28.11.2024
Galder Gaztelu-Urrutis Reichensatire »Rich Flu« hat einen ziemlich schrägen Plot

Das Virus kennt den Kontostand

Der spanische Regisseur Galder Gaztelu-Urrutia setzt ein verheerendes Virus auf die Superreichen an. »Rich Flu« ist eine ­filmische Parabel über die Auswüchse des Kapitalismus, deren tolldreiste Handlung sich aber zusehends erschöpft.

Laura (Mary Elizabeth Winstead), leitende Angestellte in der Content-­Abteilung eines Medienkonzerns, sitzt in einer Hotellobby in Cannes und hört sich die neuesten Story-­Ideen ihrer Drehbuchschreiber an. Sie nickt, lächelt und verspricht den Autoren, dass man im Gespräch bleiben werde. Dann widmet sie sich dem nächsten Anwärter.

Am Ende des Kreativitätsmarathons taucht ihr Ex-Mann Toni (Rafe Spall) auf. Die Geschichte, die Toni vorträgt, kennt Laura bereits, es ist seine Geschichte: Ein talentierter Drehbuchschreiber mit einst glänzenden Aussichten leidet seit Jahren an einer Schreibblockade, er beginnt zu trinken, seine Beziehung geht in die Brüche und er bekommt gar nichts mehr auf die Reihe. Toni möchte Laura überreden, wieder zu ihm und ihrer gemein­samen Tochter Anna (Dixie Egerickx) nach Barcelona zu kommen. Aber Laura hat andere Ambitionen und hofft auf den nächsten Karriere­sprung im Konzern.

In einer unter Tonnen von Schnee begrabenen Goldgräberstadt wird Laura in High Heels und Kostüm ihr zukünftiger Aufgabenbereich zugeteilt: Sie soll die Charity-Abteilung des Konzerns aufbauen. Mit Geflüchtetenunterkünften und Wohltätigkeitsveranstaltungen sei heute Profit zu machen, heißt es.

Schon am Abend auf dem roten Teppich der Filmfestspiele stellt sich heraus, dass eine Kollegin die begehrte Stelle bekommt. Mit Laura hat der Firmentycoon Sebastian Snail Sr. (Timothy Spall) ganz andere Pläne: Es geht nach Alaska! Ein Trostpreis oder die ganz große Chance? Bevor Snail und Laura im Privatjet abheben, stellt diese ihrer Rivalin noch eine Falle und vernichtet damit im Handumdrehen deren Karriereaussichten.

In einer unter Tonnen von Schnee begrabenen Goldgräberstadt wird Laura in High Heels und Kostüm ihr zukünftiger Aufgabenbereich zugeteilt: Sie soll die Charity-Abteilung des Konzerns aufbauen. Mit Geflüchtetenunterkünften und Wohltätigkeitsveranstaltungen sei heute Profit zu machen, heißt es, schließlich seien dies Grundbedürfnisse des Menschen.

Für Laura springt dabei eine Wohnung in London, ein gigantisches Aktienpaket sowie eine Ausgabe von Henri Davis Thoreaus Natur­roman »Walden« heraus. »Ein Mann ist reich im Verhältnis zur Zahl der Dinge, auf die er verzichten kann«, schreibt Thoreau. Snail hat den Satz zu seinem neuen Lebensmotto auserkoren. Laura entsorgt das Buch bei der ersten sich bietenden Gelegenheit.

Erst die Milliardäre, später die Millionäre, dann die Vermögenden

Dass Verzicht überlebenswichtig werden kann, stellt sich allerdings bereits wenig später heraus. Ein unbekanntes Virus breitet sich aus und kostet die reichsten Menschen der Welt das Leben. Zuerst trifft es die Milliardäre, später die Millionäre, dann sind die Vermögenden dran. Die Reichtümer, die ihr der Firmenchef zugeschanzt hat, sind plötzlich ein tödliches Risiko. Ausschreitungen und Terrorakte sind an der ­Tagesordnung.

Woher die Viren so genau den Kontostand ihrer Opfer kennen, bleibt leider eines der Geheimnisse des spanischen Regisseurs Galder Gaztelu-Urrutia, dessen filmische Parabel »Rich Flu« die Auswüchse des Kapitalismus mit seinen Superreichen auf der einen und Heerscharen von Ausgegrenzten, Mittellosen und neuen Sklaven auf der anderen Seite geißelt.

Die Ansteckung zeigt sich zuerst an unnatürlich weiß strahlenden Zähnen, wie sie kein Bleaching je erreichen könnte. Binnen Stunden führt die Infektion mit dem Virus zum Tod. Innerhalb weniger Tage rafft es die Angehörigen des Establishments hinweg; es sterben der Papst und die Mitglieder des britischen Königshauses. Das eigene Vermögen zu verschenken, wird als letzte Rettung angesehen, aber kaum einer will das Geld haben. Banken, Börsen und Unternehmen kollabieren, Wut und Angst treiben die Menschen auf die Straßen.

Als gefährliche Reiche erkannt und verstoßen

Für Laura ergeben sich schnell weitere Möglichkeiten, die unangenehm systemgeformten Seiten ihres Charakters voll auszuspielen: So beschließt sie, ausgerechnet ihren treu ergebenen Assistenten zu opfern. Während er ihr hilft, durch die von Kämpfen verwüsteten Straßen Londons einen Fluchtweg zu bahnen, versucht sie, ihm mit fadenscheiniger Begründung ihr neues Vermögen zu übertragen. Doch der Versuch misslingt.

Auf sich allein gestellt, schlägt Laura sich nach Barcelona durch, wo Toni sie in Empfang nimmt. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg in die Landkommune, in der Lauras Mutter (Lorraine Bracco) und Tochter Anna untergekommen sind. Dort werden sie allerdings als gefährliche Reiche erkannt und verstoßen. Laura und ihr Anhang fliehen daraufhin übers Mittelmeer Richtung Afrika, weil die Mutter in Tansania einen sicheren Rückzugsort ver­mutet.

Trotz unmotivierter Explosionen und Ungereimtheiten wird die Geschichte bis zu diesem Punkt auf packende Weise erzählt. Nicht zuletzt sorgen die Darsteller:innen – allen voran Mary Elizabeth Winstead, aber auch Timothy Spall in seinem Kurzauftritt – dafür, dass man den wahnwitzigen Plot interessiert verfolgt, um zu erfahren, in welche Richtung sich der gesamte Schlamassel wohl entwickeln wird.

Das eigene Vermögen zu verschenken, wird als letzte Rettung angesehen, aber kaum einer will das Geld haben.

Aber die weitere Handlung des dystopischen Thrillers, der die Verhältnisse umkehrt und die Reichen in die Länder der Armen fliehen lässt, will sich nicht so recht entfalten. Auf der Reise übers Mittelmeer erlahmt das Tempo. Die langatmig geschilderten Aufenthalte im Lager der libyschen Küstenwache entbehren ebenso wie der größte Teil des Aufenthalts in Afrika jeder erzählerischen Originalität. Erst mit den allerletzten Bildern besinnt sich der Film wieder darauf, dass er wohl etwas zu Lage und Natur des Menschen sagen wollte, und riskiert noch einen etwas zahm geratenen dissonanten Schlussakkord.

Allzu häufig wirkt »Rich Flu« wie eine der unausgereiften Story-Ideen, die sich Laura in der Eröffnungsszene hat anhören müssen. Eine handelte von einer Welt, in der nach dem Sieg des medizinischen Fortschritts über alle Krankheiten die Überbevölkerung zum größten Pro­blem der Menschheit avanciert sein soll. Seine Lösung findet es in einem Algorithmus, der entscheidet, wer genügend zum Allgemeinwohl beiträgt, um weiterleben zu dürfen, und wer nicht. Gut vorstellbar, dass es sich hierbei um eine verworfene Drehbuchidee des Teams um Gaztelu-Urrutia handelt, die auf diese Weise doch noch berücksichtigt wird.

Gaztelu-Urrutia hatte 2019 den Netflix-Überraschungserfolg »Der Schacht« ersonnen und damit in­ternational viel Anklang gefunden. Auch bei diesem im Vergleich zu »Rich Flu« deutlich reduzierten Thriller mit eingestreuten Horrorelementen handelt es sich um eine Allegorie auf die mörderische Konkurrenz im Kapitalismus im Geiste von Bong Joon-hos »Snowpiercer« (2013) und »Parasite« (2019) oder Ben Wheatleys »High-Rise« (2015). Ließ die Serie »Der Schacht« noch etwas Hoffnung darauf, dass das solidarische Handeln der Ausgegrenzten zu einer Überwindung der schlechten Verhältnisse führen könnte, gibt »Rich Flu« bereits alles verloren. Der Film überzeugt allein durch die pointiert-zynische Schilderung von Intrigen und moralischer Verwahr­losung.

Rich Flu (Spanien 2024). Regie: Galder ­Gaztelu-Urrutia. Buch: Galder Gaztelu-­Urrutia, Pedro Rivero, David Desola, Sam Steiner. Darsteller: Mary Elizabeth Winstead, Rafe Spall, Lorraine Bracco. Filmstart: 12. Dezember