14.11.2024
In Istanbul gibt es Protest gegen die Schließung eines freien Radiosenders

Funkstille in Istanbul

Der türkische Rundfunkrat RTÜK hat dem Freien Radiosender Açık Radyo die Lizenz entzogen. Gegen die Schließung protestierten Anfang November in Istanbul etwa 100 Unterstützer:innen.

»Açık Radyo açık kalmalı«, rufen die Teilnehmer:innen einer Solidaritätsdemonstration im Istanbuler Stadtteil Kadıköy: »Das offene Radio muss geöffnet bleiben.« Die Stille ohne Açık Radyo sei schwer zu ertragen, sagt Tolga, einer der Demonstrierenden. Açık Radyo ist der größte freie Radiosender der Türkei; im Sendegebiet, dem Großraum Istanbul, leben ungefähr 20 Millionen Menschen. Es verstehe sich als Sprachrohr der kritischen und wenig repräsentierten Stimmen in der türkischen Gesellschaft, sagte İlksen Mavituna, stellvertretender Chefredakteur des Radios, der Jungle World.

Dem Radio ist auf Anordnung des türkischen Rundfunkrats RTÜK, der für die Kontrolle und Regulierung der türkischen Radio- und Fernsehsender zuständig ist, die UKW-Lizenz entzogen worden. Seit dem 16. Oktober ist es nach knapp 30 Jahren nicht mehr auf Sendung. Dem Sendeverbot vorausgegangen war ein Verfahren wegen einer Sendung zum Gedenktag des Völkermords an den Armenier:innen, dem 24. April. Dieser Tag gilt als Beginn der systematischen Vertreibungen von Armenier:innen im Jahr 1915 durch das Osmanische Reich, in deren Verlauf 1,5 Millionen Armenier:innen ermordet wurden. Von staatlicher Seite wird der Genozid bis heute geleugnet.

In einer Radiodiskussion über das Gedenken in der Türkei verwendete ein Teilnehmer die Worte »Massaker« und »Genozid«. Weil die beiden Moderatoren nicht eingriffen, verhängte RTÜK eine Geldstrafe gegen Açık Radyo. Die Verwendung dieser Begriffe stifte zu gesellschaftlichem Hass an, lautet die Begründung.

Dass dem Sender die Sendelizenz entzogen werden konnte, führt İlksen Mavituna vom Açık Radyo auf einen Verfahrenstrick des türkischen Rundfunkrats RTÜK zurück.

Mavituna zeigte sich im Gespräch mit der Jungle World überrascht über das Vorgehen von RTÜK. In der Vergangenheit hätten Sendungsmachende diese Begriffe regelmäßig in Bezug auf den Völkermord an den Armenier:innen verwendet. Vermutlich sei die Diskussionssendung für die Behörde nur ein Vorwand für die Schließung gewesen, bei dem sie auf breite Zustimmung in der Öffentlichkeit zählen kann, sagt auch Kerem Yalçıner, Journalist und ehemaliger Mitarbeiter des Senders. Obwohl das Thema in den vergangenen Jahren immer offener diskutiert wird, lehnt ein Großteil der türkischen Gesellschaft die Verwendung des Begriffs »Genozid« weiter ab. Im türkischen Parlament unterstützt lediglich die prokurdische Halkların Demokratik Partisi (HDP) die Anerkennung des Völkermords.

Dass Açık Radyo die Sendelizenz entzogen werden konnte, führt Mavituna auf einen Verfahrenstrick des RTÜK zurück. Im Mai verhängte die Behörde eine Geldstrafe und ein fünftägiges Sendeverbot gegen den Sender. Doch die amtliche Benachrichtigung über den Zeitraum des Sendeverbots erreichte den Sender nicht. Die digitale Plattform, über die solche Bescheide in der Türkei zugestellt werden, funktioniere nicht zuverlässig, sagt Mavituna. So habe der Sender schlicht nicht gewusst, für wann das Sendeverbot verhängt wurde. Die Nichteinhaltung des temporären Sendeverbots nahm RTÜK zum Anlass, dem Radio die UKW-Lizenz vollständig zu entziehen.

Selbstzensur aus Angst vor Repression

RTÜK spielte immer wieder eine zentrale Rolle bei der Repression gegen freie Medien. Seit 2002 wird der Rundfunkrat von der regierenden islamistischen AKP des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan dominiert. Yalçıner ist nicht verwundert über die Schließung von Açık Radyo. Als Plattform für Kritik sei der Sender immer im Blick der Behörden gewesen, sagt er der Jungle World. Für Yalçıner ist das Radio das einzige Medium in der Türkei, in dem Menschen unterschiedlichster Hintergründe repräsentiert seien.

Allerdings gebe es aus Angst vor Repression in unabhängigen Medien schon lange eine Art Selbstzensur. Seit der Weltfinanz- und Wirtschaftskrise 2008 habe sich der Druck auf kritische Medien verstärkt. Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 ging die Regierung Erdoğan dann mit großer Härte gegen Medienschaffende vor. Mehr als 100 von ihnen wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt, viele weitere verloren ihre Anstellung. Eine unabhängige Kommentierung des politischen Geschehens finde nun hauptsächlich auf Plattformen wie Youtube oder Instagram statt.

Das Konzept von Açık Radyo ist vergleichbar mit dem freier Radios in Deutschland. Finanziert wird der Sender zum Großteil von seinen Zuhör­er:innen: Ungefähr 10.000 Menschen unterstützen den Sender regelmäßig, diese Zahl ist einzigartig in Europa.

Linksliberale Mittelschicht

Begonnen hatte Açık Radyo als lokaler Sender für Istanbul, seit Beginn des Sendebetriebs haben ungefähr 1.500 Ehrenamtliche das Programm mitgestaltet. Als Sprachrohr der Zivilgesellschaft hat der Sender mit seinem Webangebot landesweite Bedeutung erlangt. Die Hörer:innen gehörten meist der gut ausgebildeten linksliberalen Mittelschicht an, erzählt Yalçıner. Heutiger Chefredakteur ist der bekannte Umweltschützer Ömer Madra, einer der Gründer von Açık Radyo. Zu den Programmschwerpunkten des Senders gehören Klimawandel und Umwelt, Themen, über die in anderen türkischen Medien Tolga zufolge kaum berichtet wird. Nach dem Entzug der Sendelizenz habe das Radio viel Solidarität von seinen Zuhörer:innen bekommen, berichtet Mavituna.

Açık Radyo plant nun, eine neue Lizenz für sein Online-Angebot zu beantragen und sendet seit dem 11. November wieder testweise im Stream – bis der RTÜK über die neue Lizenz endgültig entscheidet. Mavituna sieht darin aber keine echte Alternative zur Ausstrahlung auf UKW. Die Bedeutung von Açık Radyo ergebe sich auch daraus, dass es als einziges freies Radio auf UKW zu empfangen sei; andere kritische Sender seien bereits ins Web abgedrängt worden. Medienrechtlich sei zu erwarten, dass Açık Radyo seine Lizenz zurückerhalte, so Mavituna. Möglich sei aber auch, dass der Prozess in die Länge gezogen wird. So lange fehle Berichterstattung über die alltägliche Gewalt, über Femizide oder auch über Gewalt gegen die vielen Straßenhunde in Istanbul. Dies seien Aspekte der alltäglichen Realität, die andere Medien auslassen würden.