19.12.2024
Aus dem Leben eines Messdieners

Fauler Zauber

Leib essen, Blut trinken, keine Turnschuhe tragen: Das Leben eines Katholiken ist kein Spaß – vor allem nicht als Teenager. Doch irgendwann fällt man vom Glauben ab. Aus dem Leben eines Messdieners.

Gott mag keine Turnschuhe – dieses Gebot musste ein Messdiener in einer unterfränkischen Kleinstadt Mitte der achtziger Jahre gleich zu Beginn seiner Laufbahn lernen. Zwar schien Gott in der Lage zu sein, überaus stabiles Schuhwerk zur Verfügung zu stellen. So sagt Moses dem Alten Testament zufolge zum Volk Israel: »Ich habe euch 40 Jahre lang durch die Wüste geführt. Eure Kleider sind euch nicht in Lumpen vom Leib gefallen, deine Schuhe sind dir nicht an den Füßen zerrissen.« (5. Mose 29,4.) Aber zu Sneakers aus US-amerikanischer Produktion hatte der Allmächtige sich in der Bibel nicht geäußert.

Gott ließ also seine Schuhvorlieben ausrichten: vom Pfarrer an den Messner (eine Art Kirchenhausmeister, der beispielsweise dafür sorgt, dass die Glocken zur richtigen Zeit bimmeln, genug Messwein, Hostien und Weihrauch im Haus sind und die Kerzen brennen), vom Messner an die Oberministranten und von diesen an die neuen Messdiener im Alter von neun bis zehn Jahren, die dann in schrecklichen braunen oder schwarzen Lederschuhen zum Dienst zu erscheinen hatten – eine modische Schmach, hingenommen als Wille Gottes.

Alle sich Messe für Messe und Jahr für Jahr wiederholenden Handlungen waren streng geregelt, aber keiner wusste so recht, warum.

An dieser Stelle gilt es, darauf hinzuweisen: Es geht hier um den Gott der Katholiken. Dass es zwischen diesen und den Protestanten erhebliche Unterschiede gibt, zeigt ein Zwischenfall aus den Fünfzigern. Damals sollte in der unterfränkischen Kleinstadt eine neue Zuckerfabrik eingeweiht werden. Der katholische Bischof, der zur Segnung der Indus­trieanlage anreisen wollte, bestand wegen der katholischen Bevölkerungsmehrheit in der Stadt darauf, die Zeremonie ohne offizielle Betei­ligung eines Würdenträgers der protestantischen Konkurrenz abzuhalten. Erzürnte Protestanten schwangen sich deshalb am Tag der Einweihung auf Pferde und versuchten, die von dem katholischen Bischof angeführte Prozession zur Fabrik zu sprengen. Die Polizei musste schließlich für Ruhe und Ordnung sorgen. Sogar der damalige Bundespräsident Theodor Heuss (evangelisch) und der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer (katholisch) schalteten sich anschließend ein, um den Konfessionsstreit zu schlichten.

Was für eine Zwietracht unter Christen! Dabei hatten deutsche Katholiken und Protestanten noch im vorangegangenen Jahrzehnt mit vereinten Kräften die Welt mit Krieg überzogen und volksgemeinschaftlich versucht, die Juden zu vernichten. Diese waren über Jahrhunderte von den Kanzeln herab zu Messias-, Christus-, Jesusmördern, also Feinden erklärt worden. Die Nationalsozialisten hatten die hartnäckige christliche Vorarbeit in Sachen Judenhass genutzt und in ihrer Propaganda verarbeitet. »Judentum gegen Christentum – Der jüdische Vernichtungskampf gegen die christliche Kirche« hatte etwa die Hetzschrift Der Stürmer 1937 eine Sonderausgabe betitelt. Nach der Niederlage Nazi-Deutschlands stand dann wieder mehr Zeit für konfessionelle Stammesfehden zur Verfügung.

Geheimnisvolles Wunder oder Taschenspielertrick?

In den Achtzigern blieben von ihnen nur noch elterliche Anekdoten etwa von Prügeleien zwischen Jugendlichen aus katholischen und evangelischen Dörfern. Die katholische Kirche betonte mittlerweile auch den Gedanken der »Ökumene«, also der »Einheit aller Christen«, und hielt lediglich hinter Kirchenmauern an den althergebrachten Unterschieden im Ritus fest, unter anderem in der überaus wichtigen Frage der sogenannten Transsubstantiation: Im Gegensatz zu einem evangelischen Pastor verwandelt der katholische Pfarrer nach Ansicht seiner Kirche Wein und Hostien tatsächlich in das Blut und Fleisch von Jesus Christus. Dies geschieht während der sogenannten Wandlung, bei der der Priester die sogenannten Hochgebete mit den entscheidenden Sätzen aufsagt: »Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.« Und: »Nehmet und trinket alle daraus: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden.«

Leib essen, Blut trinken – das mag kannibalistisch klingen, zumal in der Verbindung mit Jesus’ Worten aus dem Johannes-Evangelium: »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm!« Doch die Anmutung der ­Anthropophagie weist die katholische Kirche von sich, schließlich wird ­ihrer Lehre zufolge nur die Substanz von Wein und Hostie, also das Ding an sich, in Blut und Fleisch verwandelt, während sich die sinnlich erfassbare Erscheinung nicht verändert – ein geheimnisvolles Wunder für die einen, ein Taschenspielertrick für die anderen. Passend ist jedenfalls, dass aus der lateinischen Wendung hoc est enim corpus meum (denn das ist mein Leib), die Pfarrer in den früher auf Latein abgehaltenen Messen benutzten, das Wort Hokuspokus entstand, also die Bezeichnung für faulen Zauber.

Die billigen Tricks fielen einem neuen Messdiener allerdings nicht auf. Überhaupt verstand er den Sinn und Zweck der ritualisierten Abläufe, die es sich einzuprägen galt, kaum, was auch auf die meisten Kirchgängerinnen und -gänger zugetroffen haben dürfte. Gott hatte ein geradezu pedantisch choreographiertes Zeremoniell angeordnet.

Je nach Anlass mussten Pfarrer und Ministranten entweder weiße, rote, grüne, ­violette, rosafarbene, blaue oder schwarze Gewänder tragen. Die Glocken mussten zu bestimmten Zeitpunkten vor und während der Messe erklingen. In ganz bestimmten Momenten mussten die Ministranten aufstehen oder sich hinsetzen, eine Kniebeuge vollführen oder sich bekreuzigen, dem Pfarrer Wein und Hostien anreichen oder den »Klingelbeutel«, einen Korb oder ein Säckchen für Geldspenden, unter den anwesenden Kirchgängern herumreichen, mit kleinen Handglöckchen klingeln oder das Weihrauchfässchen schwenken beziehungsweise mit der versammelten Gemeinde dieses Gebet aufsagen oder jenes Lied singen.

Religion als universelle Zwangsneurose

Alle sich Messe für Messe und Jahr für Jahr wiederholenden Handlungen waren streng geregelt, aber keiner wusste so recht, warum. Der Sachverhalt war Anfang des Jahrhunderts schon Sigmund Freud aufgefallen. »Der einzelne Fromme« übe in der Regel »das religiöse Zeremoniell« aus, »ohne nach dessen Bedeutung zu fragen«, stellt er 1907 in »Zwangshandlungen und Religionsübungen« fest.

Die unter Zwangshandlungen leidende Person übe diese ebenfalls aus, ohne deren Bedeutung zu kennen. Und so legt Freud nahe, »die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen«.

Ebenso psychisch deformiert wie die Gläubigen erscheint aber auch der Gott, für den alles veranstaltet wird. Er legt großen Wert auf kleine Dinge wie Turnschuhe und hat ­einen strengen Blick auf private Verrichtungen der Einzelnen. Die Ernährungsgewohnheiten beispielsweise soll der Katholik zur Fasten­zeit und insbesondere an Abstinenztagen einschränken, um Buße zu tun und dem Herrn nahezukommen. Und nur das Ehezeremoniell bedeutet »dem Frommen die Gestattung des sonst sündhaften Sexualgenusses« (Freud).

Beweise für die Nichtexistenz Gottes

Geradezu achtlos und gleichgültig zeigt sich der Herr hingegen angesichts der großen schlimmen Dinge in der Welt. Auch in den Achtzigern hätte ein guter, gerechter, allwissender, allmächtiger und gnadenreicher Gott doch genug Anlässe gefunden, seine Eigenschaften zu zeigen und etwa das Leiden und Sterben in diversen Massakern und Kriegen zu verhindern. Er tat es nicht.

»Entweder möchte Gott das Böse niederschlagen und kann es nicht. Oder Gott könnte das Böse niederschlagen und will dies nicht«, folgerte der französische Anarchist und ehemalige Jesuitenschüler Sébastien Faure in seiner Schrift »Zwölf Beweise für die Nichtexistenz Gottes« (1908) aus seiner Beschäftigung mit der sogenannten Theodizee, also der Frage, wie sich das Leid in der Welt mit der Annahme eines allmächtigen und guten Gottes vereinbaren lässt. Die Existenz des Bösen sei inkompatibel mit der Existenz eines solchen Wesens, so Faure.

Messdienern im Kindesalter zeigte sich dieses Böse eher in profanen Dingen, etwa in schweren Matheklausuren, schlechten Noten und verstimmten Eltern. »Ich habe gelernt und gebetet, hat aber nichts gebracht«, äußerte ein anderer Ministrant eines Tages seine ersten Zweifel am Sinn und Nutzen religiöser Handlungen.

Gott, ein Musterdespot

Im Teenager-Alter breiteten sich solche Zweifel aus. Immer nur galt es, einerseits Gott zu huldigen, zu loben, zu preisen, gar zu lobpreisen (»Großer Gott, wir loben dich / Herr, wir preisen deine Stärke /  Vor dir neigt die Erde sich / Und bewundert deine Werke«), andererseits die eigene menschliche Schlechtigkeit und Nichtswürdigkeit zu bekennen (»Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach«). Ein ganz und gar autoritäres Verhältnis voller Allmacht seinerseits und Ohnmacht menschlicherseits hatte Gott da erschaffen, mit der menschlichen Freiheit konnte er es deshalb nicht allzu ernst meinen, auch wenn von ihr häufig als großem Zeichen seiner Güte in der Kirche die Rede war.

»Geradezu ein Musterdespot« – so hatte Johann Most Gott bezeichnet. Gesellschaftliche Aufgabe der Religion sei es, »genügend Sklavensinn in die Herzen« zu pflanzen, schrieb er in seinem Pamphlet »Die Gottes­pest« von 1887. Und so forderte er: »Hinweg mit all den entehrenden Phantasmen, in deren Namen die Menschen zu elenden Sklaven entwürdigt und durch die Allmacht der Lüge von den Mühen der Erde auf die Freuden des Himmels verwiesen wurden.« Von derartigen Gedanken beeinflusst machte der ­eingangs erwähnte Messdiener also irgendwann einen kleinen Schritt in die Freiheit und hörte auf, an die Existenz eines Gottes zu glauben.

Frei von Religion ist der ehemalige Messdiener damit allerdings noch lange nicht. »Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken«, befindet Walter Benjamin in seinem Fragment »Kapitalismus als Religion«. Sie braucht keine Dogmatik oder Theo­logie, denn sie ist »eine reine Kultreligion, vielleicht die extremste, die es je gegeben hat«. Unablässig wird das Zeremoniell des Produzierens und Konsumierens ausgeführt, es gibt »keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre«. Schuld (»siehe die dämonische Zweideutigkeit dieses ­Begriffs«) laden die Gläubigen per Kreditkarte auf sich. Und was den ehemaligen Messdiener besonders trifft: Das Tragen von Turnschuhen ist nicht untersagt, sie werden einem als must have geradezu aufge­zwungen.