Glaubenskrieg im Klassenzimmer
Lehrerinnen berichten schon lange, dass in manchen Klassen starker Gruppendruck herrsche, sich islamisch zu betragen und Schüler, die sich nicht konform verhalten oder ein anderes Bekenntnis haben, ausgegrenzt würden. Doch lange traute sich niemand so recht, das Thema »religiöse Konflikte« in Schulen wissenschaftlich zu untersuchen. Als der Verein Demokratie und Vielfalt (Devi e. V.) im Jahr 2022 eine Bestandsaufnahme vorlegte, die zeigte, dass Lehrerinnen im Berliner Bezirk Neukölln eine Vielzahl solcher Konflikte erlebten, gab es einen Aufschrei. Die Herangehensweise sei unwissenschaftlich, das Fazit rassistisch, hieß es vielerorts.
Doch zwei neue Studien belegen die Ergebnisse. Im Sommer publizierte die Soziologin Diana Schieck ihre Untersuchung zu »Religionsverbundenen Konflikten im Berliner Schulalltag«, die auf Interviews mit Pädagogen und Schülern basiert. Eine weitere Studie hat das Phänomen deutschlandweit untersucht. Wissenschaftler der Universität Vechta und der Internationalen Hochschule Hannover haben dafür knapp 700 Lehrkräfte, Schulleitungen, Sozialarbeiter und anderes Schulpersonal befragt. Mit 70 davon führten sie vertiefende Interviews.
Religionsunterricht muss laut Grundgesetz bekenntnisgebunden sein. Eine neutrale Religionskunde kann ihn nicht ersetzen.
»Etwa ein Drittel der Befragten berichtet von religiösen Konflikten, etwa ein Viertel von religiös bedingter Radikalisierung«, sagt Margit Stein, Co-Autorin der Studie und Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta, im Gespräch mit der Jungle World. Ländliche Gebiete seien ebenso betroffen wie Großstädte, Grundschulen genauso wie Gymnasien. Die Studie wird im kommenden Jahr publiziert, ihre Ergebnisse liegen aber schon vor.
Stein betont, dass die meisten dieser Konflikte zwischen Kindern muslimischen Glaubens stattfinden. Kinder, die anderen Religionen anhängen oder keiner, seien eher selten Konfliktpartei. In einzelnen Fällen sei von Streit zwischen säkularen und muslimischen Schülern berichtet worden oder unter Beteiligung von strenggläubigen Christen, etwa aus Osteuropa oder Anhängerinnen von Freikirchen.
Religiös motivierte Anfeindungen
Andere Religionen sind nicht selten Ziel von Anfeindungen. »Immer wieder und immer häufiger erlebe ich, wie sich einzelne Schüler:innen über andere erheben, sei es durch offene Feindseligkeit und Abgrenzung (z. B. nicht mit Kindern anderer Religionen ein Plakat gestalten, das sich z. B. mit dem Judentum beschäftigt) oder durch subtilere Formen (z. B. Lehrerin thematisiert Kreuzsymbolik, Schüler murmelt wiederholt Spruch, um sich reinzuwaschen)«, wird eine Lehrerin in einem Bericht über die Studie in der im Dezember erscheinenden Ausgabe der Zeitschrift für praxisorientierte (De-)Radikalisierungsforschung zitiert, der der Jungle World als Vorabdruck vorliegt. 42 Prozent der befragten Lehrpersonen gaben an, »religiös motivierte Anfeindungen« mitbekommen zu haben, etwa gegen Personen, die ihren Glauben vermeintlich falsch praktizierten, oder gegen jüdische oder als homosexuell geltende Schüler.
Während in Frankreich nach dem Prinzip des Laizismus Religion aus Schulen herausgehalten wird und es in öffentlichen Schulen keinen Religionsunterricht gibt, sind Experten in anderen europäischen Ländern mehrheitlich der Meinung, dass gegen dogmatische Religiosität ein gemeinsamer Unterricht über Religion für alle Schüler helfe. Ähnliche Empfehlungen gibt es seitens des Europarats und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Umstritten ist allerdings, ob ein entsprechendes Fach neutrale Religionskunde sein sollte oder ein bekenntnisorientierter Religionsunterricht, der von Religionsvertretern mitgestaltet wird. Schweden war 1996 das erste Land, das einen neutralen religionskundlichen Unterricht einführte, an dem alle Schüler teilnehmen müssen. In der Schweiz führte der Kanton Zürich vor zwölf Jahren das Pflichtfach »Religion und Kultur« ein, inzwischen gibt es in allen deutschsprachigen Kantonen das Fach »Religionen, Kulturen, Ethik«.
Getrennt nach Glaubensgemeinschaften
In Deutschland und Österreich wird Religion hingegen getrennt nach Glaubensgemeinschaften unterrichtet. Das schreiben in beiden Ländern Gesetze vor, in Deutschland sogar das Grundgesetz. In Artikel 7 heißt es: »Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.« Allerdings könnten die Bundesländer ihre Schulen zu bekenntnisfreien erklären.
Eine neutral wissenschaftliche Religionskunde dürfte der deutschen Verfassung nach den bekenntnisgebundenen Religionsunterricht also nicht ersetzen, sondern müsste zusätzlich zum bekenntnisorientierten Unterricht stattfinden, bei dem die Religionsgemeinschaften den Inhalt mitbestimmen. Nur Bundesländer, in denen die sogenannte Bremer Klausel Anwendung findet, sind freier in der Gestaltung. Das sind solche, in denen am 1. Januar 1949 eine andere landesrechtliche Regelung als die im Artikel 7 GG festgelegte zum Religionsunterricht galt. Das gilt für Bremen und Berlin; auch Brandenburg beruft sich auf diese Klausel, was aber verfassungsrechtlich umstritten ist. In Bremen gibt es das Fach »Unterricht in Biblischer Geschichte«, in Berlin besuchen alle Sekundarschüler den Ethikunterricht, in Brandenburg heißt das gemeinsame Fach »Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde«. In Berlin und Brandenburg gibt es zusätzlich ein freiwilliges Unterrichtsangebot der Religionsgemeinschaften, das allerdings ein Wahlfach ist und damit nicht versetzungsrelevant.
Freiwillig ist der Religionsunterricht auch in anderen Bundesländern. Wer sich abmeldet, muss aber in der Regel eine Alternative wie »Werte und Normen« oder »Lebenskunde« besuchen. Davon machen immer mehr Schüler Gebrauch. Im Schuljahr 2023/2024 besuchten nur noch 53,7 Prozent aller Schulkinder der Klassen eins bis zehn den Religionsunterricht, 2015/2016 waren es noch 69 Prozent gewesen. Katholischer wie evangelischer Unterricht verzeichnen diesen Rückgang.
Staatliche Islamkunde als Regelangebot
Anders ist es beim Islamunterricht: Dort hat sich die Zahl der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen fast verdoppelt, von 24.000 auf 50.000.
Allerdings wird islamischer Religionsunterricht nur in wenigen Schulen angeboten. Denn erst vor rund 20 Jahren begannen die ersten Versuche, ein solches Fach einzuführen, zunächst nur als Angebot islamischer Verbände. Inzwischen nehmen die Kultusbehörden der meisten Bundesländer Einfluss auf Inhalte und Ausbildung der Lehrer. Hessen führte sogar eine rein staatliche Islamkunde ein, nachdem ein vom Land in Auftrag gegebenes Gutachten belegt hatte, dass der zuvor von der Türkisch-Islamischen Union (Ditib) erteilte Unterricht vom türkischen Staat beeinflusst worden war. Allerdings klagte die Ditib dagegen und kann seit 2022 in Hessen wieder Religion unterrichten.
Auch in Bayern gibt es staatliche Islamkunde als Regelangebot, bei dem die Islamverbände nicht einbezogen sind. Im Stadtstaat Hamburg gibt es seit 2022 einen verpflichtenden »Religionsunterricht für alle«, der von der evangelischen und katholischen Kirche, der alevitischen Gemeinde, den islamischen Religionsgemeinschaften und der jüdischen Gemeinde verantwortet wird. Damit hat Hamburg ein Modell geschaffen, das sowohl der Verfassung als auch der Empfehlung des Europarats gerecht wird. Bedenken, dass die Religionsgemeinschaften sich gegenseitig behindern oder die Schüler verwirrt werden, haben sich bisher nicht bestätigt.
Der Münsteraner Professor für islamische Religionspädagogik, Mouhanad Khorchide, sieht das Modell positiv und erläutert im Gespräch mit der Jungle World, warum er einen gemeinsamen, aber bekenntnisorientierten Unterricht für sinnvoller hält als neutrale Religionskunde: »In einem religionskundlichen Unterricht geht es nicht um Sinnfragen, sondern nur um Fakten. Die jungen Muslime haben aber Fragen, sie brauchen Orientierung. Wenn sie nur neutrale Fakten über Religion lernen, dann gehen sie auf Social Media, um die Sinnfragen beantwortet zu bekommen.«
»Die ältere Generation geht öfter in die Moschee, betet mehr und liest im Koran. Die Jungen tun das nicht. Bei ihnen geht es weniger um Spiritualität als um die Suche nach Identität.« Mouhanad Khorchide, Professor für islamische Religionspädagogik
Insgesamt sei Islamunterricht dringend notwendig, um junge Muslime vor Radikalisierung zu schützen, meint Khorchide. »Viele Studien zeigen, dass die erste und zweite Einwanderergeneration sich nicht als sehr religiös einschätzt, während Religion für die dritte eine große Rolle spielt.« Tatsächlich sei es aber komplizierter: »Die ältere Generation geht öfter in die Moschee, betet mehr und liest im Koran. Die Jungen tun das nicht. Bei ihnen geht es weniger um Spiritualität als um die Suche nach Identität.« Oft würden sie Behauptungen über islamische Vorschriften aufstellen, ohne zu wissen, worauf diese beruhen sollten.
»Wenn ich dann nachfrage, wo das im Koran steht, kommt die Antwort: ›Da kenne ich mich nicht aus. Ich kenne den Koran nicht.‹« Mit den etwas Älteren könne man noch diskutieren, aber viele der Jüngeren wüssten fast nichts über ihre Religion. »Die radikalen Prediger auf Tiktok und Youtube nutzen das aus und geben ganz einfache Antworten: Mach dies, mach das.«
In der Studie der Universität Vechta und der Internationalen Hochschule Hannover hätten die befragten Lehrerinnen keinen anderen Religionsunterricht gefordert, sagt Co-Autorin Stein. Sie wünschten sich »meist einfach nur Zeit, Konflikte zu bearbeiten, oder dass eine andere Lehrkraft übernehmen kann, wenn so was in der Pause aufploppt, damit Gespräche mit den Schülern möglich sind«. In Zeiten des Lehrermangels dürfte das schwierig sein – es sei denn, man reduzierte die Zahl der Unterrichtsstunden.