19.12.2024
Femizide in der Türkei

Viel Gewalt, wenig Schutz

Im Oktober erreichte die monatliche Anzahl an Femiziden in der Türkei einen Höchststand seit 14 Jahren. Während die Diskussion über ein Gesetz zur Prävention von Gewalt gegen Frauen neuen Schwung bekommt, versucht die türkische Regierung, feministischen Protest zu verhindern.

Der türkische Innenminister Ali Yerlikaya bewies ein Gefühl fürs Timing, als er am 23. November, zwei Tage vor dem internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, mit einer Aussage zu Femiziden für Aufsehen sorgte. Während einer Haushaltsdebatte im türkischen Parlament gab er den ermordeten Frauen eine Mitschuld an ihrem Tod, immerhin hätten die dem Täter die Tür geöffnet und Warnungen der Polizei ignoriert.

Die für den 25. November geplante Demonstration ließ der per Präsidial­dekret zum Gouverneur von Istanbul ernannte Davut Gül verbieten. Die Begründung: »Wahrung der öffentlichen Ordnung« und »Terrorgefahr«. Davon ließen sich viele jedoch nicht abhalten und versammelten sich im Laufe des Abends immer wieder zum Protest in der Umgebung des von der Polizei abgesperrten Taksim-Platz in Istanbul. Zu hören waren Rufe wie »Wir geben keine Ruhe, wir haben keine Angst, wir gehorchen nicht« oder »Jin, Jiyan, Azadî«. Es gab über 150 Festnahmen. Ein Mitglied der feministischen Gruppe Feminamfi sagte der Jungle World, das ­Vorgehen der Polizei sei erwartbar ge­wesen, »da unser Widerstand vom Erdoğan-Regime als Bedrohung angesehen wird«.

In der islamistischen Tageszeitung »Yeni Akit« wird regelmäßig ge­­­raunt, das Gewaltschutzgesetz trage zur Verarmung von Männern bei.

Zuletzt war es in der Türkei im Oktober landesweit zu Protesten gekommen, nachdem in Istanbul zwei 19jährige, Ayşenur Halil und İkbal Uzuner, von einem ebenfalls 19jährigen ermordet worden waren, der angeblich Halils Partner beziehungsweise Ex-Partner war. Zu den Protesten aufgerufen hatte unter anderen die feministische Plattform Kadın Cinayetlerini Durduracağız (Wir werden Femizide stoppen).

Ihre Kritik gilt vor allem der AKP-geführten Regierung, die Gesetze zum Schutz von Frauen systematisch demontiere. In ihrem monatlichen Bericht dokumentiert die Plattform im Oktober mit 48 Femiziden die höchste Zahl in einem Monat seit 2010. Hinzu kommen 23 tote Frauen, bei denen ein Femizid vermutet wird.

40 Prozent der Täter waren Ehemänner

Die Täter stammen den Recherchen der Plattform zufolge größtenteils aus dem nahen Umfeld der Opfer: 40 Prozent der Täter waren Ehemänner, gefolgt von Partnern und Verwandten. Entgegen der Aussage des Innenministers Yerlikaya hebt der Bericht der Plattform hervor, dass 36 der Frauen vor ihrem Tod der Polizei von ihrer Bedrohungslage berichtet hätten. Die Betroffenen seien nicht ernst genommen worden und polizeiliche Maßnahmen seien ausgeblieben.

Zentrale Forderungen der Plattform sind deshalb die vollständige, wirksame Umsetzung des Gesetzes Nr. 6.284 zum Schutz der Familie und zur Prävention von Gewalt gegen Frauen sowie die erneute Ratifizierung der Istanbul-Konvention.

Die Istanbul-Konvention ist ein völkerrechtlicher Vertrag des Europarats zur Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt gegen Frauen und Mädchen, der 2011 ausgearbeitet wurde und 2014 in Kraft getreten ist. Die Konvention wurde von 38 Mitgliedstaaten ratifiziert – der erste Staat war im März 2012 die Türkei. Die türkische Regierung kündigte den Vertrag jedoch 2021 mit der Begründung wieder auf, er fördere Homosexualität und bedrohe traditionelle Familienwerte.

Tief verankerte Misogynie

Das auf der Konvention basierende Gesetz Nr. 6.284, das 2012 in der Türkei eingeführt worden war und weiterhin in Kraft ist, würde, effektiv umgesetzt, einen weitreichenden rechtlichen Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Kinder bieten. Es garantiert betroffenen Frauen Schutzunterkünfte und finanzielle Unterstützung und sieht die Möglichkeit vor, Verdächtigen bei Verstößen gegen angeordnete Schutzmaßnahmen strafrechtlich zu verfolgen. Aber mit dem Austritt aus der Konvention und der unzureichenden Umsetzung des Gesetzes lasse die türkische Regierung Frauen im Stich und trage eine Mitschuld an ihrem Tod, so Human Rights Watch im Juni 2022.

Die Kolumnistin und Buchautorin Zehra Çelenk verweist im Interview mit der unabhängigen Nachrichtenagentur Bianet darauf, dass die geforderten Maßnahmen zur Prävention und Strafverfolgung nur erste Schritte seien, um die in der Gesellschaft tief verankerte Misogynie zu bekämpfen. Die Politikwissenschaftlerin Funda Hülagü schreibt, der Antifeminismus habe sich in der Türkei in den vergangenen Jahren zu einer gut organisierten Bewegung entwickelt und bestimme die Regierungspolitik maßgeblich mit. In der Tat sehen sich feministische Organisationen vermehrten Attacken ausgesetzt. Zuletzt hatte die Staatsanwaltschaft ein Verbotsverfahren gegen die Plattform gegen Femizide wegen »Verstößen gegen das Gesetz und die Moral« eingeleitet. Ein Istanbuler Gericht verhinderte dies im September.

Proteste verboten

Zuweilen sind die antifeministischen Attacken aus dem nationalistisch-is­lamistischen Lager gängigen Verschwörungserzählungen, dass ein »Kulturmarxismus« sich breitmache, nicht unähnlich. So betitelte Ergün Yıldırım von der NGO Sivil Dayanışma Plat­formu (Plattform für zivile Solidarität), die die türkische Regierung berät, den Feminismus als eine aus dem Marxismus hervorgegangene Ideologie, welche die Familie auflöse und einen heimlichen Angriff des Westens auf türkische Traditionen darstelle. In der islamistischen Tageszeitung Yeni Akit wird regelmäßig geraunt, das ­Gewaltschutzgesetz trage, zusammen mit ausländisch finanzierten Frauen­organisationen, zur Verarmung von Männern bei.

Am 27. November, zwei Tage nach dem Protest, konfrontierten Abgeordnete der prokurdischen, linken Dem Parti die türkische Familienministerin Mahinur Özdemir Göktaş (AKP) bei Haushaltsgesprächen im türkischen Parlament. Sie entrollten ein Leichentuch mit den Namen getöteter Frauen. Mit den Worten »Das hier ist nicht der Taksim-Platz« forderte der Vorsitzende der Haushaltskommission, Mehmet Muş, die Oppositionspolitikerinnen auf, die Aktion zu beenden. Die bittere Ironie: Dort hatte man den Protest schon verboten.