Mehr politische Verfahren als unter Breschnew
Mit Blick auf den Staatsterror unter Josef Stalin mag die Zahl politischer Gefangener in russischen Gefängnissen heutzutage gering erscheinen. Beim Vergleich mit der poststalinistischen Sowjetunion schneidet das heutige Russland hingegen nicht gut ab. Das russische investigative Rechercheteam Projekt kam in einem im Februar dieses Jahres veröffentlichten Bericht zu dem Schluss, dass allein zwischen 2018 und 2023 über 5.613 wegen sogenannter Extremismusdelikte Angeklagte vor Gericht standen. Diese Zahl ist weitaus höher als die der seit Beginn der Entstalinisierung 1956 jeweils in Fünfjahresintervallen gemessenen politischen Strafverfahren wegen antisowjetischer Propaganda. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre betrug ihre Zahl gerade mal 519.
Menschenrechtsorganisationen haben also gute Gründe, eine alarmierende Bilanz zu ziehen. Auf einer Konferenz russischer Oppositioneller Ende November in Berlin sprach einer der Leiter des Menschenrechtszentrums der Organisation Memorial, Sergej Dawidis, von nicht weniger als 10.000 von politischer Repression Betroffenen als ungefährem Richtwert. Darunter finden sich politisch Aktive, aber auch solche, die lediglich einen Blogbeitrag mit Kritik an der russischen Armee geteilt hatten, und Personen, die aus religiösen Gründen verfolgt werden wie Angehörige der Zeugen Jehovas.
Auch Verfahren gegen Armeeangehörige flossen in diese Schätzungen ein. Bis Ende März 2024 wurden bereits über 8.000 Urteile wegen unerlaubten Entfernens von der Truppe verhängt, rund 250 wegen Desertierens. Dabei blieben die Hintergründe und die Beweise in solchen Verfahren oft vage. Nicht zu vergessen seien, so Dawidis, außerdem ukrainische Kriegsgefangene, gegen die Strafermittlungen laufen, und Zivilist:innen aus den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten, die unter haftähnlichen Bedingungen festgehalten werden.
Immer häufiger bleiben in Russland ermittlungsrelevante Details unter Verschluss und Gerichtsprozesse finden oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Dawidis verwies darauf, dass die interne Datenbank von Memorial Angaben von über 3.600 inhaftierten Personen enthält, deren Strafverfahren Hinweise auf ein politisches Verfolgungsmotiv enthalten. Als politische Häftlinge erkennt Memorial derzeit allerdings nur 786 davon an, ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Der Anerkennung geht eine sorgfältige Prüfung voraus. Memorial will so sicherstellen, handfeste Argumente für eine Einstufung als politisches Verfolgungsdelikt vorlegen zu können. Häufig stellt es sich jedoch als Problem heraus, überhaupt an detaillierte Informationen über Strafermittlungen und Urteile heranzukommen. Immer häufiger bleiben ermittlungsrelevante Details unter Verschluss und Gerichtsprozesse finden oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, so dass die ausreichende Dokumentation der Fälle eine mühsame Angelegenheit darstellt.
Die Zahlen bei Verfolgung wegen politischer Delikte variieren je nach den zugrunde gelegten Kriterien. Für Memorial, wie auch die aus dessen Umkreis entstandene Organisation OVD-Info, die Monitoring im Bereich politischer Verfolgung betreibt und in gewissem Umfang Rechtsbeistand leistet, ist für die Definition von politischen Gefangenen unter anderem entscheidend, dass diese keine Gewalttaten verübt haben. Das von Aktivist:innen aus dem anarchistischen Milieu im Frühjahr 2022 gegründete Projekt Solidarity Zone hält das für zu kurz gegriffen.
Radikale Protestformen
»Nach Beginn der vollumfänglichen Invasion in die Ukraine entstanden Protestformen, die sich nicht als friedlich bezeichnen lassen«, sagt Anya von Solidarity Zone im Gespräch mit der Jungle World. Gemeint sind Brandstiftung in Rekrutierungsämtern, die Zerstörung von Propagandasymbolen an öffentlichen Orten oder auch die Sabotage des militärischen Eisenbahnverkehrs.
Zu Beginn habe keine der existierenden Menschenrechtsorganisationen Bereitschaft gezeigt, in solchen Fällen tätig zu werden. Denn sie passten nicht zu ihren bislang gültigen Kriterien zur Unterstützung der von Strafverfolgung betroffenen Aktivist:innen. »Inzwischen sehe ich weitaus mehr Solidarität und Verständnis für individuelle radikale Protestformen gegen den Krieg«, konstatiert Anya und verweist auf eine enge Zusammenarbeit, insbesondere bei der Suche nach Strafverteidiger:innen in den russischen Regionen.
Immer öfter Terrorismus-Vorwurf
Auch zeigt sich Memorial inzwischen offener, wegen militanter Aktionen Verurteilte als politische Gefangene anzuerkennen, vorausgesetzt, es sind keine Personen zu Schaden gekommen. Dieser Wandel ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass Behörden immer öfter den Vorwurf des Terrorismus erheben, auch wenn das dem Sachverhalt widerspricht; damit ist das Recht auf einen fairen Strafprozess missachtet.
Bei Brandanschlägen entstand ohnehin meist nur ein geringer oder gar kein Sachschaden. Im Frühjahr 2023 verurteilte ein Gericht den damals 22 Jahre alten Kirill Butylin trotzdem zu 13 Jahren Haft. Solidarity Zone unterstützt den überzeugten Kriegsgegner, aber wegen knapper Ressourcen gestaltet sich das immer schwieriger. Schließlich, so Anya, befänden sich viele Unterstützer:innen selbst in einer prekären Lage. »Unser Hauptproblem ist weiterhin, genügend Spenden zu sammeln, um den Inhaftierten einen Rechtsbeistand und bessere Haftbedingungen zu ermöglichen.«