Neues Wahlsystem, alte Regierung
Als kürzlich Parlamentswahlen in Georgien stattfanden, war dem Land internationale Aufmerksamkeit sicher. Gründe dafür liegen ausreichend vor: Die programmatischen Unterschiede zwischen den teilnehmenden Parteien sind erheblich, das Ergebnis ist wegen des Verdachts auf Wahlfälschungen umstritten. Dabei geriet aus dem Blick, dass am selben Wochenende auch in einem anderen Nachfolgestaat der Sowjetunion eine neues Parlament gewählt wurde, nämlich in Usbekistan.
Auf den ersten Blick lief dort vieles ganz anders ab als im Südkaukasus. Nach einem ruhigen, unspektakulären Wahlkampf waren am 27. Oktober knapp 20 Millionen Wahlberechtigte im bevölkerungsreichsten Staat Zentralasiens aufgerufen, die untere Kammer ihres Parlaments für die kommenden fünf Jahre neu zu wählen. Sie konnten sich zwischen fünf Parteien entscheiden, die 875 Kandidaten für 150 Sitze nominiert hatten. Erstmals kam dabei ein gemischtes Wahlsystem zur Anwendung: Eine Hälfte der Sitze wurde per Mehrheitswahl über Direktmandate vergeben, die andere proportional über Parteilisten.
Auch am Wahltag blieb alles weitgehend ruhig. Von Protesten gegen den Ablauf oder die Ergebnisse der Wahlen ist jedenfalls nichts bekannt. Laut dem offiziellen Wahlergebnis ziehen alle Parteien ins neue Parlament ein und wie bei den vorigen Wahlen wurde auch dieses Mal die Liberal Demokratik Partiyasi (Liberaldemokratische Partei) stärkste Kraft. Sie konnte die Zahl ihrer Sitze sogar um elf auf 64 erhöhen, gefolgt von der Milliy Tiklanish Demokratik Partiyasi (Demokratische Partei der nationalen Wiedergeburt) mit 29, der Adolat Sotsial Demokratik Partiyasi (Sozialdemokratischen Partei Gerechtigkeit) mit 21 und der Xalq Demokratik Partiyasi (Demokratischen Volkspartei) mit 20 Mandaten. Das Schlusslicht bildete die Ekologik Partiyasi (Ökologische Partei), die 16 Sitze erringen konnte.
Keine Partei steht auch nur ansatzweise in Opposition zu Präsident Shavkat Mirziyoyev und seiner politischen Linie.
Allein mit Blick auf die Parteien offenbart sich, wie weit sich die beiden postsowjetischen Staaten Georgien und Usbekistan über die Jahre politisch auseinanderentwickelt haben. So hatten die Wähler:innen in Usbekistan die Wahl zwischen fünf Parteien, die vorgeben, für die Interessen verschiedener Gesellschaftsgruppen einzutreten, womit sie gezielt verschiedene Klientelen ansprechen. Die Liberaldemokratische Partei versteht sich als Vertretung von Unternehmern und Selbstständigen. Die nationalistische Milliy Tiklanish positioniert sich als Partei für die Bewahrung der nationalen Werte und Identität. Andere konzentrieren sich auf soziale Themen, die Gleichheit und Rechte von Arbeiter:innen und vulnerable Bevölkerungsgruppen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. Und es gibt sogar eine Partei, die für die Beschäftigung mit Umweltfragen steht.
Was nach Pluralismus klingt, hat allerdings einen entscheidenden Haken. Trotz thematischer Zuspitzung unterscheiden sich die Parteien letztlich nur geringfügig, und zwar im sozioökonomischen Bereich. In politischer Hinsicht gibt es keine Unterschiede, denn keine Partei steht auch nur ansatzweise in Opposition zu Präsident Shavkat Mirziyoyev (in älterer Schreibweise Schawkat Mirsijojew) und seiner politischen Linie. Bislang sind alle Versuche regimekritischer Parteien gescheitert, sich für die Teilnahme an Wahlen registrieren zu lassen. Parteiunabhängige Kandidaturen für die Direktmandate wiederum sind rechtlich unzulässig. Also haben die Wähler:innen schlichtweg gar keine wirkliche Auswahl.
Nur dem Regime loyale Parteien dürfen teilnehmen
Entsprechend ändert auch das gemischte Wahlsystem mit Direktmandaten und Parteilisten nichts an diesen Verhältnissen. Bislang wurden die Mandate per Mehrheitswahl der Kandidat:innen in 150 Wahlbezirken vergeben. Wurde eine absolute Mehrheit verfehlt, fand in den betreffenden Bezirken zwei Wochen später eine Stichwahl statt. Die Regierung pries die jetzige Neuerung als großen Fortschritt, der das Parteiensystem belebe und die demokratische Legitimität der Abgeordneten erhöhe. Solange jedoch nur dem Regime loyale Parteien an Wahlen teilnehmen dürfen, hat das wenig zu bedeuten. Auch die von 30 auf 40 Prozent erhöhte Frauenquote bei den Wahlkandidaturen ist nicht viel mehr als Kosmetik.
Im staatlichen Sektor Beschäftigte sahen sich Druck ausgesetzt, ihre Stimme abzugeben, das öffentliche Interesse an der Wahl hielt sich jedoch in Grenzen. Zu Recht, denn ihr kommt keine reale Bedeutung zu und sie dient lediglich den Interessen des Regimes. Ein echter politischer Wettbewerb war nicht möglich.
Hinzu kommt, dass Usbekistan eine Präsidialrepublik ist. Die Verfassung und die realen Verhältnisse verschaffen dem Präsidenten so viel Macht, dass man ihn als stärkste Säule des Gesamtsystems bezeichnen kann. Daran hat auch die Verfassungsreform vom Frühjahr 2023, mit der die Befugnisse der Legislative gestärkt werden sollten, nichts geändert. Die Volksvertretung – in Usbekistan sprechen manche auch von einem Marionettenparlament – hat dadurch zwar mehr Kontrollfunktionen bekommen, kann aber nach wie vor keine eigenen gesetzgeberischen Initiativen ergreifen. Vielmehr stimmt sie ohne echte Debatte über von Regierungsseite vorgelegte Gesetze ab.
Nun ließe sich einwenden, dass Usbekistan mit seinem politischen Reformkurs hin zu mehr Liberalisierung der Entwicklung in anderen Ländern lediglich hinterherhinkt. Die ehemalige Sowjetrepublik wurde nach ihrer 1991 erlangten Unabhängigkeit 25 Jahre lang von Islam Karimow regiert, der sich gegen jegliche Form der Modernisierung stellte und den Staat nach außen abschottete. Politischer Pluralismus galt ihm als gleichbedeutend mit Anarchie und ein mächtiger Geheimdienst hatte die Aufgabe, diese zu verhindern.
Vom Staat vorgegeber und kontrollierter Rahmen
Shavkat Mirziyoyev, sein Nachfolger im Präsidentenamt, übernahm 2016 einen in vielerlei Hinsicht reformbedürftigen und praktisch bankrotten Staat. Nach anfänglicher Skepsis begleiteten westliche Beobachter:innen seine Bemühungen um Modernisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft mit Hoffnung und hohen Erwartungen. Während im Bereich der Wirtschaft und vor allem der Außenpolitik seither diverse positive Veränderungen zu verzeichnen sind, beispielsweise benötigen usbekische Staatsangehörige keine staatliche Genehmigung mehr für eine Ausreise, stellt sich die Lage bezüglich Demokratie und Menschenrechten problematischer dar.
Zwar wurden in den ersten Jahren der Amtszeit des neuen Präsidenten politische Gefangene entlassen, der Druck auf die Medien ließ etwas nach und den Bürger:innen wurde vermittelt, dass ihre Meinung und ihr Engagement gefragt seien. Doch zeigte sich bald, dass all dies in einem engen, vom Staat vorgegeben und kontrollierten Rahmen stattzufinden hat. Diesen zu verlassen, kann ernste Konsequenzen haben. Inzwischen häufen sich wieder Fälle staatlicher Verfolgung von Journalist:innen, Blogger:innen und Menschenrechtler:innen. Auch die Medien sind weniger frei als vor einigen Jahren. Im Juli 2022 wurden Demonstrationen gegen eine geplante Verfassungsänderung in der Teilrepublik Karakalpakistan, die zu einem Verlust an Autonomie geführt hätten, gewaltsam niedergeschlagen, auch wenn die Verfassungsänderung schließlich fallengelassen wurde. Mindestens 21 Menschen kamen dabei ums Leben.
Bei der Parlamentswahl ließen sich ebenfalls Rückschritte beobachten. 2019 war der gesamte Ablauf auch von Umdenken und einer freieren Atmosphäre geprägt. Die Parteien führten einen sichtbaren und streitbaren Wahlkampf und nominierten sogar eigene Kandidat:innen für das Amt des Ministerpräsidenten, was bei den Wähler:innen auf großes Interesse stieß. Sollten sie damit die Hoffnung verbunden haben, dass es sich um erste Anzeichen einer weiteren Liberalisierung mit wachsender Parteivielfalt und mit Kompetenz geführten Debatten handelte, wurden sie bitter enttäuscht. Nach der damaligen Parlamentswahl blieb nicht nur alles beim Alten – im Gegenteil, wie sich nun gezeigt hat. Solange die Regierung Parteien und Parlament nur als Instrumente nutzt, um ihre Politik zu legitimieren, und nicht als Ort, an dem unterschiedliche politische Interessen der Bevölkerung ihren Platz haben, entbehren solche Wahlprozedere jeglichen demokratischen Sinns.
Wahlbeobachter:innen der OSZE haben im Übrigen auch in Usbekistan eine ganze Reihe von Unregelmäßigkeiten moniert, beispielsweise Mehrfachabstimmungen und Fehler bei der Auszählung. Anders als in Georgien, wo ein echter Wettbewerb zwischen Parteien mit inhaltlich diametral verschiedener Ausrichtung stattfand, haben diese Phänomene in Usbekistan aber genauso nachgeordnete Bedeutung wie die Änderungen des Wahlsystems. Dabei gibt es in der usbekischen Bevölkerung, insbesondere in der Hauptstadt Taschkent, durchaus den Wunsch nach weitaus mehr Veränderungen, als ihr starker Präsident zugestehen will.