21.11.2024
In Bulgarien soll eine Autobahn durch ein Naturreservat gebaut werden

Autobahn durchs Naturschutzgebiet

Seit 27 Jahren dauert der Kampf von Umweltschützern gegen ein von der EU finanziertes Autobahnprojekt in der bulgarischen Kresna-Schlucht bereits an. Der Ausgang ist ungewiss.

In Kresna, einer kleinen Stadt im Südwesten Bulgariens, betreibt Dimitar Wassilew ein ökotouristisches Zentrum. Sein Projekt gehört zu vielen weiteren dieser Art in der Region, die auf ihren Websites mit klarer Waldluft und naturbelassenen Tälern am Fuße eines Hochgebirges werben. Zu diesen zählt ein einzigartiges Biotop, die Kresna-Schlucht – elf Kilometer lang, Wanderroute für Bären, Wölfe und Schakale, Heimat von Steinadlern, Gänsegeiern und Wanderfalken. 3.500 Pflanzen- und Tierarten gibt es insgesamt, dar­unter auch solche, die nirgendwo anders auf dem europäischen Kontinent zu finden sind, etwa seltene Schildkröten und Fledermäuse. Pro Quadratkilometer kommen mehr Schmetterlingsarten vor als in ganz England. Das Kresna-Tal zählt zu den Gebieten von Natura 2000, einem staatenübergreifenden Netz von Naturreservaten innerhalb der Europäischen Union, die auch zur Finanzierung beiträgt.

Die Kresna-Schlucht ist aber auch Schauplatz eines mittlerweile 27 Jahre andauernden Abwehrkampfs von Umweltschützern, Biologen und Naturliebhabern. »Wir werden eines der wertvollsten Schutzgebiete für Wildtiere verlieren«, warnte Wassilew im Guardian im Jahr 2016. Schon bald sollen sich Bagger durch das Areal graben und die Fertigstellung der letzten Teilstrecke des Struma-Highways vorbereiten – einer bulgarischen Autobahn, die als Teil des paneuropäischen Verkehrskorridors IV Dresden beziehungsweise Nürnberg mit Thessaloniki beziehungsweise Istanbul verbindet.

Schon bald sollen sich Bagger durch die Kresna-Schlucht graben und die Fertigstellung der letzten Teilstrecke des Struma-Highways vorbereiten.

Die Bauarbeiten für das europäische Milliardenprojekt laufen schon seit 2011. Insgesamt soll die Europäische Kommission mehrere Hundert Millionen Euro für das Bauvorhaben zur Verfügung gestellt haben. In einem Schreiben der Europäischen Kommission von März 2024 heißt es, die Fertigstellung der Autobahn habe hohe Priorität. Denn die Straße verbinde nicht nur den Norden und Süden des europäischen Kontinents, sie habe außerdem seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine auch eine strategische Bedeutung, nämlich als Teil des sogenannten Solidaritätskorridors, um es dem angegriffenen Land weiterhin zu ermöglichen, Getreide und andere Güter in die Europäische Union zu exportieren – trotz teilweise blockierter Häfen und unterbrochener Lieferketten.

Andrej Kowatschew ist Biologe und setzt sich schon seit 1997 für den Schutz der Schlucht ein, also seitdem Pläne für eine neue Autobahn in der Region erstmals an die Öffentlichkeit gelangt waren. Er ist aktiv im Verein Balkani Wildlife Society. »1986 war ich als Student das erste Mal in der Kresna-Schlucht. Damals war es sogar schwierig, dorthin zu trampen, weil es so ein unberührter Flecken Erde war. Es war ein Paradies. Und ich bin immer noch verliebt«, sagt er der Jungle World. »Wir haben viele Jahre dafür gekämpft, dass die Autobahn außerhalb der Schlucht gebaut wird.« Immer wieder hätten Naturschützer auch auf ähnliche Fälle in Europa verwiesen, in denen Straßen schließlich um Naturschutzgebiete herumgebaut wurden. Und da die Schlucht zum Natura-2000-Netzwerk gehört, ist die bulgarische Regierung auch dazu angehalten, das Gebiet besonders zu schützen.

Verstoß gegen europäische Vorschriften

Umweltschützer betrachten Streckenführungen, die die Schlucht berühren, als Verstoß gegen europäische Vorschriften. 2008 hieß es auf Empfehlung der Europäischen Kommission schließlich seitens der bulgarischen Regierung, man wolle die Kresna-Schlucht umgehen. Der lange Kampf der Naturschützer schien sich auszuzahlen. Doch 2017 entschied sich die bulgarische Regierung um. Nun soll die die Autobahn durch die Schlucht führen – wenn auch nur teilweise. Die zweispurige E­79 soll nun zu zwei Autobahnspuren Richtung Süden umgewandelt werden, eine weitere Trasse Richtung Norden soll weiter östlich entstehen. Die Schlucht wird somit zerschnitten, um eine direkte Strecke von Sofia nach Kulata zu schaffen. »Das ist die Entscheidung, mit der wir nun immer noch zu kämpfen haben«, sagt Kowatschew.

Unterdessen stehen Umweltschützer wie Kowatschew im Fokus öffentlicher Diffamierungskampagnen. Sein Gesicht ist neben denen weiterer Aktivisten auf großflächigen Plakaten auf dem Weg nach Kresna zu sehen, mit der Inschrift: »Dankt ihnen für den Stau«. »Wir sind 15 Aktivisten gegen die Bauindustrie. Also müssen wir wohl verrückt sein«, sagt er lachend. Müde mache ihn der andauernde Kampf aber nicht. Zahlreiche internationale Gutachten bestätigen der bulgarischen Baubranche eine hohe Korruptionsanfälligkeit, der Balkan-Staat rangiert durchweg unter den korruptesten Ländern Europas. Vor einigen Jahren wurde Naturschützer Kowatschew von der Kammer der Straßenbauer einbestellt. »Wenn ihr so weitermacht mit dem Thema Autobahn, dann habt ihr keine Zukunft hier«, hätten sie ihm und seinen Mitstreitern dort gedroht. »Es ist immer das Gleiche«, sagt er. »Seit den neunziger Jahren bekomme ich die gleichen Drohungen.«

Immer wieder wurden indes Bauarbeiten in der Schlucht beobachtet. Ein bulgarischer Sender enthüllte vor wenigen Jahren, dass eine Baufirma mitten im Naturschutzgebiet bereits Probebohrungen durchgeführt hatte – ohne Genehmigung. Auch deshalb wurde im Zusammenhang mit dem Projekt immer wieder von Korruptionsvorwürfen berichtet. Im Frühjahr etwa gab die EU-Staatsanwaltschaft an, ein weiteres großes Straßenbauprojekt zu untersuchen. Die Vermutung: Missbrauch von EU-Geldern und Geldwäsche.

Autobahnen um geschützte Gebiete herumbauen

Enttäuscht zeigen Umweltschützer wie Kowatschew sich aber insbesondere von der Europäischen Union, die sich einerseits auf die Fahne geschrieben hat, durch Natura-2000-Projekte die biologische Vielfalt auf dem europäischen Kontinent zu sichern, und die andererseits durch ihre Finanzierung Milliardenprojekte wie die Struma-Autobahn ermöglicht. Schon 2021 wies der Europarat in einem Brief daraufhin, dass die Schlucht als Teil des Natura-2000-Netzwerks unter europäische Umweltrichtlinien fällt. Dennoch sei politischer Druck, um realistische andere Streckenführungen durchzusetzen, bislang ausgeblieben.

Kowa­tschew sagt: »Die Europäische Union sollte in Fällen wie diesen eine Hüterin des Gesetzes sein.« Erst diesen Sommer verkündete das bulgarische Umweltministerium, eine neue Umweltverträglichkeitsprüfung für den Bau der Autobahn sei nicht notwendig. Verschiedene Organisationen prangern das an, ein Gerichtsurteil diesbezüglich steht derzeit noch aus.

»Schon jetzt ist die Schlucht nicht mehr das Paradies, das ich dort einst vorfand«, sagt Kowatschew. »Aber das könnte man noch alles restaurieren.« Im Nachbarland Griechenland sei es außerdem mittlerweile gängige Praxis, Autobahnen um geschützte Gebiete herumzubauen. »Es geht also«, sagt Kowatschew: »Aber wir müssen hier 27 Jahre lang um eine Schlucht kämpfen?«