kulturellen Abgrenzung von der christlichen weißen Bevölkerung. Die von Wallace Fard Muhammad gegründete, von Elijah Muhammed aufgebaute Nation of Islam bot die Möglichkeit, sich affirmativ auf die schwarze Identität zu beziehen, die sich bis dahin vor allem durch die Erfahrung der Sklaverei und die afrikanische Herkunft konstituierte. Eine eigene Mythologie wurde geschaffen, die nicht davor zurückschreckte, in ihrem Kampf gegen Rassismus selbst rassistische und antisemitische Vorstellungen zu bemühen.
Baldwin fasst die Grundzüge des Mythos, in dem die Nation of Islam sich als auserwähltes Volk stilisierte, in kritischer Absicht zusammen: Die Zeit der »weißen Teufel« sei abgelaufen, es sei der Wille Gottes, dass die schwarze Bevölkerung die weiße in ihrer Herrschaft ablöse. Hierzu bedürfe es einer völligen Zerstörung des Weißen.
Identitätspolitische Perspektive auf Befreiung
Der Weiße wisse dies, all seine technischen und wissenschaftlichen Entwicklungen hätten das alleinige Ziel, die Wahrheit zu verheimlichen: »Die Wahrheit nämlich, dass zu Anbeginn der Zeit im gesamten Universum kein einziges weißes Gesicht zu finden war. Schwarze beherrschten die Welt, und der Schwarze war vollkommen.« Die Weißen, erschaffen vom Teufel, hätten per se keine Tugenden und könnten diese auch keinesfalls erlernen. Die in diesem Mythos versteckte Rassenideologie ermöglichte, wie Baldwin darlegt, irrwitzige Kooperationen zwischen extremen Rechten und Muslimen.
In der hier zum Vorschein kommenden identitätspolitischen Perspektive auf Befreiung, die die Anhänger der Nation of Islam mit Rekurs auf die Hautfarbe von persönlicher Verantwortung entbinde, liegt Baldwin zufolge das Grundproblem ihrer politischen Praxis. Diese bestehe keineswegs darin, die Vergangenheit anzuerkennen und aufzuarbeiten. Der Rückfall in mythologische Geschichtserzählungen verschleiere vielmehr die realen lebensweltlichen Verhältnisse der schwarzen Bevölkerung, die gerade auf die Hybridität von Kultur und Identität verwiesen.
Man müsse, schreibt Baldwin, erkennen, »dass der schwarze Amerikaner nun mal von dieser (der US-amerikanischen; Anm. d. Red.) Nation geprägt ist und zu keiner anderen gehört – nicht zu Afrika und ganz gewiss nicht zum Islam. Das Paradox – ein beängstigendes Paradox zudem – liegt darin, dass schwarze Amerikaner nirgendwo anders, auf keinem Kontinent, eine Zukunft haben werden, solange sie nicht bereit sind, ihre Vergangenheit anzunehmen. Die eigene Vergangenheit – die eigene Geschichte – anzunehmen bedeutet nicht, darin zu ertrinken; es bedeutet, sie zu nutzen. Eine erfundene Vergangenheit lässt sich nicht nutzen, sie bricht und bröckelt unter dem Druck des Lebens wie Lehm in der Dürre.«
Die Bedingung der Möglichkeit des Nichthassens sieht Baldwin darin, ein Konzepts von Befreiung zurückzuweisen, das ausschließlich auf Identität beruht.
Für Baldwin steht fest, dass nur durch radikale und weitreichende Veränderungen der politischen und gesellschaftlichen Strukturen eine Befreiung möglich wird. Genauso klar ist ihm jedoch, dass dies nur möglich ist, wenn die schwarze Bevölkerung erkennt – so schwer dies auch sein mag –, dass eine Befreiung nur mit der weißen Bevölkerung gelingen kann. »Es erfordert große geistige Widerstandskraft, den Hassenden nicht zu hassen, dessen Fuß man im Nacken hat, und ein sogar noch größeres Wunder an Milde und Einsicht, den Kindern beizubringen, dass sie nicht hassen sollen«, führt er aus.
Die Bedingung der Möglichkeit des Nichthassens sieht Baldwin darin, ein Konzepts von Befreiung zurückzuweisen, das ausschließlich auf Identität beruht. Erneuerung werde unmöglich, »wenn man von Konstanten ausgeht, die keine sind: (…) Dann klammert man sich an Chimären, von denen man nur betrogen werden kann, und die ganze Hoffnung auf Freiheit – ihre ganze Möglichkeit – verschwindet.«
In der Nation of Islam erkennt Baldwin, wie er nach seinem Treffen mit Elijah Muhammad resigniert feststellt, einen möglichen Feind, weil sie den Fehler begehe, Widerstand ausgehend von der Erhabenheit der eigenen Gruppe zu denken. Zu verteidigen sei dagegen ein universalistischer Ansatz, der Stolz und Zugehörigkeit zu einer Gruppe nicht auf einer Identitätskategorie gründet. Baldwin weiß, er fordert nahezu Unmögliches, doch »in unserer Zeit, wie in jeder Zeit, ist das Unmögliche das Mindeste, was man verlangen kann«.
Unabhängig-kritischer Blick auf die Verhältnisse
Die Beschäftigung mit Baldwins politischen Essays lohnt, weil es dem Autor gelingt, inmitten turbulenter gesellschaftlicher Umstände und scharfer politischer Polarisierungen einen unabhängig-kritischen Blick auf ebendiese Verhältnisse, aber auch auf die Strategien ihrer Überwindung zu wahren.
Weder stellt er sich – obgleich ihm dies oft vorgehalten wurde – eindeutig an die Seite der Liberalen, die die brutale Gewalt oftmals nicht kennen oder ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht zu erfassen vermögen. Noch begibt er sich – wie die Kritik an der Nation of Islam zeigt – an die Seite der identitätspolitisch-separatistischen Gruppierungen, die zwar im Gegensatz zu vielen Liberalen die Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlichen Wandels erkennen, diesen jedoch mit den falschen Mitteln zu erreichen versuchen.
Weit entfernt davon, in denunziatorische Polemik zu verfallen, bieten Baldwins Ausführungen zudem ein Lehrstück dafür, fundierte Kritikpunkte respektvoll zu formulieren.
James Baldwin: Nach der Flut das Feuer. Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. dtv, München 2019, 128 Seiten, 12 Euro