12.12.2024
In Litauen tritt ein umstrittenes Regierungsbündnis an

Mit Antisemiten koalieren

Unter der Führung der Sozialdemokraten hat sich in Litauen eine umstrittene Koalitionsregierung gebildet, die nun ihre Amtsgeschäfte aufnimmt. Gegen die Beteiligung der rechtspopulistischen Partei des antisemitischen Demagogen Remigijus Žemaitaitis gibt es Protest.

Bei den Wahlen zum Seimas, dem litauischen Parlament, gab es zunächst keine großen Überraschungen. Die erste Runde fand am 13., die Stichwahl am 27. Oktober statt.

Wie bei fast jeder Parlamentswahl seit der Unabhängigkeit des Landes von der Sowjetunion im Jahr 1990 wurde die regierende Partei – diesmal die Christdemokraten (TS-LKD) – durch die größte Oppositionspartei – diesmal die Sozialdemokraten (LSDP) – abgelöst. Letztere wurden mit 52 von 141 Sitzen zur stärksten Kraft im neuen Seimas, während die Fraktion der Christde­mokraten vom 50 auf 28 Abgeordnete schrumpft.

Außenpolitisch bleibt die künftige Regierung größtenteils auf dem bisherigen EU- und ukraine­freundlichen Kurs.

So weit, so üblich. Bis heute ist das Parteiensystem Litauens stark durch die Lagerbildung geprägt, wie sie sich im Zuge der nachsowjetischen Systemtransformation herausbildete. Die 2001 aus der Fusion sozialdemokratischer und postkommunistischer Kräfte entstandene LSDP zählt mit Landbewohnern und Älteren eher die »Verlierer« dieser Transformation zu ihrer Wählerschaft. Die Christdemokraten, die 2008 mit der aus dem rechten Flügel der antisowjetischen Unabhängigkeitsbewegung Sąjūdis hervorgegangenen Vaterlandsunion fusionierten, vertreten eher die liberal-konservative Mittelschicht. Machtverschiebungen gab es in den vergangenen Jahren in der ­Regel zwischen diesen beiden Lagern.

Die wirkliche Überraschung folgte in Vilnius erst in den Tagen nach der zweiten Wahlrunde. Zunächst kündigte die Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei, die 64jährige Vilija Blin­ke­vičiūtė an, dass sie – entgegen vorhe­riger Ankündigungen – wegen ihres Alters und Gesundheitszustands lieber im EU-Parlament bleiben wolle, als das Amt der Ministerpräsidentin zu übernehmen. Die sich großer Popularität erfreuende Politikerin überließ die Regierungsbildung ihrem deutlich weniger beliebten Stellvertreter, Gintautas Paluckas. Dies blieb nicht die einzige unpopuläre Entscheidung der LSDP: Obwohl Vertreter der Partei vor den Wahlen eine Zusammenarbeit mit der rechtspopulistischen Nemuno aušra (Morgenröte des Nemunas, NA) ausgeschlossen hatten, traten sie mit dieser in Koalitionsverhandlungen.

Anti-­Establishment-Kampagne auf Tiktok

Gegründet hat diese erst im vergangenen Jahr ihr jetziger Vorsitzender, Remigijus Žemaitaitis. Der war zuvor, im Sommer 2023, mehrfach durch anti­semitische Social-Media-Posts aufgefallen, in denen er meisterhaft »Israel­kritik«, traditionellen Antisemitismus und Shoah-Relativierung verwoben hatte. Er warf Israel vor, mit seinem Vorgehen im Gaza-Streifen selbst die Grundlage für Antisemitismus zu schaffen, und zitierte anschließend einen alten antisemitischen Kinderreim. In einem anderen Posting rekurrierte er auf das Stereotyp der »Judäokommune« und warf Juden vor, während des Zweiten Weltkriegs einen »Holocaust« an Litauern verübt zu haben.

Žemaitaitis musste daraufhin die Mitgliedschaft in der rechtskonservativen Kleinpartei Laisvė ir teisingumas (Freiheit und Gerechtigkeit) sowie sein Parlamentsmandat niederlegen. Danach begann er mit seiner neugegründeten Partei Nemuno aušra eine Anti-­Establishment-Kampagne, die er sowohl auf Tiktok als auch durch zahlreiche Besuche in der litauischen Provinz betrieb. Bei der Parlamentswahl im Ok­tober gewann seine Partei mit knapp 15 Prozent der Wählerstimmen 20 ­Sitze und wurde drittstärkste Kraft.

Die Polarisierung zwischen Christ- und Sozialdemokraten sowie diverse persönliche Konflikte unter dem Führungspersonal kleinerer Parteien haben eine Koalition der Sozialdemokraten mit der grün-konservativen Demokratenunion im Namen Litauens (DSVL) und der Nemuno aušra zu einer der wenigen Optionen für eine stabile Regierung gemacht. Trotzdem rief die Entscheidung große Proteste bei poli­tischen Gegnern hervor, besonders den Parteien der scheidenden Regierung von Christdemokraten und Liberalen, aber auch bei Teilen der Zivilgesellschaft. Am 14. November, dem Tag der Eröffnung des neuen Seimas, demon­strierten etwa 5.000 Menschen in der litauischen Hauptstadt Vilnius gegen eine Regierungsbeteiligung der NA. Über 30 NGOs rund um das Lithuanian Center for Human Rights verfassten ­einen Brief an die Sozialdemokraten, in dem sie diese davor warnten, mit Žemaitaitis’ Partei zu koalieren.

Anstiftung zum Hass, Diffamierung und Holocaustleugnung

Der designierte Ministerpräsident Paluckas hatte zuvor ausgeschlossen, dass Žemaitaitis selbst ein Amt in der Regierung erhalten würde. Am 3. Dezember hat der neu zusammengekommene Seimas dem antisemitischen ­Demagogen außerdem auf Antrag der Staatsanwaltschaft die Immunität entzogen. Der bereits einmal vom Verfassungsgericht wegen verfassungswidriger Aussagen verurteilte Žemaitaitis muss sich nun erneut wegen Anstiftung zum Hass, Diffamierung und Holocaustleugnung vor Gericht verantworten. Er bleibt jedoch Vorsitzender der NA, die wohl drei Minister in die kommende Regierung entsenden wird. Diese soll spätestens am 12. Dezember, nach der Bestätigung des Kabinetts durch den litauischen Präsidenten ­Gitanas Nausėda, ihre Amtsgeschäfte aufnehmen.

Trotz der großen Aufregung im In- und Ausland kündigen sich zunächst keine großen innenpolitischen Veränderungen an. Das am 4. Dezember ­vorgestellte vorläufige Regierungsprogramm setzt Schwerpunkte in den ­Bereichen Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit. Wie sich die als Anti-Establishment-Partei gerierende Nemunas aušra entwickelt, bleibt allerdings abzuwarten. Wird sie, wie die Befürworter der Koalition beteuern, die Sym­pathie der Protestwählern schnell verlieren, wenn sie Regierungsverantwortung übernimmt? Oder kann Žemaitaitis als Par­teivorsitzender ohne Regierungsamt sie als rechts­populistische Partei festigen, wie es in Ostmitteleuropa in den vergangenen Jahren häufig geschehen ist?

Außenpolitisch bleibt die künftige Regierung größtenteils auf dem bisherigen EU- und ukrainefreundlichen Kurs. Die Verteidigungsausgaben sollen wegen der von Russland ausgehenden Bedrohung von 3,2 auf 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen. Zudem kündigte der Rüstungskonzern Rheinmetall Ende November an, eine Waffenfabrik in dem Land zu bauen, in dem bis 2027 5.000 Bundes­wehr­sol­dat:in­nen stationiert werden sollen.